Von Ingo Althöfer

Kein Mathematiker, der über die natürlichen Zahlen hinaus arbeitet, kommt in den Himmel.

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„Hi, Sascha!“ 

„Bobby? Du hier im Himmel?“ 

„Das wollte ich Dich auch gerade fragen. Irgendetwas passt nicht.“ 

„Tja, der Crash.“ 

„Ich wollte Dir nur eine Lektion erteilen, Sascha.“ 

„Ging aber grandios schief. Wie lange ist das jetzt her?“ 

„Weiß nicht, das Zeitgefühl ist mir abhanden gekommen.“ 

Sascha: „War es 1974?“ 

 

„Stimmt. Priscilla und Du, ihr wart die Leiter der Oberwolfach-Tagung zur 6-dimensionalen Topologie. Wie üblich, sollte am Mittwochabend von sieben bis neun eine Open-Problem-Session sein, bei der Teilnehmer ihre ungelösten Mathe-Probleme vorstellten. Das Ganze auch in der Hoffnung, dass davon bis zum Ende der Woche vielleicht eines gelöst würde.

Eure Absprache war, dass Du zu Beginn eine 15-Minuten-Präsentation über den aktuellen Stand in Eurem Gebiet gibst, und dass dann Prisca die eigentliche Session moderiert. Für sie war es das erste Mal überhaupt, Oberwolfach mitleiten zu dürfen.

Du fingst vernünftig an, mit Kreide an den riesigen Tafeln. 15 Minuten, 20 Minuten, 30, 60, die ersten Kollegen schliefen ein. Prisca saß die ganze Zeit auf heißen Kohlen und erwartete ihren Einsatz als Moderatorin. 75, 90 – inzwischen waren alle abgehängt – dann schließlich 120 Minuten. Insgesamt vier Mal hattest Du die Tafeln vollgeschrieben und zwischendurch immer wieder sauber gewischt. Du schlossest Deine Präsentation mit einem Schulterzucken: ‚Oh, so late already. Hmm, no more time left for open problems. I wish us all a fruitful night.‘ Dann verschwandest Du direkt in Dein Zimmer. 

Wir anderen gingen noch an die Bar und versuchten, Prisca bei einem Wein zu trösten. Sie war total frustriert. Keiner von uns konnte ihr erklären, was Dein Alleingang sollte. Wenn Du wenigstens ein großes Problem gelöst hättest. Aber nichts. Einfach nur eine zugegebenermaßen ordentliche Darstellung des Status Quo.“

 

Sascha nahm sich einen Moment für die Erwiderung. „Hmm, weißt Du, Bobby. Ich bin der große Sascha, und Priscilla musste noch viel lernen. Es war für alle besser, die Zeit für meinen Überblicks-Vortrag zu nutzen. Aber dann Du mit Deiner Kamikaze-Aktion, vollkommen hirnrissig. Ich hätte einen Herzinfarkt bekommen können. Wann hattest Du den Plan für den Höllenritt gefasst?“

 

„Noch am Mittwoch an der Bar. Prisca wollte sofort abreisen. Wir überredeten sie zum Bleiben, und mir kam die Idee für die Abreise-Lektion. Schon zu Beginn der Woche hatten wir ja abgemacht, dass ich Dich am Samstag von Oberwolfach nach Frankfurt zum Flieger bringe. 

Und mein 911er Porsche war wirklich gut. So entstand die Idee, ‚etwas schneller‘ als normal den Weg vom Schwarzwald zum Airport zu nehmen. Dein Flug zurück in die Staaten stand mit 12 Uhr 40 im Plan. Wir wollten uns in Oberwolfach um 8 Uhr 30 auf den Weg machen. Das hatten wir am Freitagabend nochmals bekräftigt.“

 

Sascha: „Um 8:20 saß ich mit meinem Koffer im Eingangsbereich des Instituts. Aber Du kamst nicht. Um zwei Minuten nach halb neun schickte ich einen jüngeren Teilnehmer auf Dein Zimmer mit der Frage, wo Du bliebest. Deine Antwort: ‚Es geht bald los, ich rasiere mich noch.‘ 

Um kurz nach 9 der nächste Bote: Wann es denn endlich losgehe. Deine Antwort: Rasieren ist fertig, ich fange jetzt an, den Koffer zu packen. Um 9:45 wieder der andere Bote: es sei jetzt wirklich dringend. Du: ‚Der Koffer ist fast fertig gepackt, aber ich finde den einen Waschlappen nicht.’“ 

„Inzwischen hatte ich zwei andere Teilnehmer gefragt, ob mich einer von ihnen sofort zum Flughafen bringen könne, zum 12:40-Flug. Ihre Antwort ‚Den Flug würden wir sowieso nicht mehr kriegen. Tut uns leid‘ versetzte mich in helle Wut. Um 10 Uhr schickte ich noch einmal einen Boten: ‚Time is running like a wild horse. When will we finally start?‘ Und Du nur: ‚Im Prinzip sofort, ich will nur noch etwas über ein offenes Problem nachdenken.’“ 

 

Bobby: „Um 10:15 kam ich frohgelaunt die Treppe zur Eingangshalle runter und grüßte Dich überschwänglich: ‚Oh, Sascha, schon in Marschbereitschaft?‘ Wir zum Porsche, und um 10:19 begann die Jagd. Erst noch moderat durch Oberwolfach, Wolfach, Hausach und bis zur Autobahnauffahrt vor Offenburg. Dann aber Stoff. Jetzt lernte ich, dass der 911er die 210 km/h wirklich über lange Strecken hielt.“ 

 

Sascha: „Schlimm war, dass während des Höllenritts im Autoradio ‚Seasons in the Sun‘ von Terry Jacks lief: ‚Good bye, Papa, it’s hard to die‘.“

 

„Um 12:20 kam die Ausfahrt zum Flughafen in Sicht. Und dann scherte dieser bescheuerte LKW-Fahrer direkt vor uns in die Spur. Da war ich in Gedanken gerade dabei, mir einen Satz für Deine Verabschiedung zu überlegen.“ 

 

Sascha: „Hmmm. Vorher hatten wir die ganze Strecke kein einziges Wort gewechselt. Rrrrtsch, klemmte der Porsche unter dem Laster, und bum, explodierte unser Tank. Gut, dass wir vor dem Verbrennen das Bewusstsein verloren.“ 

 

In dem Moment riss eine tiefe Stimme die Beiden im Kommando-Ton aus den Erinnerungen: „Ich habe euch nicht zum Quatschen in den Himmel geholt. Macht euch an die Struktur-Theorie für eine 6-dimensionale Hölle. Die wird dringend gebraucht!“

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Epilog

Sehr geehrter Herr Kollege A!

Über Ihre Geschichte bin ich entsetzt. Ich werde Ihnen nie wieder – ich betone NIE WIEDER – aus meinen Oberwolfach-Erinnerungen erzählen. Sie sind ein böser Wicht!

Mit förmlichen Grüßen, B

 

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