Von Agnes Decker

„Zuerst Vorspann, Musik, Titel. Dann der Moderator. Einleitung zum ersten Beitrag . Nach ihm sind Sie dran. Ich gebe ein Zeichen. Sie fangen sofort an: Mein Name ist…. usw.…, wie wir es besprochen haben. Ok.?“

Ich nicke. Der Bildschirm ist dunkel. Dumpfe Trommeln, darüber die düsteren Klänge des Waterphones. Ein Kind läuft ins Bild, schaut sich um. Die Trommeln werden schneller. Das Kind läuft und läuft, wird von der Schwärze geschluckt. Eine Frau taucht auf, das Handy am Ohr. Jetzt kommt eine Hand ins Bild, zieht sie hinter ein Gebüsch. Wieder schwarz. Ein Messer blitzt auf, durchteilt die Dunkelheit. Flüssigkeit, blutrot, bahnt sich einen Weg, bis sie den Monitor ausfüllt. Einen Moment bleibt es stehen, das Rot. Herausfordernd, warnend, dann explodiert es. Tropfen prasseln auf den Bildschirm wie Geschosse, formieren  sich zu einem Schriftzug „Das Böse ist immer und überall.“  Ich starre auf diesen Satz, der blasser wird, transparent. Dahinter ein Mann in einem Norwegerpullover. 

Reißerisch, das Ganze, aber gut gemacht. Ich wusste ja, worauf ich mich einließ, als sie mich fragten. Aber jetzt wird mir doch etwas mulmig. Meine Hände schwitzen. Verdammt, mir fällt der Satz nicht mehr ein, womit ich anfangen wollte. 

„….  liebe Zuschauer.“ Der Mann in dem Norwegerpullover hat eine fröhliche, jugendliche Stimme.  „Ich begrüße Sie zu unserer ,True-Crime-Show: Im Kopf des Täters.‘ Wie immer haben wir einen spektakulären Fall vorbereitet. Heute geht es um…“

Die restlichen Worte gehen in ein Summen über. Wie von einem Bienenschwarm, der einen Ausgang sucht, aus meinem Kopf. Lebenslänglich. Halte ich das aus? Lebenslänglich? 

 „Es war der 23. Dezember, der Vorabend zu Weihnachten.“ 

Die Stimme hat jetzt etwas Sanftes, als würde der Mann seinen Kindern ein Märchen vorlesen. 

Eigentlich sollte man an einem solchen Tag zu Hause sein, Geschenke einpacken, den Baum schmücken und Weihnachtslieder singen. Genau das haben Erich Gassner und Kathrin Weiß getan. Bis bei beiden zeitgleich das Telefon läutete und sie zu einem Einsatz gerufen wurden.“

Verdammt gut inszeniert. Es sieht aus, als stünde der Moderator mitten auf der verschneiten Straße, die sich in engen Kurven vor ihm den Berg hinunter schlängelt, hinter ihm eine Ansammlung tief verschneiter Häuser, in deren Mitte die Kirche, dahinter hochaufragend, begrenzend, der Berg. Sehr realistisch das Ganze. Gefällt mir, obwohl ich diese reißerischen Reportagen eigentlich nicht mag. Und heute bin ich ein Teil davon, das Highlight, die Kirsche auf der Sahnetorte sozusagen. Da, der Mann deutet auf das Haus. 

 „Nachbarn hatten die Polizei alarmiert.“ Neben dem Moderator taucht ein älteres Paar auf. Sie hätten sich Sorgen gemacht , sagt die Frau, die Kinder vermisst, die sonst immer im Garten spielten, bei Wind und Wetter, und auch die Mutter hätten sie lange nicht mehr gesehen. Auf ihr Klingeln hatte niemand reagiert. Der Mann knetet seine Hände. Dann wären sie ums Haus herumgegangen. Ja, und da sahen sie, dass die Vorhänge geschlossen waren und dahinter das Licht brannte. Und der Briefkasten würde überquellen.“

Jetzt zeigen sie den Briefkasten, aus dem die Wochenblättchen herausschauen. Eindeutig, fast schon klischeehaft, aber wirkungsvoll. Aber ich war doch nicht so lange in dem … Ich erinnere mich nicht. Was habe ich denn da getan?  So lange…  Oh, da wird er eingeblendet, der Kommissar, der mich verhaftet hat. Gut sieht er aus. Braun gebrannt und smart, eher wie ein Skilehrer, als ein Polizeibeamter.

„Mein Name ist Erich Gassner, leitender Ermittler in dem vorliegenden Fall. Es war am 23. Dezember des letzten Jahres. Der Notruf ging um 14.30 Uhr ein. Eine dreiviertel Stunde später waren wir vor Ort. Wir, das sind meine Kollegin, Kathrin Weiß, und ich. 

Das erste, was mir auffiel, als wir vor der Haustüre standen, war die Stille. Nicht diese Stille, wie sie der Schnee hervorruft, der alle Geräusche in Watte packt.  Es war eine unheilvolle Stille, eine, die nicht da sein sollte in einem Haus, in dem drei Kinder wohnen.“

Er hat sie also auch wahrgenommen. Diese tödliche, wundervolle, befreiende Stille. So haben wir etwas gemeinsam, der Herr Kommissar und ich. Gerade noch kann ich das Kichern unterdrücken, das mir kitzelnd in die Kehle steigt. Wir haben etwas gemeinsam, obwohl wir an entgegengesetzten Polen leben. Meine Kopfhaut kribbelt. Sehe den Flur wieder vor mir, die Tür, die mit einem Knacken nachgab und sich einen Spalt öffnete. Auf meinem Stuhl sitzend, wartend, lange, auf das, was jetzt geschah. Durch das Oberlicht hatte sich ein Sonnenstrahl  hereingestohlen und tauchte alles in ein diffuses Licht. Eine perfekte Kulisse. Wie in einem Film. Muss mich konzentrieren. Bin gleich dran.

„Der Eingangsbereich machte einen unaufgeräumten, aber einladenden Eindruck.“ Wie unaufgeregt der Kommissar genau das ausspricht, was ich auch gedacht hatte. Einladend, lebendig. „An der Garderobe hingen Mäntel und Jacken in unterschiedlichen Größen und Farben. Davor lagen Schuhe. So, als wären sie einfach von den Füssen geschleudert worden. Die kleinsten waren pink. Es roch ungelüftet und nach Essen. Ich weiß noch, dass ich darüber nachdachte, wie froh ich war, dass es nicht nach etwas anderem roch. ,Vielleicht sind sie ja über die Feiertage zu ihrer Familie gefahren‘, sagte meine Kollegin und deutete auf eine Wand, die vollgehängt war mit Fotos. Die meisten zeigten drei blonde Mädchen. Mal mit einem Hund, mal am Meer, mit Eistüten in der Hand und verschmierten Mündern, mit Schultüten auf einer Blumenwiese…  Auf einigen wenigen war eine ebenfalls blonde Frau zu sehen. Sicher die Mutter. Obwohl sie selber noch wie ein Mädchen aussah mit ihrem Pferdeschwanz und dem verschmitzten Lächeln. Einen Vater schien es nicht zu geben, zumindest hier auf den Fotos nicht. Aber eine grauhaarige Frau gab es, mit strengen Gesichtszügen und einen ebenfalls grauhaarigen Mann, der das gleiche Lächeln hatte, wie die junge Frau.“

Das Kribbeln auf meiner Kopfhaut ist stärker geworden, bahnt sich langsam aber stetig seinen Weg über den Hinterkopf, bis es den Nacken erreicht.  Über meinem rechten Auge pulsiert ein Schmerz. Ich fange an, meine Schläfe zu massieren. Ganz leicht. Mit kreisenden Bewegungen. Manchmal hilft es. Auf dem Bildschirm erscheint eine Familie beim Frühstück, schöne Menschen in ihrer schönen heilen Welt. 

„Achtung, nach der Werbung sind Sie dran.“

Ok. jetzt geht es also gleich los. Wie fange ich an? Vielleicht erzähle ich die Geschichte einfach weiter, von dem Punkt aus, an dem der Kommissar aufgehört hat. Erzähle, wie seine Kollegin  ,Hier ist nichts‘  rief, und mich das irgendwie erleichterte. Aber es gab noch viele Räume, in denen sie nachschauen würden. Ob sie sich wunderten, dass alle Türen geschlossen waren? Bei drei Kindern. Ich  erinnerte mich daran, wie meine Schwestern und ich durchs Haus tobten. Da waren immer alle Türen offen gewesen. 

Ich könnte erzählen, wie sie mich fanden. In der Küche. Eine weiße Zeile mit einem Tresen davor und einer Arbeitsplatte aus dem gleichen Holz wie der Tisch, auf dem noch das benutzte Geschirr stand und allerhand Kleinkram. Hefte und Stifte, ein Becher Margarine mit einem Klecks Marmelade darin, das angebrochene Glas daneben, die Tageszeitung, ein Handy, eine Kiste mit Legosteinen. Zuerst würden sie sie sehen. Ihre Füße, die hinter dem Tresen hervorschauten, hinter dem ich auf meinem Stuhl saß. Nackte Füße, mit rot lackierten Nägeln, zart und klein. Bestimmt nicht mehr als Größe 36.  Sie lag da, als hätte sie jemand weggeworfen. Kein Blut. Keinerlei äußerlichen Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Sie lag auf der Seite, den Arm unter dem Kopf und mit geschlossenen Augen. 

Die Mädchen fanden sie dann auch noch. In ihren Betten. Auf dem Rücken und sorgsam zugedeckt, so als ob sie schliefen. Und vorher natürlich mich, auf dem Stuhl sitzend, auf den ich  mich fallen ließ, danach und wartete, darauf, dass endlich alles vorbei war.

„Drei, zwei, eins. Sprechen Sie jetzt:“

Ich zucke zusammen, räuspere mich. Hoffentlich zittert meine Stimme nicht so wie meine Hände.

Guten Tag, sage ich, mein Name ist Gregor Steinmann, 49 Jahre alt und vor meiner Inhaftierung Abteilungsleiter bei einer der großen Krankenkassen. Man hat mich … Also, ja, man hat mich veranlasst…. Sagt man so? Ich weiß es nicht. Spreche wenig. Denke im Kreis. Immer dasselbe. Ich  soll von mir erzählen, haben sie mir gesagt, wie es dazu kam, zu dem allem, warum ich hier bin. Warum ich hier bin und hier bleiben werde, lebenslang. Das wollen sie wissen. Einen Grund dafür finden, für das, was ich getan habe. Damit sie es verhindern können, in Zukunft, alles kontrollieren können. Damit sie keine Angst mehr haben müssen in der Nacht, wenn es sich heranschleicht, das Böse, lautlos, wie ein Rudel Wölfe, sich auf sie stürzt, sie angreift, von allen Seiten. In der Nacht, wenn ihre Regeln nicht gelten, nicht helfen gegen das alles. 

Über mein Elternhaus soll ich sprechen, die Kindheit. Lächerlich. Bin seit 30 Jahren weg, lebe mein eigenes Leben, treffe meine eigenen Entscheidungen. 

Immer wieder haben sie gefragt: warum? Warum hast du das getan? Warum diese junge Frau? Warum diese Kinder?

Ich hatte auch einmal eine Familie. Frau, zwei Kinder, einen Hund, ein Einfamilienreihenhaus am Stadtrand. Mitglied im Gemeinderat und im Kirchenchor. Meine Frau spielte die Orgel und organisierte die Bücherei. Alles so, wie es sich gehört. Sonntag zur Messe, danach zur Schwiegermutter zum Mittagessen. Eine richtige Familie halt, die jetzt nichts mehr von mir wissen will. Was ich verstehen kann. 

Warum tötet ein Mensch? Muss es ja auch können, das Töten und all das andere. Warum überschreitet er plötzlich diese Grenze, vor der er schon oft gestanden hat? Vielleicht, weil es dann so still wird, um ihn und in ihm. Ich habe viel Zeit, über sowas nachzudenken. 

Ich kannte sie nicht einmal, die Frau und die Kinder. Es ist einfacher, wenn man sie nicht kennt.“

Version 3

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