Von Ursula Kollasch

»Sieht schlimm aus hier. Du solltest aufräumen«, sage ich, das Chaos in der Einzimmerwohnung musternd.
Sie zieht das verwaschene Nachthemd über der Brust zusammen und bleibt stumm vor mir stehen. Der Mund in dem bleichen Gesicht bewegt sich. Auf und zu, als wäre sie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Ich helfe dir dabei«, setze ich hinzu, um ihr Antrieb zu geben.
Die Augen mit den Tränensäcken glotzen mich an, stumpf und farblos wie die eines Kraken. Offenbaren Leere. Wenn sie so guckt, hat sie etwas Unheimliches. 
Sie ist ein Wrack, flüstert eine bösartige Stimme in meinem Kopf.
Es sticht mir ins Herz, darum schaue ich an ihr vorbei aus dem Fenster, hinunter in den tristen Innenhof zwischen den Wohnblöcken.
Ich will sie lieber in Erinnerung behalten, wie sie früher aussah. Verdränge auch den Gedanken daran, was ihr widerfahren ist und so zusetzte.
»Hörst du, Moira?«, frage ich, weil sie nicht antwortet, und wende mich ihr wieder zu. Gleichzeitig geht mir durch den Sinn: Muss sie überhaupt saubermachen? Sie bekommt nie Besuch. Außer von mir.
Oh, habe ich das etwa laut gedacht?
Denn sie schüttelt den Kopf, ihr Mund flirtet mit einem Lächeln, das sich in ein Grinsen verwandelt und Leben in ihren Blick zaubert. Als ob in düsterer Nacht ein Licht entzündet wird. Ein Muskel zuckt unterm rechten Krakenauge.
»Ich bin nicht allein«, flüstert sie, tappt los und lässt sich vor der Küchenzeile auf einen Stuhl sinken.
Angewidert betrachte ich die Geschirrberge mit Essensresten. Leere Dosen und Plastikschalen von Fertiggerichten, über die Fliegen krabbeln. Es riecht übel. Sie sollte lüften.
Mit spitzen Fingern hebe ich ein Stück Pizza vom Boden auf, um es in den Mülleimer zu werfen. Der Metalldeckel scheppert zu laut in der totenstillen Wohnung, in der einzig das Summen der Insekten zu hören ist.
Mit einem Mal spüre ich den Keim der Verzweiflung in meinem Bauch, presse eine Hand darauf. Er darf nicht wachsen!
Ich verleihe meiner Stimme einen munteren Klang, damit sie den Ekel nicht bemerkt.
»Wir können später aufräumen. Zuerst suchst du aus, was wir heute Schönes kochen, ja? Dann gehe ich einkaufen.«
Sie nimmt Zettel und Stift und beginnt zu schreiben. Ich lese Haarwachs und Fön.
»Und das Essen? Gönn‘ dir mal was Feines!«
Moira überlegt. »Meeresfrüchte-Salat, den mag ich!«, sagt sie dann. »Dazu Perlwein. Zum Dessert ein Eis mit Sahne.«
Sie notiert Gambas, Avocado, Sekt, Sprühsahne auf der Liste und legt den Stift beiseite.
Die anderen Zutaten hat sie demnach. 
Als ich nach dem Zettel greife, zerfetzt das Schrillen der Türglocke die Stille.
Sie zuckt zusammen. Erstarrt. Ich höre sie die Atemluft einsaugen, die Raumtemperatur scheint um einige Grad zu fallen.
Wer ist das?
Sie hat Angst, und sie weiß, dass ich es weiß. Ich kann ihren Schweiß riechen. Meine Güte, es ist nachmittags, und sie schleicht im Nachthemd herum!
»Zieh dich um, vielleicht will jemand zu dir«, raune ich, zur Tür eilend, und drücke auf die Gegensprechanlage.
»Hallo?«
»Edeka Noll, Lieferservice.«
Erleichterung. Kein Besuch für Moira.
Doch das Misstrauen kehrt zurück.
»Was liefern Sie denn?«
»Wella Haarwachs, Braun-Fön, Gambas, Avocado, Mumm-Sekt, Klee-Sprühsahne«, liest der Bote vor. »Online bezahlt.«
Bitte? Wieso soll ich exakt das noch mal kaufen?
Erstaunt muss ich mich kurz sammeln. »Legen Sie es unten ins Treppenhaus«, sage ich dann und presse den Summer, der die Eingangstür öffnet. Durch den Hörer vernehme ich, wie der Bote meiner Anweisung folgt. Als die Tür wieder zugefallen ist, lehne ich mich an die Wand. Aus dem Augenwinkel sehe ich Moira neben mir stehen.
Sie bebt und schnauft.
Hat sich nicht umgezogen.
Himmelherrgott! Wie sie sich gehen lässt, wie die Wohnung verkommt!
Das macht mich wütend. Sehr wütend. Ich spüre, wie sich meine Haut vor Zorn zusammenzieht und ich die Zähne zu fest aufeinanderbeiße.
Ich hole aus und schlage ihr die Faust mitten in die Visage.
Sie zersplittert in hundert Teile. Auf dem Boden verstreut glotzen mich viele Moiras an, voller Entsetzen. Erkennen.
Blut tropft auf einige der Gesichter. Aus dem Schnitt in meiner Hand, bis ich endlich einen Zipfel des Nachthemds darum wickele.
Weitere sieben Jahre Unglück, so sagt man doch, oder?

Wir sind wieder eins.
Wenn wir zusammenwachsen, wenn mir bewusstwird, dass ich die alternde, einsame Person bin, die in dieser Dreckhöhle lebt, muss ich mich beruhigen.
Die Scherben des Flurspiegels lasse ich liegen, verarzte erst einmal meine Hand. Danach setze ich mich an den Küchentisch, ziehe die Lade auf und nehme das schwarze Heft heraus. Streiche mit den Fingern darüber. Zärtlich.
Hier sind sie. Meine Menschen. Zu deren Leben ich gehöre.
Ordentlich notiert, mit Ort, Datum und Uhrzeit.
Angefangen hatte es damit, dass ich auf Spaziergängen wildfremde Leute herzlich grüßte.
»Guten Tag! Lange nicht gesehen«, begleitet von einem höflichen Nicken bei den Älteren.
Ein »Hey, wie geht’s?« in Richtung der Jüngeren. Manche grüßten – sichtlich verwirrt – zurück. Ich stellte mir vor, wie sie grübelten, wer ich bin. Vielleicht erzählten sie es abends ihren Partnern oder Eltern: »Heute hat mich eine dunkelhaarige Frau nett angesprochen. Mir fällt nicht ein, woher ich sie kenne.«
Das war ein befriedigendes Gefühl. Doch es hielt nicht an.
Meine Anwesenheit in diesen Gehirnen währte zu kurz. Ich musste tieferen Eindruck hinterlassen.
Darum ging ich durch verschiedene Stadtviertel, hielt Ausschau nach Harmlosen, mir physisch Unterlegenen, die allein unterwegs waren, um ihnen im Vorbeigehen fest in die Rippen oder den Bauch zu boxen.
»Au! Was soll das?« und Ähnliches riefen sie, entrüstet stehenbleibend. Oder auf dem Boden liegend, wie die alte Frau vor ein paar Wochen.
Ich schlenderte lächelnd weiter.
Diesmal würden sie länger an mich denken. Ein blauer Fleck in der Seite – von mir. Empörte Gespräche – über mich. Auch in späteren Jahren immer wieder als Anekdote gut.
Ein kleiner, aber bleibender Platz im Bewusstsein dieser Leute war mir gewiss.
Ich bin nicht bedeutungslos und allein – oh, nein! Ich bin unter ihnen, in ihnen.
Allerdings bei den meisten noch nicht fest eingebrannt. Wie ich es mir wünsche.
Ich lese weiter und spüre mein Lächeln in den Wangen.
Benny. Ein Junge, etwa sechs oder sieben. Vor einer Woche kam er mir mittags entgegen, einen Schulranzen auf dem Rücken, allein. Ich sprach ihn an.
»He Kleiner, wie heißt du noch?«
Er zögerte. Rede nicht mit Fremden, sah ich die Eltern mit erhobenem Zeigefinger in seiner Miene und schenkte ihm das Gouvernantenlächeln. Mein Blick eine Mischung aus Güte und Strenge, zu der Kinder wie Alte stets Zutrauen fassen. Auch er hielt mir nicht Stand.
»Benny«, antwortete er leise.
»Stimmt. Ich kenne deine Eltern.«
Nun verlieh ich meinen Zügen einen ernsten Ausdruck, mitleidiges Bedauern – das hatte ich vor dem Spiegel bis zur Perfektion geübt.
»Es ist so traurig, aber ich muss dir sagen: Deine Mama ist tot.«
Wie er die Augen aufriss und erbleichte!
»Nein! Das stimmt nicht!«
»Doch, sie ist tot!«
Er schrie und weinte, wich vor mir zurück.
Als ich weitereilte, schluchzte und heulte er immer noch. Ein finaler Schulterblick zeigte mir sein Leid, bevor ich in einer Seitenstraße verschwand. Es scharten sich bereits Leute um ihn.
Nein, Benny wird mich sicher nicht vergessen. Bei ihm habe ich einen festen Platz im Gehirn.
Auch wenn die Mami gar nicht tot ist.
Den letzten Eintrag lesend blinzele ich und Kälte breitet sich in meinem Bauch aus. Als hätte jemand Eiswürfel hineingelegt. Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, während sie schmelzen.
Daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht.
An die Sache mit Lena.
Vor drei Tagen fiel sie mir auf, als sie den Kinderwagen durch die Einkaufsmeile der Nachbarstadt schob. Ich fragte sie nach dem Weg zum Café Prinz.
Sie meinte, sie ginge in dieselbe Richtung, ich könne sie begleiten. Wir plauderten, sie stellte sich als Lena und ihre Tochter als Maria vor. Ich gab zurück, ich sei Magda  – kleines Wortspiel, das sie nicht verstand. Beim Lokal angelangt waren wir uns so sympathisch, dass ich sie einlud, mit hineinzukommen.
Ich bestellte Tee und Torte, bezahlte sofort.
Einige Zeit später saß das Baby auf meinem Schoß, ein süßer Fratz. Seine junge Mutter suchte die Toilette auf …
Ich schließe das Heft, schlucke. Presse meine Finger auf die Lider und atme mehrmals durch. Das Pochen meines Herzens dröhnt mir in den Ohren.
Als ich mich wieder im Griff habe, gönne ich mir eine Dusche, kleide mich stadtfein und schminke mich, bevor ich die Abstellkammer öffne.
Ich erschauere, als mich die Schatten darin umschließen, fixiere das Bündel auf dem Boden.
Zur Beruhigung summe ich eine Melodie, bis ich es aufhebe und die Decke zur Seite schlage. Eine Weile blicke ich in das kleine, starre Gesicht. Dann reiße ich den Klebestreifen von dem winzigen, kalten Mund.
»Komm, wir beide gehen jetzt ein bisschen spazieren.«

Es ist wieder Zeit.
Mich jemandem für den Rest seines Lebens in die Seele zu stanzen.
Es gibt Menschen, in deren Gehirnen ich festsitze wie eine Zecke.
Nein, der Vergleich mit dem Kraken gefällt mir besser.
Denn ich bin schlau, eine Meisterin der Tarnung und Anpassung und habe überall Arme, die ich nach ihnen ausstrecke. Tastend. Sie berührend. Umschlingend.
Manche Seelen packe ich und verleibe sie mir ein.
Sie denken an mich. Ich bin immer unter ihnen. In ihnen.
Nicht nur in Lena, die mich niemals vergessen wird.
Nein, ich bin schon in vielen Menschen.
Und es werden mehr. Heute noch.

In Mantel und Kopftuch verlasse ich die Wohnung. Mit dem Bündel in einer Tüte, ich will es in einen entlegenen Altkleidercontainer werfen.
Unten stoße ich auf die Lieferung von Noll. Mist, die Gambas gehörten längst gekühlt!
Ich ergreife den Karton, haste die Stufen wieder hoch und schließe die Tür auf.
Beim Eintreten knirscht es unter meinen Füßen. Blutige Scherben!
Meine Augen weiten sich. Ich versteinere und halte den Atem an.
Gott, was ist passiert?! Wie es hier aussieht!
»Moira …bist du okay? Du musst dringend aufräumen!«

 

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