Von Maria Monte

Sonnenstrahlen kitzeln bereits meine Nase, als wollten sie mir sagen: aufwachen, ein sonniger Tag wartet auf dich. Ich drehe mich trotzdem genüsslich auf die andere Seite, dann auf den Rücken, strecke mich, gähne und öffne erst das eine, dann das andere Auge. Heute ist ein besonderer Tag. Ich will ihn auch besonders beginnen. 

Auf dem Weg ins Badezimmer komme ich am Spiegel vorbei, der hoch und breit eine Seite des Flurs einnimmt. Hey, alter Knacker, halte dich gerade, Brust raus, Bauch rein! Ach, Quatsch, hier in meinen vier Wänden laufe ich so, wie es mir behagt. Als eingefleischter Junggeselle bin ich frei, kann tun und lassen, was ich will. Ich begutachte mein Gesicht, das mir schon leicht gebräunt entgegensieht, umrahmt von grauschwarz melierten Locken. Mein Oberkörper erscheint mir noch muskulös, obwohl einige leichte Dellen nicht zu übersehen sind. Ein Grund mehr, weiter ins Fitnessstudio zu gehen. Einen Bauch habe ich zum Glück nicht, aber auch da sind Veränderungen sichtbar. Mit meinem Knackarsch brauche ich mich nicht zu verstecken. Ich trage noch enge Hosen und kann die hinteren Muskeln spielen lassen, sogar im Takt. Ich bin mit mir zufrieden. Mit einem Song auf den Lippen öffne ich die Badezimmertür und beginne mit meiner Morgentoilette. Heute habe ich mir den Tag freigehalten. Ich will meinen siebzigsten Geburtstag ohne Feier, ohne Verantwortung, ohne Floskeln, ohne falsche Freunde begehen. 

Meine Mutter lebt schon lange nicht mehr, meinen Vater habe ich nur in meinen ersten zehn Lebensjahren ertragen müssen. In dieser Zeit hat er versucht, mich nach seinen Vorstellungen zu stählen. Ich musste vieles aushalten, durfte nicht weinen, keine Angst zeigen, frech und mutig wirken. Nie war er mit mir zufrieden. Meine Mutter arbeitete viel und hart, wirkte zerbrechlich und krank. Nie hatte sie Zeit für mich. Ein geborgenes Elternhaus? Fehlanzeige. Somit machte ich mich mit sechszehn aus dem Staub. Meine damaligen Freunde nahmen mich auf, zeigten mir meine Stärken, gaben mir mit vielen guten Hinweisen und Freundschaftsbezeugungen mein Selbstbewusstsein zurück. Ich lernte Tischler, weil ich Holz und Bäume mag. Nebenbei probierte ich mich in der Liebe aus. Schnell bemerkte ich meine Wirkung auf das weibliche Geschlecht. Das soll mein Hobby werden, beschloss ich. Ich ging zur Tanzschule, hatte Freude an der Musik, übte mich im stillen Kämmerlein sogar im Singen. Meine Stimme klang dunkel und weich, im Umgang mit den Tanzmädels lernte ich, sie als Geheimwaffe anzuwenden. 

Oh, mein Gott, nun werde ich doch etwas melancholisch. Offenbar holen mich die Erinnerungen ein. Am Spiegel tänzele ich übermütig vorbei, ich zeige ihm und gedanklich auch der Welt da draußen mein Hinterteil. Ätsch! Ich kleide mich, wie jeden Tag, mit großer Sorgfalt. Mein Kleiderschrank bietet für jede Gelegenheit genug Auswahl. Zum Frühstück gönne ich mir Saft, Kaffee und ein Gläschen von dem Secc au Chocolat, den ich so liebe, dazu zwei Vollkorntoast mit Lachs und Käse. Das Radio schalte ich nicht ein, heute lege ich mir eine CD mit Jazz-Rock auf. Sofort zuckt es in meinen Gliedern, ich gönne mir ein Tänzchen zum Fenster, öffne es. Früher liefen mir die Mädels nach, später die Damen. War ich ein Frauenheld? Ich lebte sorglos und fröhlich, ließ keine Gelegenheit aus. Fast jeden Abend ging ich auf Partys oder in einen angesagten Club. Ich galt als DER Partyhengst, war beliebt und wurde umgarnt. Das weibliche Geschlecht gab sich als Weihnachtsgans, ließ sich gerne von mir ausnehmen. Nach einigen Dates mit haarsträubenden Geschichten, eben durch Mitleidhascherei, gelang es ganz einfach, an ihr Eingemachtes zu gelangen. So verfiel ich aufs Flunkern, um nicht Lügen zu sagen. Die Frauen sind doch selbst schuld, wenn sie in ihrer Einfältigkeit alles glauben. Alle Frauen sind naiv! Nach einem alkoholträchtigen One-Night-Stand nahm ich auch mal einen Ring oder etwas Bargeld mit. Nach dem Motto: „bezahle mich mit dem, was du dabeihast, ich bin es wert“ oder „ich soll das entwendet haben? Du warst doch so down, wer weiß, wo du deine Klunkern gelassen hast“. Dafür gab ich abends zu den Partys den Lebemann, schmiss mit Champagner und Rosen um mich. Mein Motto war und ist: „Am Ende bereut man nur die Sünden, die man nicht begangen hat“. So lebte ich auf Pump und mit Schulden, denn mein kleines Gehalt gab Luxus nicht her. 

Der Alkohol im Secc belebt meinen Geist. Ich muss an Eva denken. Ein rassiges Weib. Sie tat stets, als wenn sie ohne mich auskommen würde, aber beim ersten Fingerschnipsen war sie da und ich konnte sie wieder um den Finger wickeln. Schon lange arbeitete ich nicht mehr in einem festen Arbeitsverhältnis, denn ich brauchte für mein Hobby viel Zeit und Kraft. Eva hielt mich aus und ich ließ es zu. Nach fünf Monaten verdrückte ich mich ohne Abschied, ich wollte keine feste Bindung. Und ein Heiratsschwindler wollte ich auch nicht sein. Bloß keine Rücksicht auf andere Menschen nehmen müssen, was irgendwann ja nicht ausbleibt, wenn man zusammenlebt. Meine Freiheit ist mir heilig. Als wir uns nach einigen Monaten wiedersahen, flammte unsere Begierde aufeinander sofort wieder auf. Sie machte sich schick, sie machte sich rar, sie war die perfekte Frau. Aber sie machte mir damit auch Angst. Vielleicht waren wir uns zu ähnlich. Von ihrem Geld zu leben, ging einige Zeit gut. Aber ich hatte ja nebenher doch noch einige Eisen im Feuer, das gefiel ihr irgendwann nicht mehr. „Du widerlicher Schuft“ war noch das Harmloseste, was sie mir an den Kopf warf. „Lass dich nie, nie wieder hier sehen. Hau ab, verschwinde, du bist das größte Arschloch, dass ich kenne.“ Damit war wieder mal zwischen uns ein Bruch, in diesem Moment so gewaltig, so endgültig, leider so anhaltend. Wie lange ist es her? Ach, Eva, ich vermisse deinen Körper, deine Kurven, dein Haar. Und auch deine Leichtigkeit.

Die zweite Tasse Kaffee verzaubert mich mit dem wunderbaren Arabica   – Aroma. Dieser herrliche Geruch von gerösteten Kaffeebohnen und ein Hauch vom offenen Fenster her – Jasmin, ja, es duftet nach den Blüten des weißen Busches vor meinem Haus. Eva roch auch immer nach Jasmin. Wenn ich ihr eine Freude machen wollte, kaufte ich „Gucci Gorgeous“. Das passte zu ihr. Warum fallen mir nicht all die anderen Damen ein, die meine Wege kreuzten? Sentimentalität ist nun wirklich nicht mein Ding. Ob sich mein Gewissen noch läutern möchte, jetzt, nach siebzig Jahren? Habe ich überhaupt ein Gewissen? Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob es für mich Normen gibt. Eine ethische Orientierung habe ich auf meinem Lebensweg nicht bekommen. Ich nahm, was ich wollte und ich bekam es auch. Einer Konfession gehöre ich nicht an. Also muss ich auch nicht beichten. Wem bin ich Rechenschaft schuldig? Wenn Frank Sinatra singt „this is my way“, gebe ich ihm Recht. Ich bin und bleibe ein Gigolo! Wie lange werde ich noch Spaß an Bars, an Tanz, an Sex, an fremden Körpern haben? Oh, mein Gott, überfällt mich jetzt eine Torschlusspanik? Vorsicht, alter Hase, noch bist du knackig, gefragt, voller Lebenssaft. Was sollen diese Überlegungen? Neben Musikhören werde ich wohl doch mal ein Buch zur Hand nehmen und mich mit den Biografien von Lebenskünstlern befassen. Ein guter Vorsatz. Wenn ich weiter lerne, meine Gewohnheiten ab und an mal verändere (ich denke da an Ortswechsel) und Widerspruch ertragen kann (von wem?), bleibe ich jung und flexibel, sagt man.

Es klingelt. Ich schrecke aus meinen Gedanken. Um diese Zeit kommt weder die Post noch ein Vertreter. Eigentlich wollte ich doch alleine sein, aber ich bin auch etwas neugierig, gebe ich zu. Ich tänzele Richtung Tür, komme am Spiegel vorbei. Stopp, alter Gauner, wie lange noch? Mir fällt ein Zitat aus einer Zeitschrift ein: „Böse Menschen haben mehr Spaß und altern in besserer Verfassung“. Ja, so soll es bleiben! Es klingelt wieder. Ich lausche und öffne dann bereitwillig. Mir bleibt die Spucke weg, ich starre, stottere.

Aus dem Wohnzimmer klingt gerade die Melodie „When a Man loves a woman“, Ironie des Schicksals.

„Eva, was führt dich zu so früher Stunde…“ weiter komme ich nicht. Ihr Duft umfängt mich sofort, sie hält eine Rose in der Hand. Übermütig greife ich um ihre Taille und schwenke sie im Rhythmus durch die Wohnung. Ein Glücksgefühl streift mich. Ja, das Leben kann schön sein!

Das Messer muss sie im Ärmel ihrer Bluse versteckt haben, ich spüre nur noch die kalte Klinge und liege dann wirklich in ihren Armen.

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