Von Angelika Brox

Jeder behauptet natürlich, er könnte gar nichts dafür, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist. Die Eltern haben Schuld, die Lehrer, die Gesellschaft, wer auch immer. Deshalb spare ich mir diese nutzlosen Erklärungen. Nur so viel: Ich heiße Lukas und werde von den meisten Lucky genannt – und der Spruch „Nomen est omen“ trifft in meinem Fall überhaupt nicht zu. Eher schon: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
Sei’s drum. Gerade stehe ich mit Bill auf dem Supermarktparkplatz bei den Einkaufswagen. Wir rauchen, damit es unauffällig wirkt. Es ist Mittag und die Sonne knallt auf den Asphalt und die Autodächer.
Bill heißt eigentlich Jonas, aber er hat sich vorgenommen, so reich zu werden wie Bill Gates, und deshalb hat er schon mal mit dem richtigen Vornamen angefangen.
Wir teilen uns ein Bonsai-Appartement. Das ist unsere vornehme Bezeichnung für „Wohnklo“. Mehr können wir uns nicht leisten, dazu sind unsere Einnahmen zu unregelmäßig. Doch alles ist besser, als bei unseren chaotischen Familien zu wohnen.
Na, egal.

Ein silbergrauer SUV parkt ein. Der Fahrer steigt aus, schließt die Tür, drückt auf den Funkschlüssel und steckt ihn in die rechte Jackentasche. Anschließend bewegt er sich langsam in Richtung Einkaufswagen und kramt in seinem Portmonee nach einer Münze. Wir treten unsere Zigaretten aus und schlendern völlig desinteressiert ein paar Meter weiter. Der Typ steckt einen Euro in den Schlitz und verstaut das Portmonee in seiner linken Hosentasche. Dann schiebt er die ratternde Karre in den Supermarkt.
Dummheit muss bestraft werden. So sehe ich das. Er hat es nicht anders gewollt.
Wir folgen ihm durch die Regalreihen und sehen zu, wie er Obst, Käse, Wurst, Toastbrot und jede Menge Fertiggerichte im Wagen auftürmt, als gäbe es morgen nichts mehr. Zwischendurch liest er endlos lange, was auf den Verpackungen steht. Wahrscheinlich lernt er die Zutatenlisten auswendig.
In den schmalen Gängen  herrscht so viel Betrieb, dass wir nicht nah genug an ihn rankommen. Die Dudelmusik nervt. Ich muss mich echt anstrengen, um ruhig zu bleiben.
Endlich landet er bei den teuren Weinen. Hier ist es fast leer. Er nimmt eine Flasche nach der anderen in die Hand und studiert die Etiketten.  
Bill nähert sich ihm von rechts, ich von links.
„Entschuldigen Sie bitte“, säuselt Bill mit seiner Verführerstimme, die jedes Mädchen schwach werden lässt, „würden Sie uns wohl bei der Auswahl beraten?“
„Wir planen nämlich eine kleine Feier heute Abend“, ergänze ich. „Bestandene Meisterprüfung.“
„Oh, herzlichen Glückwunsch!“, sagt der Mann und fängt an, alle möglichen Weine vorzustellen. Währenddessen zieht Bill ihm den Autoschlüssel aus der Jackentasche und ich übernehme das Portmonee. Dann greifen wir uns zwei Weinflaschen, bedanken uns und gehen in Richtung Ausgang. Unterwegs stellen wir die Flaschen irgendwo ab.

Draußen legen wir einen Zahn zu. Spätestens an der Kasse wird unser Opfer merken, was los ist.
Bill öffnet den SUV und klemmt sich hinter das Steuer, ich springe auf den Beifahrersitz. Im Innenraum ist es heiß wie in einer Sauna. Bill lässt die Fenster runter und braust vom Parkplatz.
„Ha!“, sagt er und grinst.
Irgendwie riecht es hier eklig. Der Gestank kommt von hinten.
Ich schnuppere und drehe mich um.
„Das darf nicht wahr sein!“
„Was?“, fragt Bill.
Auf der Rückbank liegt ein mittelgroßer, brauner Hund und hechelt wie verrückt. Seine Zunge hängt aus dem Maul und ist dunkelrot, die Augen starren glasig ins Nirgendwo. Vor ihm trocknet eine Pfütze Erbrochenes.
„Fahr schnell nach Hause!“, rufe ich. „Dieser Idiot hat seinen Hund im Auto eingesperrt! Der stirbt gleich!“

Das ist es, was ich an meinem Kumpel so mag: Er diskutiert nicht lange, er labert nicht rum, sondern macht einfach das, was nötig ist.
In diesem Fall ist es nötig, auf kürzestem Weg zu unserem Wohnblock zu rasen, mit quietschenden Reifen vor der Tür im Parkverbot anzuhalten und zu zweit den Hund nach oben zu tragen.
Vorsichtig legen wir ihn in der Küche auf den kühlen Fliesen ab. Die Innenseiten seiner Ohren sind gerötet und fühlen sich heiß an.
Während ich eine Schale mit Wasser fülle, googelt Bill auf seinem Handy, was bei einem Hitzschlag zu tun ist.
Der Hund will nicht trinken – oder er ist zu schwach.
„Auf keinen Fall mit Zwang etwas einflößen“, liest Bill vor. „Mach ein Handtuch nass und lege es ihm auf Kopf und Hals. Aber nicht eiskalt, sonst kriegt er einen Schock.“
Ich folge den Anweisungen, so schnell ich kann. Nach einer Weile hechelt der Hund weniger und leckt sich die Schnauze. Der Blick wird klarer. Er sieht mich an.
„Kühl seine Beine“, sagt Bill. „Hunde schwitzen über die Pfoten.“
Schnell mache ich zwei weitere Handtücher nass und lege sie um Vorder- und Hinterbeine. Dann warten wir, ob es hilft.

„Halt durch, Dicker!“, sage ich.
„Los, kämpfe!“, sagt Bill. „Du schaffst das!

Ein Glück, er hebt den Kopf, richtet sich auf und möchte tatsächlich etwas trinken. Ich sehe zu, wie er mit der Zunge das Wasser aufschlabbert. Das Bild wird leicht unscharf, weil ich plötzlich Tränen in den Augen habe. Verlegen will ich sie wegwischen, da bemerke ich, dass auch Bill schnieft und sich die Nase reibt.

„Bring du das Auto weg“, sage ich, „ich bleibe solange hier.“
Er nickt und zieht los.
Jetzt haben wir einen Hund.

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