Von Björn D. Neumann

Der Lichtkegel der Taschenlampe warf ein schummriges Licht durch die Gänge. Meterhohe Regalwände erstreckten sich durch das riesige Kellergewölbe. Gefüllt mit Artefakten und Kulturschätzen aus allen Winkeln der Erde. Teilweise sorgfältig in Kisten verstaut, teils nur in Luftpolsterfolie gewickelt. Viele standen aber auch einfach ungeschützt auf den etikettierten Ablageflächen. All diese Schätze fanden keinen Platz in den riesigen Ausstellungshallen des Smithsonian, dem Vorzeigemuseum in Washington D.C., wenn nicht gar der USA, vielleicht der ganzen Welt.

Georgie Sanders kannte jeden Meter. Seit zwanzig Jahren ging er jede Nacht auf seiner Wachtour denselben Weg. Jeder Schritt war ihm vertraut. Eins, zwei, und ein afrikanischer Schrumpfkopf lachte ihm ins Gesicht. Drei, vier, und er ging an dem gewaltigen Federschmuck eines Inka-Schamanen vorbei. Fünf, sechs, und … Was war das? Georgie stoppte abrupt und leuchtete mit der Taschenlampe in den Nebengang. War da nicht ein Geräusch? Sich die Brille geraderückend, bewegte er sich vorsichtig in den Gang. „Hallo? Ist da jemand?“ Georgie zögerte, dann erschrak er. Auf dem Regal mit der Beschriftung 16|1|14|4|15|18|1 stand ein Würfel.  Das allein war nichts Besonderes, aber die Gravuren in der metallisch schimmernden Oberfläche leuchteten. Leuchteten in einem fast überirdischen Licht. Und dann hörte Georgie das Wispern. So, als wenn mehrere Stimmen durcheinander aus der Box flüsterten. Vorsichtig nahm er den Behälter an sich. Bewegte ihn behutsam in seinen Händen und betrachtete ihn. Letztendlich legte er vorsichtig ein Ohr an den Würfel. Und dann hörte er es. „Öffne mich!“ Wie in Trance glitten seine Finger über die Oberfläche, suchten, tasteten, bis er mit dem Daumen eine Vertiefung spürte. Sanft drückte er die Stelle. Erst ein Klicken, dann Geräusche, als hätte er die Zahnräder einer Miniaturmaschine in Bewegung gesetzt,und der Deckel schnappte auf. Georgie sah hinein. Es war, als ob eine schwarz- wabernde Materie in der Dose gefangen war. Halb war es rauchförmig, halb flüssig. Sie formte Tentakel und streckte sie nach ihm aus. Durch Mund und Nasenlöcher drang sie in ihn ein. Sein Schrei erstickte tonlos, seine vor Schreck geweiteten Augen erstarben. Dann färbten sich die Pupillen in dunkelstes Schwarz. Endlich frei!

***

„Endlich frei!“ Wie lange war ich in dieser verdammten Dose gefangen? Das Letzte, woran ich mich erinnere, war dieser Bunker. Die ganze Welt lag im Krieg. Das Böse war entfesselt. Doch dann kam sie wieder, meine verdammte Schwester. Sie hat mich in die Box gezogen. Verfluchte Hoffnung. Aber nicht heute. Du bleibst schön in der Büchse. Wie heißt es doch? ‚Lasset jede Hoffnung hinter euch.‘ Ich bin frei. Frei! Ich bin das Übel dieser Welt. Ich bin das Böse und ich werde jetzt über euch kommen.

Doch wo bin ich?

Ich muss einen Weg hier herausfinden und dann brauche ich einen neuen Wirt. Stärker. Mächtiger. Diese Treppe führt nach oben. Eine Halle. Was ist das für ein seltsames Leuchten auf dem Tisch? Ein Bild, das von selbst leuchtet? Interessant. Es geht eine starke Energie davon aus. „Enter Password“. Was bedeutet das? Komm, Georgie, zeig‘ mir was das ist. So ist es gut. Ich muss der Energie folgen. Tut mir leid, Georgie. Ich brauche Dich nicht mehr.

***

Georgies Körper sank vor dem Bildschirm in sich zusammen. Die schwarze Materie verschwand in dem leuchtenden Bildschirm. Dann wurde es dunkel.

***

Blitze zucken, Bilder fliegen an mir vorbei, das Wissen der Menschheit. Ich bin körperlos. Ich bin fasziniert. Über diese Maschine habe ich Zugang zu jedem Ort der Welt. Ich kann überall gleichzeitig sein. Grenzenlose Freiheit. Meine Gedanken lernen, den Datenstrom zu kontrollieren. Verlangsame ihn. Sehe mir die Informationen genauer an und … lerne. Lerne schnell. Ein Bild erscheint. Es ist ein Mädchen. Sie hat Geburtstag und sie pustet die Kerzen ihrer Torte aus.

Pandora_11_9: Bei deiner Figur würde ich die Finger von der Torte lassen. Geh‘ sterben.

Hunderte blauer Daumen fliegen mir entgegen. Herzen und lachende gelbe Gesichter. 100 Likes, 500, 1.000. Ich gehe weiter. Lerne, dass die Menschen weiter konsequent an der Zerstörung des Planeten arbeiten.

Pandora_11_9: Es gibt keinen Klimawandel. Das nennt man Wetter. Wacht auf!!!

Ich bekomme mehr Energie. Menschen ‚folgen‘ mir. Mehr und mehr Anhänger. Wie leicht seid ihr doch zu manipulieren. Viel leichter als früher.

Pandora_11_9: Die suchen keine Hilfe. Die wollen nur unser Geld!

Pandora_11_9: Das ist eine erfundene Pandemie.

Pandora_11_9: Man will uns unsere Meinungsfreiheit nehmen! Wehrt euch!

Pandora_18: Ich lasse mir nicht vorschreiben, womit ich fahre, was ich esse oder wie ich heize.

Die Saat ist so einfach gelegt. Die Menschen so leicht zu manipulieren. Pandora_18 trendet. Ich bin in ihren Köpfen. Teile und herrsche.

Wie leicht es ist, Informationen zu beeinflussen. Fake News. Das gefällt mir. Hier ein Bild von einem toten Kind. Ich setze es in Bezug zu dem schwelenden Konflikt.

Pandora_11_9: Leak. Der kleine Ahmed wollte nur einkaufen. Israelischer Soldat schoss ohne Vorwarnung. Nieder mit Israel.

Schon eine Stunde später werden Straßenkämpfe in Palästina gemeldet.

Pandora_11_9: Leak. Ukrainische Drohne zerstört Kindergarten in Grenznähe. Putin mobilisiert atomare Streitkräfte.

Pandora_11_9: Leak. USA aktiviert DEFCON_2.

Die Falken der Regierungen sind in Stellung gebracht. Es fehlt nur noch ein Funke. Die Welt wird in Trümmern liegen und ich werde mächtiger als je zuvor. Ich nähre mich von ihrem Leid. Bade in ihrer Angst. ICH BIN PANDORA. Das Übel der Welt!

***

Ein kleines, in Lumpen gekleidetes Mädchen klettert durch die Trümmer einer Steinwüste. Tiefrote Wolken türmen sich in den dunklen Abendhimmel. Blitze zucken am Horizont. Nala hat noch nie die Sonne gesehen. Seit dem großen Krieg vor 10 Jahren liegt die Welt im Dunkel. Der Rest der Menschheit ist verzweifelt und kämpft ums Überleben. Als sie Trümmerteile nach Vorräten untersucht, findet sie eine merkwürdige Box. Sie scheint zu leuchten. Wie in Trance betätigt sie einen versteckten Schalter. Als der Deckel aufspringt, erschrickt sie. Ein greller, weißer Blitz zuckt aus der Dose in den Nachthimmel. Nala war es, als ob jemand das Wort ‚Hoffnung‘ in ihr Ohr flüsterte. Als sie zurück auf den Boden sieht, bahnt sich der grüne Sprössling einer Pflanze den Weg aus den Steinen.

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