Von Kornelia Wulf

So weich der Federflaum zwischen den Fingern. Ich streiche den zitronenfarbenen Hals – er streckt ihn ganz lang – verstärke ein wenig den Druck der Kuppe. Hack. Die Spitze des Schnabels in meinem Daumen fühlt sich wie ein brennendes Kitzeln an. „Au“, rufe ich leise, mein Johnnie brummt, „bist du jetzt sauer?“ 

Ein Dufthauch strömt durch den Fensterspalt, geöffnet nur zwei Hände breit. Hier nennt man das sperrangelweit. Der Geruch eingekesselt in schwüler Luft. Gemähter Rasen und Hundekot. Ich schaue meinen Johnnie prüfend an. Ob ein Vogel, der im Käfig sitzt, wohl weiß, wann Sommer ist?

Ein Blick auf die Uhr. Was, schon halb acht? Gleich wird Fred kommen, um nach mir zu sehen. Und über das weiße Schränkchen gebeugt, krame ich das Scrabble-Spiel heraus. Greif´ nach den Trinkbechern, die auf ihm stehen. Zum Mineralwasser brauche ich mich nur umzudrehen, zwei Schritte gehen. Die Flasche wartet auf dem Nachtschrank, den sie zwischen Bett und Wand gequetscht haben. 12,04 qm. Standardnorm. So steht es in der Klinikordnung. Seit dem letzten Winter mein neuer Aufenthaltsort, an dem nicht nur die Räume einem strengen Maß unterworfen werden. Nein, unsere inneren Wände stehen hier primär im Fokus. Häufig gefertigt aus Stahlbeton. Fast unkaputtbar. Schritte schleifen über den Flur, ich schaue zur Tür. Ein leises Knatschen, Fred steht vor mir. 

„Hey Pascal, alles klar?“

Auf Freds Stirn klebt eine Strähne verschwitztes Haar.

„Aber ja.“

Ich deute auf das Spielbrett auf meinem Tisch. Beide Bänkchen stehen schon parat und alle Buchstabensteine bereits im Sack. Die Mundwinkel minimal gespreizt, den linken Nasenflügel gewölbt, was die Braue zum Anheben reizt, setze ich Lächeln Nummer 17 auf. Wie oft habe ich das als Kind geübt. Zuhause, vor dem Badezimmerspiegel. Nun, ich muss es zugeben. Die Sichtfläche war schon ein bisschen blind. 

Fred lässt sich auf den Holzstuhl fallen. Ich gieße ihm sprudelndes Wasser ein. Nach einem tiefen Schluck guckt er mich dankbar an.

„Hast du vielleicht noch etwas Zeit?“ Und mein Nasenflügel gibt noch ein wenig Gas. „Oder braucht dich heute dein Sohn? Schon wieder Grippe? Ach, der arme Junge.“

Fred reibt sich über die feuchte Stirn 

„Und jetzt hats auch noch unsere Kleine erwischt. Da kommt man gar nicht mehr zum Schlafen.“ Er lässt den Blick über die Tischplatte schweifen. „Okay, okay. Aber nur ein Spiel.“

Ich nehme den Druck aus dem Nasenflügel, lasse meine Braue absinken. Beide Lippen berühren sich locker. Wähle Nummer Drei, total entspannt. 

„Warum kann dieses Kind nicht lächeln?“, haben sie stets meine Mutter gefragt. Zuerst die Frau Berner im Kindergarten, später Frau Hennig, bei der es mir vorkam, als wolle sie sich hinter der Tafel verstecken, wenn ich den Klassenraum betrat.

Das Spiel gleitet an mir vorbei. Schmeckt zäh und fad, als handele es sich um einen Einheitsbrei. Ich streue ein „Ja“, „Toll“ und „Super“ ein, „Fred, du alter Scrabble Schlawiner“, lasse Großmut walten und ihn gewinnen. Verlegen lächelnd dreht er sich um. „Ach was“, nuschelt Fred, die Wangen hochrot. Verborgen hinter den inneren Wänden, reibe ich genüsslich meine Hände. Ich habe seine schwache Stelle getroffen. Und wie die gemeine Schmeichelschabe dort ein dickes Ei gelegt.

Den Abschiedsschluck in seinem Mund, schaut Fred auf seine Armbanduhr. „Oh, schon Neun. Jetzt wird’s aber Zeit. Ich muss los. Die Kleinen warten.“ Angeekelt kreist er seine Augen. „Hoffentlich muss ich ihnen beim Erbrechen nicht wieder den Kopf halten. “ Mit eiligem Schritt erreicht er die Tür. „Also, Pascal. Nimm es sportlich. Morgen gibt es die Chance zur Revanche. Versprochen.“ Während ich auf das Spielfeld schaue, höhnt es in meinem Hinterkopf. 

Fred, du alter Scrabblekretin.

Hiebe schreibt man mit H und nicht mit L! Orthografie ist wohl ein Fremdwort für dich.

Meine Augen folgen dem Wortgitter bis zur EDER. Nein, an alle Kreuzworträtselspezies, nicht der Nebenfluss der Fulda. Doch die Frage, die mich hierbei bewegt, warum habe ich die Buchstaben an das falsche L angelegt? Ein vertrauter Geruch verpestet den Raum. Kriecht tief in die Nase, fast bis ins Hirn. Gegerbte Tierhaut. Kälber. Rinder. Am Salz auf der Zunge spüre ich den Biss in der Lippe. Ein  seltsames Zittern breitet sich aus. Vielleicht ein Vibrieren der inneren Wände? Alle Warnzeichen leuchten auf. Dieses Spiel ist gefährlich. Es dominiert die Selbstkontrolle und meine Sinne. Vaters Sammlung blinkt vor mir auf. Siebenundzwanzig Ledergürtel, sortiert nach Breite, Prägung, Farbe, peinlich genau. Und allen gemeinsam die schwere Schnalle. Im Schatten des Arbeitszimmers aufgereiht an der Wand, erschienen sie mir wie hungrige Schlangen. Mein Vater, ein wahrer Demokrat, ließ mich stets den richtigen aussuchen. Als Frau Berner sich mit Mama traf, sie auf meine Seltsamkeit ansprach, haben wir den roten genommen. Den hübsch verzierten mit den Silbernieten. Am selben Tag habe ich mich über das Gatter geschwungen, bin über die Weiten der Wiese gesprungen. Ein Stück Stacheldraht lag zwischen den Pusteblumen. Ein Rest vom Zaun, den Vater hier gezogen hatte. So schön glänzte er in der Nachmittagssonne. So schön silbern wie die Gürtelnieten. Das Fundstück in meiner Hosentasche sicher verwahrt, habe ich meinen Freund Harry getroffen. Harry, den fetten Grasfrosch, der im Tümpel wohnt. Der kleine Kerl schmiegte sich in meine Hand, während ich seinen Hals streichelte, ganz sanft. Bis ich flugs in die Tasche fasste und ihm ein silbernes Halsband verpasste, was seinem grünen Teint wahrlich schmeichelte. So oft hab´ ich mich gefragt. Nennt man es Rausch oder Ekstase? Oder wie kann ich sie in Worte fassen, diese Wucht, die mich durchflutete, die mich vom Opferboden abheben ließ, die jede Faser von mir absorbierte, als ich an dem Drahtstück drehte und die Stachelspitzen noch einmal stramm fixierte?  

Die Erinnerung daran habe ich in mir aufbewahrt. In einem Geheimfach, das man nicht öffnen darf. Bis zu dem Tag, an dem ich nicht in der Schule ankam und Frau Hennig sich Mama zur Brust nahm. Vater lud mich zu sich ein. Zu einem Rendezvous mit seinem Braunen. Der an der Wand hing ganz außen. So zärtlich hat Vater ihn stets gestreichelt, die Rillen der Prägung mit dem Daumen nachgezeichnet. Fast als suche er bei ihm Trost. Nie hat er Mutter so liebkost. Da habe ich mir den Carlo geschnappt. Den Kater aus der Nachbarschaft. Eigentlich ein Kumpel, mit dem ich mir die Opfer friedfertig teilte. Bis er mir die Maus auf dem Kellertisch, schon präpariert als Forschungsobjekt, einfach vor der Nase wegschnappte.

Ein wildes Geflatter in Johnnies Käfig. Zitternd drückt der Sittich sich an das Gestänge, als meine Hand ins Innere greifend seinen kleinen Körper erreicht. Ein klägliches Quieken schrillt durch den Raum. Was ist nur los, warum regt er sich auf?

Ob ein Vogel, der im Käfig lebt, wohl über den siebten Sinn verfügt?

„Sch, sch“, zische ich, während ich die Halshaut unter seinem Federkleid streichele, „wir sind doch Kumpel. Also, sei nicht bang.“ 

Aber nicht mehr lang, weht es düster durch meinen Kopf, wenn du meine Gedanken erfühlen kannst.  Doch zuerst muss ich beweisen, dass ich mich um dich kümmern kann. So etwas punktet hier auf ihrer Skala der Sozialprognose. Und ich hole sein Futter aus dem Schränkchen heraus, fülle die Fressschale mit Körnern auf. Frisches Wasser plätschert im Napf. 

„Guten Appetit, kleiner Johnnie“, schleime ich und schubse seine Schaukel an. „Das schmeckt fein.“

Während mein Vogel hastig pickt, tauche ich ab in Erinnerungen. Wie schön das Schwelgen in ihnen ist, denke ich.  All diese tierischen Episoden. An denen habe ich mir nur die Hände warmgerieben. Bis Vater an die Reihe kam. Dann, etwas später, Onkel Peter, der alte Verräter, der mich stets in den Nacken packte und zurück zu Vater brachte, wenn ich an seiner Tür anklopfte, weil ich eine Gürtelpause brauchte. 

Und der Edwin, Olaf …. ach ja.

Als der Richter die Galerie der Opfer studierte, schüttelte er verblüfft seinen Kopf.

„Herr Manus, ist es Ihnen aufgefallen?“ Er schaute mich durchdringend an. „Diese Ähnlichkeit. All diese Herren könnten aus ein und demselben Familienalbum stammen.“

Ein leises Klopfen an meiner Tür. Fred steckt seinen Kopf herein.

„Jetzt hatte ich doch glatt mein Smartphone im Dienstzimmer vergessen. Dort ist mir Dr. Ehrlich über den Weg gelaufen. Der hat mich auf den neuesten Stand gebracht. Der Termin, auf den du so sehnlichst wartest, findet schon nächsten Dienstag statt. Dann stimmen wir im Team über deinen ersten Ausgang ab. 1:1, na du weißt schon. Und ich als dein Bezugsbetreuer gebe natürlich auch eine Empfehlung ab. Und wie die lautet“, er zwinkert mir zu, hebt seinen Daumen

Meine Gesichtsmuskeln geben alles. Die Mundwinkel beben und Nase und Braue beginnen zu krampfen. 

„Super Fred,“ rufe ich ihm zu, „und hey – grüß´ deine Kleinen von mir!“, bevor die Tür sich sachte schließt.

Johnnie drückt seinen Kopf gegen die metallene Hülle, als wolle er sie auseinanderbiegen. In die Käfigstangen pickend, wippt er nervös auf seinen Krallen. Er hebt den Kopf, starrt mich an. Die schwarzen Pupillen scheinen zu rotieren. Du darfst dich in seinem Blick nicht verlieren, gellt es meinem Hinterkopf. Gib alles, um den Sog abzuwehren. Und ich taste Mund und Nase ab. Brauen, Stirn und Schläfenpartie. Eine Fläche aus kaltem Stein. Vergeblich versuche ich, die Mimik zu entspannen. Festgewachsen wie eine Maske haftet Nummer 17 auf meinen Wangen. 

Noch einmal spreizt Johnnie die Flügel aus. Er öffnet den Schnabel, es kommt kein Laut. Seine Augen durchbohren mich wie durchscheinende Haut. Verdammt, er hat meine schwache Stelle entdeckt, denk´ ich noch, als er die Flügel hängenlässt. 

Und einfach von der Stange fällt. 

 

V2

 

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