Von Olivia Seifert

Langsam und Schritt für Schritt schlich Dakaria den prachtvoll verzierten Palastgang entlang, stets darauf bedacht, keinen noch so kleinen Laut von sich zu geben. Heute war der Tag, an dem sie ihrem Bruder zeigen würde, wie es sich anfühlte, zu verlieren. Heute war der Tag, an dem sie der Welt zeigte, dass sie weder schwach noch emotional war. Heute war der Tag, an dem sie die Elfen lehrte, sie zu fürchten. Und heute lag es an ihr, ihrem Bruder zu zeigen, was Qualen waren.

Sie war ein Monster, das wusste sie. Der verlassene Palastgang mit den alten Rüstungen war ein Ebenbild ihrer Seele: unergründliche Dunkelheit, beinahe endlose Leere und hier und dort heimtückische Schatten. Das Einzige, was noch in diesem fremden Nichts übriggeblieben war, war das unerbittliche Verlangen nach Rache, Aufmerksamkeit und Macht. Und diese würde sie in jener Nacht bekommen.

Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die alte Eichentür vor ihr, die mit zahlreichen Verzierungen versehen war, und schloss die Augen. Rötlich-golden glühende, königliche Magie floss aus ihrer Hand und sickerte in das Holz. Nur sie vermochte die Tür zu öffnen. Ein schadenfreudiges Lächeln breitete sich auf Dakarias Gesicht aus. Als das Glühen ihrer Magie erlosch, flimmerte die Eichentür geisterhaft in der Dunkelheit auf. Langsam setzte Dakaria einen Fuß nach vorne und lief geradewegs durch die nicht mehr materielle Tür. Ab diesem Moment war ihre Magie nutzlos. Eine Art Schutzzauber blockierte jede Magie, die nicht hierhergehörte, ihre eingeschlossen. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem gesamten Körper aus, lief ihr den Rücken hinunter, als sie den großen, in Stein geschlagenen Raum betrat. Der Zauber dieses Ortes war so stark und … vertraut. Das letzte Mal war sie als kleines Mädchen hier gewesen. Es weckte Erinnerungen aus ihrer Kindheit. Sofort verdrängte sie diese wieder. Sie war nicht mehr das kleine, schwache Ding, welches als junges Mädchen wegen ihrer Kampfunfähigkeit und Schwäche ausgelacht worden war. Sie war nun ein hinterlistiges, verräterisches Biest, skrupellos und ohne Gefühle. Im Laufe der harten Jahre war ihre Seele immer fragiler geworden, bis sie schließlich zerbrach und nichts als Gefühlslosigkeit – zumindest was die guten Gefühle betraf – und unendliche Leere zurückgeblieben war. Das Dunkle in ihr hatte überhandgenommen und das einst so strahlende Licht war erloschen. Schicksalsschläge, Hass und Demütigung hatten dazu geführt.

Da fiel ihr wieder ein, dass sie sich mit ihrem Plan beeilen musste. Die Wände des dunklen Felsraumes waren allesamt mit sattgrün leuchtendem Moos bedeckt, sodass Fenster unnötig waren. In der Mitte befand sich eine kleine Wasserquelle, die türkis schimmerte. Es war ein heiliger, paradiesischer Ort. Diese Quelle, so unscheinbar sie auch war, war das Kostbarste, was dieses Reich besaß. Sie versorgte das gesamte Land mit Trinkwasser und sorgte dafür, dass Pflanzen und anderes Leben gediehen. Aber heute war es vorbei mit diesen Zeiten. Schadenfroh holte Dakaria ein kleines Glasfläschchen aus ihrer fest um die Taille gebundene Ledertasche und betrachtete es grinsend im türkisenen Schein der Quelle. Die schwarze Flüssigkeit darin blubberte vor sich hin. Es war ein sehr starkes Gift. Nur ein kleiner Tropfen genügte und die Quelle war verseucht. Dakaria wollte den Ruf ihres Bruders zunichtemachen und ihn leiden sehen, so, wie sie in den letzten Jahren gelitten hatte. Es war ein befriedigendes Gefühl, andere zu quälen, um seinen eigenen Schmerz auszublenden. Neben dem Gift hatte sie noch eine andere kleine Überraschung für ihn dabei. Sobald sie hier fertig war, würde sie ihren Bruder aufsuchen und sie ihm überreichen.

Gerade als sie den Korken von dem kleinen Fläschchen lösen wollte, ertönte eine tiefe, sanfte aber dennoch auffordernde Stimme.

„Hallo Schwesterherz.“ Erschrocken drehte sich Dakaria um. Im Schatten eines Felsvorsprungs konnte sie die dunkle Gestalt eines kräftigen Mannes ausmachen – die Gestalt ihres Bruders Aidan, der ebenso wie sie ein Elf war. War dieser elende Mistkerl schon die ganze Zeit hier gewesen? Als dieser Dakarias überraschtes und gleichzeitig wutverzerrtes Gesicht sah, trat er langsam aus dem Schatten hervor.

„Ich wollte gerade nach dem Rechten sehen, da stellten sich auf einmal meine Nackenhaare auf. Ist alles okay mit dir? Warum so wütend, Kleines?“, fragte er besorgt. Er schien wohl zu denken, sie sei immer noch wie früher. Er betrachtete sie wohl als harmlos. Aus lauter Wut und Hass ihm gegenüber ballte Dakaria ihre Hände so fest zusammen, dass beinahe das kleine Fläschchen mit dem Gift zerbrach. Wie konnte er es wagen, so etwas zu fragen?! Ihr Bruder Aidan hatte leicht Reden. Im Gegensatz zu ihr wurde er geliebt, respektiert und hatte nebenbei noch eine Menge Macht.

„Hallo Bruderherz“, antwortete sie, wobei sie das Wort Bruderherz mit einer abschätzigen Betonung hinterlegte. Wie aus dem Nichts schoss sie auf einmal zwei Schritte nach vorne. Mit nur wenigen flinken Bewegungen verdrehte sie Aidans Arme, drehte ihn mit dem Rücken zu sich, verhinderte mit ihren Beinen, dass er seine Beine bewegen konnte und hielt ihm die Klinge ihres Dolches an die Kehle.

„Wag es ja nicht, mich noch einmal Kleines zu nennen“, zischte Dakaria. Die Zeiten waren vorbei. Mit einem abschätzigen Schnauben antwortete ihr Bruder nur: „Ich sehe, du hast gelernt. Aber sag mir, was habe ich getan, dass du mich jetzt ins Schattenreich verbannen willst?“ Er schien nun begriffen zu haben, dass sie nichts Gutes mit ihm vorhatte.

„Ich will dich nicht töten. Noch nicht.“

Dakaria wollte ihm das Leben zur Hölle machen, sodass er irgendwann vor ihr niederkniete und jämmerlich um Vergebung bat. Sie wollte ihn erniedrigen, und erst dann würde sie ihn von seinem elendigen Ego und seinem jämmerlichen Leben erlösen, von seinen Qualen und dem stetig wachsenden Verlangen nach Macht. Dakaria entfleuchte ein Lachen, ein gefühlsloses, schadenfreudiges. Ihr gefiel diese Vorstellung. Sie linderte ihren eigenen Schmerz. Aidan schien ihr Vorhaben zu durchschauen. „Ah, ich verstehe. Du willst, dass ich leide. Aber ich habe eine Frage: Warum? Du willst deinen eigenen Schmerz ausblenden, dich von ihm ablenken, richtig? Aber was wirst du machen, wenn du mit mir fertig bist? Weitere unschuldige Menschen quälen? Oder hast du gedacht, dass deine Sorgen und dein Leid einfach verschwinden? Du bist jetzt ein Monster und das wirst du immer bleiben.“

So ungern Dakaria es auch zugeben wollte, ihr Bruder brachte sie damit zum Grübeln. Zwanzig Jahre verbrachte sie jetzt schon damit, Pläne zu schmieden, wie sie ihn am besten quälen konnte. Sie hatte sich dem Bösen zugewandt und versucht, ihre Gefühle abzuschalten. Doch es hatte nichts gebracht. Immer waren dieselbe Qual und dasselbe Leid zurückgeblieben. Was war, wenn das alles nichts brachte? Würde sie sich ein neues Opfer aussuchen, wenn das passierte? Schließlich war es auf eine unbeschreibliche Art berauschend, seine Wut loszuwerden, indem man andere dafür büßen ließ. Es verschaffte einem das Gefühl von Kontrolle und beachtet zu werden. Man fühlte sich stark, da andere sich vor einem fürchteten. Am Anfang hatte man Selbstzweifel und Schuldgefühle, doch mit der Zeit verschwand dies, sodass eine unbeschreibliche Leere an Gefühlslosigkeit zurückblieb. Einerseits zerfraß sie einen innerlich, andererseits war sie dennoch befriedigend, befreiend, da einem mit der Zeit alles egal wurde. Doch es dauerte nicht lange, da kehrte all die Qual und der Schmerz zurück.

„Ah, du denkst nach“, platzte auf einmal Aidan dazwischen.

„Halt den Mund“, murrte Dakaria. Das Letzte was sie jetzt hören wollte, war das dumme Gefasel ihres Bruders. Langsam führte sie die Spitze ihres Dolches zu seinem ach so makellosen Gesicht. „W-was machst du da?“ Aidan begann zu zappeln. Vorsichtig zog Dakaria ihren Dolch einmal quer über seine linke Wange. Es war eine Art Kennzeichnung ihrer Opfer. Jetzt kam ihre Überraschung für ihn. Als sie fertig war, holte sie mit dem Dolch aus und rammte ihn direkt in das Herz ihres Bruders, der daraufhin zu Boden ging. Sich vor Schmerz windend lag er da, während Dakaria lachend über ihm stand. Er würde nicht sterben, schlimmer noch, die Klinge war verflucht.

„Der Fluch wird sich von deinem Herzen aus ausbreiten. Du alterst schneller, bis du irgendwann ein alter Krüppel bist, unfähig richtig zu laufen oder zu sehen. Du wirst so starke Qualen leiden, dass du dir wünschst, tot zu sein. Aber ich bin die Einzige, die dir diese Gnade gewähren kann. Noch dazu darfst du dir tatenlos anschauen, wie dein Königreich von den anderen angegriffen wird, da es von dem vergifteten Fluss geschwächt sein wird.“

Ein schrilles Kichern drang aus ihrem Mund. Dann lief sie hinüber zur Quelle. Gerade als ein Tropfen des rabenschwarzen Gifts die Wasseroberfläche berührte, ertönte ein lautes Poltern und die massive Eichentür wurde aufgeschlagen. Drei bewaffnete Männer kamen hereingestürmt, von denen einer sofort zu ihrem König Aidan lief, wie ein Schoßhündchen. Angeekelt von dieser Untergebenheit rümpfte Dakaria die Nase.

Auf einmal ertönte ein lautes Zischen und sie konnte nicht mehr vor dem rasenden Pfeil ausweichen. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr ihre rechte Schulter, als sie getroffen wurde, das Fläschchen fiel in die Quelle und sie sackte zu Boden. Nein, so schnell würde man sie nicht kleinkriegen, dachte sie. Dann wurde alles schwarz vor ihren Augen.

 (Die Autorin ist 13 Jahre alt)