Von Ingo Pietsch

Oksana holte tief Luft. Jeder Tag begann mit dem gleichen Kampf mit ihrer 16-jährigen Tochter.

Ohne Vorwarnung riss Oksana die Zimmertür auf, stelzte über die Klamotten, die auf dem Boden lagen und zog das Rollo nach oben.

„Es ist Viertel vor sieben! Los, aufstehen, du kommst zu spät zur Schule!“

Mit verzogenem Gesicht verschwand Natalie unter ihrer Bettdecke. „Lass miesch!“, äffte sie ihre Mutter nach, die auch  nach zwanzig Jahren in Deutschland die Vokale falsch betonte und das R zu sehr rollte.

Oksana machte eine Grimasse, die Natalie aber nicht sehen konnte.

„Nie kann man ausschlafen“, kam es gedämpft durch die Bettdecke.

„Ich habe schon die Wäsche gemacht und die Spülmaschine ausgeräumt, was eigentlich deine Aufgabe gewesen war.“ Oksana hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ihr Schatten lag drohend über dem Bett.

„Deine Schwester ist schon fertig, das Badezimmer also frei. Du hast jede Menge Zeit, dich fertig zu machen. Nimm dir mal ein Beispiel an ihr.“

Natalie zuckte zusammen. Miriam hier, Miriam da. Nur weil diese bessere Noten in der Schule hatte und sich ständig bei ihrer Mutter einschleimte, verbarg sie trotzdem so manches Geheimnis, dass Natalie aber für sich behielt, um ihrer Schwester irgendwann mal so richtig eins auszuwischen.

„Hat deine Mutter dich morgens auch immer so gequält?“, Natalie wusste, dass das ein wunder Punkt in Oksanas Vergangenheit war. Die Kindheit, die Jugend und auch die Zeit danach, als sie nach Deutschland gekommen war. Sie redete so gut wie nie darüber, weil sie es ihren Kindern ersparen wollte. Und eigentlich machte sie als Mutter alles richtig, nur heute Morgen wieder nicht. Da war sie das Monster, das alle quälte.

Oksana kehrte gedanklich in die Gegenwart zurück. Mit einem Ruck flog die Bettdecke zu Boden und das Smartphone ihrer Tochter gleich mit. Zum Glück landete es auf dem weichen Bettvorleger.

Oksana hatte ein schlechtes Gewissen und wollte sich bei ihrer Tochter entschuldigen. Doch Natalie kam ihr zuvor.

„Sag mal, spinnst du? Da sind alle  meine Fotos und Videos drauf!“ Natalie griff danach, doch ihre Mutter war schneller.

„Das bekommst du wieder, wenn du angezogen bist.“

Natalie war aufgesprungen und stand vor Wut zitternd vor ihrer Mutter. Sie war einen Kopf größer als sie und auch deutlich kräftiger. Das hatte sie von ihrem Vater. Den Arm angewinkelt und die flache Hand ausgestreckt.

Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen, mit einem Gesichtsausdruck, der jeden Moment einen Schlag erwartete. Nicht nur diesen einen Schlag, sondern dass sie schon unzählige andere Schläge hatte ertragen müssen.

Natalie biss die Zähne zusammen, knurrte dabei und warf sich eingewickelt in ihre Decke wieder ins Bett.

Egal wie sauer ihre Mutter auf sie gewesen war, trotzdem hatte sie sie niemals geschlagen.

Ständig mäkelte Oksana an Natalie herum, denn sie wollte nur ihr Bestes.

Doch die sah das anders. Sie durfte nicht so lange wegbleiben, wie sie wollte und auch nicht auf jedes Treffen mit ihren Freunden. Diese blöden Familienregeln!

Oksana öffnete die Augen wieder, als sie das Rascheln der Bettdecke hörte.

„Stehst du immer noch nicht auf?“, fragte sie völlig ruhig, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals schlug. „In einer halben Stunde fährt der Bus los!“

„Ich habe meine Erdbeerwoche!“ Natalie war kaum zu hören.

Oksana starrte in die Luft und dachte nach.

Als wenn Natalie die Gedankengänge gehört hätte, ergänzte sie: „Meine Freundin ist zu Besuch.“

Vorsichtig lugte sie unter der Decke hervor und beobachtete ihre Mutter, wie sie sich immer umsah. Jungenbesuch war sowieso verboten und wenn doch, dann nur mit offener Zimmertür. Noch so eine blöde Regel.

„Oh Mama, ich habe meine Tage!“, löste sie das Rätsel auf.

Oksana hatte auch mit deutschen Redewendungen so ihre Schwierigkeiten.

Tatsächlich machte Oksana jetzt ein freundliches Gesicht: „Soll ich dir eine Entschuldigung …“, begann sie, als ihr Blick auf Natalies rechtes Handgelenk fiel. Darauf war ein kleines blaues Herz zu sehen.

Augenblick bekam Oksana Zornfalten auf der Stirn und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.

Sie packte Natalie grob am Arm und fragte, mit für sie viel zu tiefer Stimme: „Was ist das?“

„Ich bin 16! Und es ist mein Körper!“ Natalie sah ihre Mutter ängstlich an. So wütend hatte sie sie schon lange nicht mehr erlebt.

Oksana ließ Natalies Arm wieder los, ging einen Schritt zurück und verschränkte ihre Arme. „Braucht man dazu nicht eine Einverständniserklärung der Eltern?“

„Äh, ja“, antworte Natalie zögernd.

Ihre Mutter winkte ab: „Hast du sonst noch irgendwas, von dem ich wissen sollte, falls du mal einen Unfall haben solltest?“

Natalie erschauderte. War das eine echte Frage gewesen oder eine Drohung? Natalies Blick wanderte ihren Körper hinunter bis zu den Füßen.

Oksana deutete das als Ja. „Ich will es gar nicht wissen.“ Sie schüttelte den Kopf.

Miriam erschien in der Tür: „Mamoolychka, kannst du mir bitte meine Deutsch-Klausur noch unterschreiben?“

Oksana steckte das Handy in ihre Gesäßtasche. „Das bekommst du wieder, wenn du von der Schule zurück bist“, sagte sie zu Natalie gewandt.

„Oh, 13 Punkte. Natalie, nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester. Hast du irgendwo in diesem Saustall einen Kugelschreiber liegen?“

Ehe Natalie einen suchen konnte, zauberte ihre Schwester einen quasi aus dem Nichts.

„Wir gehen nachher Eis essen, ohne deine Schwester!“

Oksana verließ das Zimmer und Miriam streckte ihre Zunge heraus.

Natalie rief ihrer Mutter hinter: „Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärst bei Papa! Und du auch!“

Miriam standen die Tränen in den Augen. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie noch ganz klein gewesen war. Sie konnte sich kaum an ihn erinnern.

Oksana kam ins Zimmer zurück: „In fünf Minuten bist du verschwunden!“ Sie war kurz vorm Explodieren.

 

Oksana arbeitete halbtags in einem Supermarkt und hatte heute frei.

War sie wirklich eine so schlechte Mutter?

Sie fragte sich, ob es an ihr lag, aber dann kam sie zu der Erkenntnis, dass Natalie eine ganz normale sechszehnjährige war, die ihren eigenen Weg finden musste. Sie konnte sie dabei nur unterstützen. Sie musste ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen. Egal, wie viel Oksana ihre Tochter auch beschützen wollte, sie musste loslassen. Beide mussten loslassen.

Ob Natalie noch mehr Tattoos hatte?

Sie schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihre Hausarbeit. Sie selber hatte auch Tätowierungen, aber wahrscheinlich aus ganz anderen Gründen, als ihre Tochter.

Spätestens, als die den Holzlöffel beim Umrühren der Bratkartoffeln in der Pfanne zerbrach, merkte sie, dass sie ihren Kopf freibekommen musste.

Sie ging in den nahegelegenen Park, setzte sich auf eine Bank und ließ sich von der Sonne wärmen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass schon eine ganze Zeit lang in weiter Ferne Sirenen von Rettungsfahrzeugen zu hören waren.

Sie dachte sich aber nichts dabei und entspannte sich noch eine Weile, ehe sie wieder nach Hause ging.

 

Gegen Nachmittag hörte Oksana, wie der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hektisch gedreht wurde. Sie ging in den Flur und die Tür knallte an die Wand.

Natalie stürmte herein und fiel ihrer Mutter um den Hals.

Oksana konnte sich den plötzlichen Sinneswandel ihre Tochter nicht erklären.

„Es war so furchtbar. Erst dachte ich, Tanja wäre spät dran, dann kam sie aber gar nicht in die Schule und reagierte auch nicht auf Nachrichten.“

Tanja war Natalies beste Freundin.

„Jetzt erzähl mal ganz in Ruhe, was passiert ist.“

Natalie war ganz aufgelöst: „Tanja hatte verschlafen und musste den nächsten Bus nehmen. Dann gab es in einer Baustelle einen schlimmen Unfall und jetzt liegt sie im Krankenhaus. Aber ihr geht es gut. Wenn du mich nicht so bedrängt hättest, hätte ich wahrscheinlich auch in dem Bus gesessen.“

„Ist Miriam auch bei dir gewesen?“

„Was ist mit mir?“, fragte Miriam völlig außer Atem. Sie war die Treppen ebenfalls nach oben gerannt.

„Es tut mir leid, dass ich heute Morgen so wütend auf dich war“, Oksana schloss ihre Töchter in eine Umarmung. „Lasst uns den Tag einfach neu starten. Und dann gehen wir alle zusammen Eis essen und dann besuchen wir noch Tanja.“

Miriam begann zu schmollen, hatte sie sich doch auf einen Nachmittag ohne ihre Schwester gefreut und Natalie sagte langsam: „Und wegen dem Piercing …“

Oksana versuchte ihren Ärger hektisch durch die Nase wegzuatmen und erwiderte mit zusammengebissen Zähnen: „Darüber reden wir ein anderes Mal.“

 

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