Von Björn D. Neumann

11:00 Uhr

Tauben heben sich spiralförmig in den Himmel, verscheucht von Egon Kowallek. Konzentriert fährt er mit seinem Aufsitzmäher das rechteckige Grün ab. Die Sonne strahlt, es riecht nach Frühling und frischem Gras. Immer wieder, wenn seine Fahrt Richtung Süden geht, blickt er dem Bauwerk mit den unzähligen Betonstufen entgegen. Ein imposanter Anblick einer spröden Schönheit, die sich schon in wenigen Stunden auf magische Weise in ein waberndes Farbenmeer verwandeln wird. Egon genießt das monotone Motorengeräusch seines Gefährts, das ihn fast in Trance versetzt und seine Gedanken schweben lässt. Seine Tagträume versetzen ihn zurück in seine Jugend, als ihm Talent prophezeit wurde, auf dem Rasen zu tanzen, den er jetzt hegt und pflegt. Ein Autounfall und die daraus resultierende Knie-OP ließen diese Träume zerbersten. Dennoch ist er glücklich, seiner Liebe so nah zu sein.

12:30 Uhr

Der Personaleingang wird geöffnet. Jutta quetscht sich durch das schmale Eisentor. Die Rollläden der Verkaufsbuden werden ratternd hochgezogen. Jutta fährt das Kassensystem hoch. Es riecht nach Bier und altem Bratfett. Bald werden die Eingangstore geöffnet und die Massen schieben sich durch die Gänge. Wie gerne würde sie einfach auch mal als Besucher hier sein. Mit Tim, ihrem 8-jährigen Sohn, der sich nichts sehnlicher wünscht. Aber der schmale Lohn einer Aushilfskraft reicht gerade zum Überleben, aber nicht zur Erfüllung von Träumen. Auch wenn man ihnen so nah ist. 

13:00 Uhr

„Ihr steht an den Aufgängen von 10 und 11. Tom und Karsten übernehmen Block Drölf und Jens und Katrin 14 und 15. Denkt dran – für jeden nur ein Pappschild. Sagt dazu, dass die Tafeln erst beim Einlauf auf Zeichen des Vorsängers hochgehalten werden und dass jeder und auch wirklich jeder mitmachen soll.“

„Alles klar, hoffen wir mal, dass auch die Eventies und Touristen mitziehen!“, unkt Karsten.

„Erklärt es halt jedem vernünftig. Sind die Bilder schon auf der Tribüne?“

„Jawollo! Und hängen schon an den Befestigungen. Von uns aus kann es losgehen.“

„OK. Mit der Regie ist auch abgesprochen, welches Lied heute zum Einlauf gespielt wird. Es sollte also nichts schiefgehen. Auf geht’s, Leute!“

14:00 Uhr

„Haste den Rasen auch gut gemäht, Egon? Nicht, dass Julchen gleich übern Grashalm stolpert?“ Karl haut mit seiner Pranke seinem Freund Egon auf die Schulter. Der hat inzwischen Blaumann gegen Kutte getauscht. Die alte, ausgefranste Jeansjacke ist mit unzähligen schwarzgelben Aufnähern übersät. Beide stehen in der Schlange am Eingang und warten darauf, abgetastet zu werden, bevor sie mit ihren Karten das Drehkreuz freigeben und den Tempel betreten. Nachdem sie die Stufen auf die erste Ebene erklommen haben, steuern sie die Verpflegungsstelle an.

„Ersma ein Pilsken, oder?“, fragt Egon seinen Kumpel.

„Na, sicher. Jutta, mach‘ ma ne Herren-Handtasche fertig. Schomma auf Vorrat. Und wie sehen die Würstkes aus?“

„Also ich würde bis zur Halbzeit warten. Sind noch reichlich blass um die Nase“, gibt Jutta den Tipp, während sie gleichzeitig sechs Becher Bier in das Tragebehältnis aus Pappe steckt. „Macht dann 29,40 €.“

„Ich wollt‘ die Bude nicht kaufen …“, scherzt Karl.

„Lass‘ dir mal ‘nen neuen Scherz einfallen und leg‘ die Karte auf den Scanner. Ich mach‘ die Preise nicht.“

„Iss ja gut.“ Karl legt seine Debitkarte auf den Scanner und schiebt Jutta eine 2-€-Münze zu. 

„Dank‘ dir. Und getz macht, dass ihr auf die Tribüne kommt.“

Beide erklimmen die letzten Stufen zum Eingang „ihres“ Blocks. Dort erwartet sie ein junger Kerl im schwarzen Hoodie. Er hält ihnen eine Papptafel entgegen. „Hier. Beim Einlaufen müsst ihr die hochhalten.“

„Soso, müssen wir“, brummt Egon, der trotzdem die Pappe entgegennimmt und zu „seinem“ Platz stapft. „Spielen sich auf, als hätten die das Fan-Sein erfunden, diese Ultras. Ich bin schon auf Auswärts gefahren, da sind die noch mit dem Dreirad ummen …“

„Reg‘ dich ab!“, wird er von Karl unterbrochen. „Die machen schon viel für den Verein. Und solche Choreos gab’s früher nicht.“

„Jaja, schon gut. Trotzdem spielen die sich auf.“

Minütlich wird die Tribüne voller. Bekannte und Freunde, die man nur alle zwei Wochen zu Gesicht bekommt, stellen sich dazu. Es wird angestoßen, gequatscht, gelacht. Jeder kennt die perfekte Aufstellung und wäre sowieso besser als der Trainer.

14:45 Uhr

Junior Silva sitzt vor seinem Spind. Über große ‚Mickymaus‘-Kopfhörer lässt er sich von Rap-Musik berieseln. Momentan ist er in seiner eigenen Welt. Die Mannschaft macht sich bereit zum Aufwärmen. Er nimmt die Kopfhörer ab und folgt seinen Mannschaftskameraden durch den schmalen Spielertunnel. Das gewohnte Klacken der Stollen auf dem Linoleum-Boden wird untermalt von der Kulisse des Stadions. Das Stimmengewirr von 80.000 Zuschauern dröhnt wie ein riesiger Bienenschwarm. In dem Moment, in dem die Mannschaft den Rasen betritt, erklingt aus den Lautsprechern der Triumphmarsch aus Aida. Das Dröhnen verwandelt sich in einen riesengroßen Chor, der die Musik mit einem ohrenbetäubenden Shalala-Gesang übertönt. Die Menschen auf allen Tribünen schwenken dazu ihre Schals über den Köpfen. Junior bekommt jedes Mal eine Gänsehaut. Im Vollsprint läuft er auf die Südtribüne, dem Epizentrum des Stadions, zu, bremst ab und klatscht dem Publikum Applaus. Für den einstmals kleinen Jungen aus den Favelas Rio de Janeiros ist dieses Glücksgefühl immer noch unfassbar. Ein wenig wird er es schon vermissen, wenn er nächste Saison zu Real Madrid wechselt. Aber so ist das Business.

15:28 Uhr

Egon brüllt ein langgezogenes „Silvaaaaa“, als Antwort auf das „Junior“ des Stadionsprechers. Karl stuppst ihn in die Rippen. „Meinste, der bleibt?“

„Na klar. Der hat doch gesacht, dass hier sein Herzensverein ist.“

„Hat der Götze auch.“

„Ach was. Schnee von gestern. So, jetzt hoch mit den Tafeln.“

Der Kapo gibt über ein Megaphon das Signal an die Tribüne. 

„Ey, du Schönwetter-Fan. Nimm gefälligst dein Scheiß-Smartphone runter und mach mit!“, brüllt Egon einen Zuschauer zwei Reihen unter ihm an, der lieber die Choreo filmt, als sich daran zu beteiligen. Mittlerweile halten alle die grauen Pappschilder gen Himmel. Gleichzeitig werden Stoffbahnen in Form überdimensional großer Geländer, der Wellenbrecher, hochgezogen. Die eben noch schwarzgelbe, wabernde Masse verwandelt sich so in das Bild einer leeren Tribüne. Aus den Lautsprechern erklingt der Text einer BVB-Hymne.

In Dortmund gibt’s ein Phänomen

Dass alle Menschen hinter der Borussia steh‘n

Hier geht man schon aus Tradition

Zu jedem Spiel ins Stadion

Gleichzeitig ziehen die Ultras in der Mitte der Tribüne das Bild eines Mannes im BVB-Trikot, der mit seinem Sohn im Arm an einem der Wellenbrecher steht.

Als Kind bin ich mit meinem Vater gekommen

Und der wurd‘ schon von seinem mitgenommen

Diese Textzeile erschallt nun durch die Lautsprecher und wird gleichzeitig als Spruchband hochgezogen. Im nächsten Augenblick fällt das ganze Stadion in den Refrain ein:

Booorussiaaa! Booorussiaaa!

15:30 Uhr

„Loddar, was sagst du dazu?“, fragt der Moderator am Spielfeldrand den Experten und ehemaligen Nationalspieler.

„Das ist einmalig. Das sind Fans, um die der BVB in der ganzen Welt beneidet wird. Und die Choreo, die die heute wieder abgeliefert haben – das ist schon ganz große Kunst.“

„Danke, Loddar! Dem kann ich nur zustimmen. Aber jetzt zum Kommentator. Buschi, leg‘ los!“

„Danke! Und schon geht es los. Junior Silva stößt an.“

18:30 Uhr

Jutta lässt die Rollläden des Getränkestands runter. Die letzten Besucher haben das Stadion verlassen. Jutta kramt in ihrer Handtasche nach Kippen und Feuerzeug. Steckt sich eine Kippe an und geht Richtung Ausgang, als sie eine Person durch die Katakomben Richtung Parkplatz gehen sieht. Die Person trägt Trainingsanzug, Kopfhörer und Sonnenbrille. Es ist Junior Silva. Jutta schmeißt die Zigarette zu Boden. Rennt dem Spieler hinterher. Aus der Handtasche zieht sie ein gelbes Stück Stoff und einen Filzschreiber. „Entschuldigung. Könnte ich bitte ein Autogramm auf das Trikot für meinen Sohn haben?“ Ohne sie direkt anzusehen, winkt Silva mit einer abwehrenden Handbewegung ab und verschwindet in der Garage.

18:35 Uhr

Auf den Tribünen dröhnen die Laubbläser. Papierschnipsel, Pilskragen und Becher werden von den Rängen gewirbelt. Wo eben noch Leben pulsierte, über 80.000 Menschen eine bunte, laute, wabernde Masse bildeten, herrscht wieder die nüchterne Architektur aus Stahl und Beton.
Bis in zwei Wochen.
Bis dem Kunstwerk wieder Leben eingehaucht wird.

 

Version 1 / 8.413 Zeichen