Von Siegfried Reitzig

Es gibt nichts Gutes. Außer: man tut es. 

Ich hatte lange genug konstatiert, dass es mit mir so nicht weiter gehen kann und ich dringend Hilfe brauche – professionelle Hilfe.
Heute will ich beginnen, etwas zu tun. Meine erste Therapiestunde steht unmittelbar bevor und ich habe über 7 Monate auf diesen Termin warten müssen – und selbst diese Vereinbarung war schwer zu erreichen und kostete viele Telefonate.

Den Mann, der mein Psychotherapeut sein sollte, hatte ich bei einem kurzen Gespräch am Telefon kennen gelernt, an dessen Ende ich einen Platz auf seiner Warteliste bekam und er ein paar Stichworte über meine wesentlichen Probleme und meine Lebenssituation notieren konnte.
Natürlich habe ich ihm nicht alles von mir erzählt, die ganze Wahrheit hätte ihn wohl überfordert.

Dr. Michael Eisenbeiß erwartet heute also mich, seinen zukünftigen Patienten Thorsten Breitenfels, 48 Jahre alt, mit Familie und von Beruf selbständiger Heilpraktiker und psychologischer Berater mit eigener Praxis und noch einem weiteren Beruf – am Rande einer Depression in Gestalt von Burnout wegen völliger Überarbeitung.

Der Klingelknopf in der 1. Etage des feinen Altbaus in der Bismarckstr. befindet sich neben dem gut geputzten Messingschild, das Dr. Eisenbeiß als Diplom-Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten ausweist, der mit allen Kassen abrechnen kann.
Es ist also alles in Ordnung und mein Zutrauen zu ihm, das bisher hauptsächlich auf seiner kompetenten Telefonstimme beruhte, wächst noch genau um den kleinen Teil, den es braucht, um mich klingeln zu lassen.

Ein kleiner Mann in einem rot-grün karierten Anzug öffnet schwungvoll die Tür und empfängt mich mit einem höflichen Lächeln. Seine pomadige Erscheinung entspricht so gar nicht seinem vielversprechenden Namen und sein hohler Händedruck hinterlässt erst gar keinen Eindruck.

„Ich grüße Sie, Herr Kollege – schön, dass Sie da sind!“

Dieser Mensch betrachtet mich also scheinbar gönnerhaft als seinesgleichen, sein mittlerweile unübersehbar ins süffisante gewechselte Lächeln erzählt allerdings etwas anderes.

Wenn du schon wüsstest, was ich dir gleich erzählen werde, hättest du das sicher nicht gesagt.

Ich zögere – mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich sofort auf dem Absatz umkehren und mir einen anderen Therapeuten suchen sollte. Kleine Männer halte ich schon lange für gefährlich und diese erste persönliche Begegnung hat mich schon jetzt maßlos enttäuscht.
Andererseits geht es mir sehr schlecht und ein sofortiges Aufgeben wäre vielleicht vorschnell. Bereits investierte Mühe und Zeit wären vertan.
Die Rezensionen von Dr. Eisenbeiß sind schließlich gut und als Bekloppter kann man nicht wählerisch sein. Also setze ich mich auf den angebotenen Ledersessel und die Anamnese kann beginnen.

„Erzählen sie doch bitte, was sie zu mir führt, Herr Breitenfels.“

„Mit meiner Privatpraxis habe ich viel zu geringe Einnahmen und der Verdienst reicht nicht aus, meiner Familie ein gesichertes Auskommen zu ermöglichen.
Es ist eine lange Geschichte und an ihrem Ende bin ich auf die schiefe Bahn geraten und bekomme das meiste Geld als Einbrecher in vornehme Villen zusammen.
Diese Doppelbelastung halte ich nicht mehr lange durch und werde immer depressiver.“

Mein Zuhörer schaut verblüfft und möchte nun uns beiden helfen, mein Problem dingfest zu machen:

„Sie möchten also ihre illegale Tätigkeit beenden und benötigen dabei Unterstützung?“

fragt er hoffnungsvoll.

Ich fühle mich unverstanden und versuche Dr. Eisenbeiß mit flackerndem Blick meine Situation klar zu machen:

„Auf das Geld aus den Einbrüchen kann ich nicht verzichten und befinde mich jeden Tag am Rande eines Nervenzusammenbruchs!
Mein Leben ist der pure Stress und immer und immer wieder riskant, besonders nachts auf Tour könnte ich ständig geschnappt werden – die Polizei war mir schon öfters auf den Fersen.
Die Familie ist unzufrieden, weil ich nicht genug Diebesgut nach Hause bringe, um sie gut zu versorgen.
Der größte Teil meiner Beute geht als Scheineinnahme der Praxis drauf, damit Miete, Versicherungen, Rente und Berufsverband bezahlt werden können und meine Steuererklärung ein glaubwürdiges Bild abgibt.“

Dr. Eisenbeiß blickt nun stumm auf seinen unbeschriebenen Notizzettel.

„Aber am meisten belastet mich die Gewalt!“ schildere ich, mittlerweile sehr aufgeregt.
„Es ist nun schon dreimal vorgekommen, dass ich von Hausbewohnern erwischt wurde und sie grob von einem Anruf bei der Polizei abhalten musste. Ich hatte immer Angst, dass ein körperlicher Angriff zu bleibenden Schäden führt – oder zu schlimmerem.
Ich bin ja eigentlich ein friedliebender Typ.“

„Sie sind ja ganz außer sich,“ sagt mein Therapeut fürsorglich, „ich hole ihnen ein Glas Wasser.“
Er verschwindet im Nebenraum und ich höre einen Wasserhahn rauschen.
Ein lautes Klirren wird von einem heftigen Fluch begleitet und verrät mir, dass es mit den Nerven von Dr. Eisenbeiß wohl nicht so gut bestellt ist.
Einige Augenblicke später steht das gefüllte Trinkgefäß vor mir und es kann weitergehen.

Wir sehen uns nun stumm in die Augen und jetzt erkenne ich seine Angst.

Habe ich Dr. Eisenbeiß zu viel zugemutet?
Ich musste doch offen und ehrlich erzählen, warum das Monster Burnout mich immer heftiger zu packen droht, damit wir gemeinsam und ergebnisoffen an meinen Problemen arbeiten können!?
Dass er nun zum Mitwisser meines kriminellen Doppellebens geworden ist, sollte er mit der gebotenen therapeutischen Professionalität verarbeiten können.
Ich kenne mich da aus, ein Psychotherapeut unterliegt ähnlich wie Ärzte und Rechtsanwälte einer Schweigepflicht und ich hatte mir unter dieser Schutzglocke eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gewünscht.

Und nun?!?

Mir gegenüber sitzt ein buntes ängstliches Männlein, das offensichtlich jede Initiative verloren hat und abwechselnd nervös auf die Tür und seine Armbanduhr blickt.
Vom Beginn einer Psychotherapie sind wir so weit entfernt, dass ich diese Stunde als gescheitert betrachte und auch nicht beabsichtige, Dr. Eisenbeiß noch ein weiteres Mal aufzusuchen.

„Vielen Dank für ihre Zeit,“ ich erhebe mich und steuere die Tür an. „Wir können ja noch telefonieren, aber ich fürchte, wir beide passen nicht zueinander.“

Die Türglocke läutet.

Wie ein Blitz verlässt der kleine Mann seinen Platz und öffnet die Tür, um die beiden Polizisten herein zu lassen…

 

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