Von Ursula Kollasch

Der meisterhaft gearbeitete Anhänger an der Goldkette lag schwer in seiner Hand.
„Sehr schön“, sagte Jamie, den funkelnden Diamanten betrachtend.
Der alte Juwelier lächelte. „Ja, ein Unikat, wahre Goldschmiede-Kunst.“
„Wie viel?“
„Der Preis beträgt dreißigtausend Pfund.“
„Stolze Summe!“, entfuhr es Jamie.
„Aber mehr als angemessen“, erwiderte Mr. Jones weiter lächelnd. „725er Gold. Der Stein hat sieben Karat, fast lupenrein. Das Stück stammt aus dem Nachlass des kürzlich verstorbenen Lord Dunbar. Sagt Ihnen der Name etwas?“
Jamie schüttelte den blonden Kopf. Der Alte beugte sich ein wenig vor und senkte die Stimme, obwohl sie allein im Verkaufsraum waren.
„Das Folgende verrate ich Ihnen nur, weil Sie ein so angenehmer, junger Mann sind, Sir, und ein Geschenk für Ihre zukünftige Frau kaufen möchten. Lord Dunbars Erbin will die Kette unbedingt loswerden, weil angeblich ein Fluch auf ihr liegt. Ich glaube ja nicht an solchen Humbug, aber die Lady. Sie erzählte, dass dieses Schmuckstück seit Generationen in Familienbesitz ist.
1840 ließ der damalige Lord es anfertigen, für seine Tochter Violet zu deren Verlobung. Aber kurz darauf verliebte sie sich in einen mittellosen Tunichtgut, brannte mit ihm durch. Als die Familie sie heimholte und zwang, den für sie gewählten Mann zu heiraten, beging Violet Selbstmord.
Sie lag in der Badewanne, mit aufgeschnittenen Pulsadern, das Collier um den Hals. Mit ihrem Blut hatte sie an die Wand geschrieben: Seid verflucht mitsamt der verdammten Kette!
Jamie unterdrückte einen genervten Laut und schaute den Alten weiter Interesse heuchelnd aus seinen hellblauen Augen an. Der fuhr fort:
„Fünfzig Jahre später wurde das Schmuckstück einer Nichte zur Konfirmation geschenkt. Während der Familienfeier auf dem Anwesen trug sie es, erst am frühen Abend fiel ihr Verschwinden auf. Sie fanden das Mädchen im Teich treibend, ertrunken. Nun, danach gab es noch weitere Vorfälle. Ein Dienstmädchen stahl die Kette, doch es kam nicht weit. Als die Frau in der besagten Nacht über den schmiedeeisernen Zaun kletterte, rutschte sie wohl ab und die dolchartigen Zierspitzen spießten sie auf …“
Mr. Jones bemerkte nun selbst, dass er abschweifte und räusperte sich.
„Verzeihung, ich fasele. Was ich damit sagen wollte: Eigentlich ist die Kette über vierzigtausend wert, aber in Ihrem Fall ist es mir recht, wenn ich weniger verdiene. Sie suchen ein Geschenk für Ihre große Liebe, da sollten Sie diesen Hintergrund kennen, verstehen Sie?“
Nein, Jamie verstand nicht. Wozu auch. Weder interessierte ihn das Fluch-Gelaber noch hatte er vor, zu heiraten oder überhaupt Geld hinzublättern. Die vergangene Woche lang hatte er die Bedingungen ausspioniert. Daher wusste er, dass der Alte allein über dem Geschäft lebte, keine Angestellten hatte. Weder im Verkaufsraum noch auf der Straße waren Kameras installiert.
Jetzt schaute sich Jamie verstohlen um. Der Gehweg vor dem Schaufenster war wie die letzten Abende menschenleer. Perfekt.
„Es ist schon spät, Sir“, sagte der Juwelier mit aufgeräumter Stimme, als er das scheinbare Desinteresse seines Gegenübers realisierte, und nahm ihm die wertvolle Kette aus der Hand.
„Schauen Sie doch morgen wieder vorbei. Dann zeige ich Ihnen ein paar andere Objekte.“
„Nicht nötig“, antwortete Jamie in Plauderton, zog in einer fließenden Bewegung den Schlagstock hervor und bevor der Alte reagieren konnte, schlug er hart zu. 

Jamie knipste das Licht in seiner Wohnung an und legte die Beute auf der Spiegelkommode ab, bevor er sich aus dem Armani-Sakko schälte. Das hatte er – wie die Rolex an seinem Handgelenk – bei einem seiner letzten Einbrüche mitgehen lassen. Dann holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und trank. Als er die Flasche absetzte, bemerkte er die Blutspritzer auf seiner Hand, die leicht zitterte. Aber nicht, weil seine brutale Tat ihn schockierte oder sein Gewissen belastete. Sondern weil er Aufregung und Vorfreude verspürte, denn dies war mit Abstand sein bisher größter Coup.
Auf dem Schwarzmarkt würde er für die Schmuckstücke genügend Kohle bekommen, um es sich eine Weile sehr gutgehen zu lassen. 
Summend schlenderte Jamie zurück zur Kommode, schüttete den Inhalt des Beutels aus und fischte Lord Dunbars Kette aus dem glitzernden Haufen. Ein Prachtexemplar, wirklich.
Aus einem Impuls heraus legte er sich das Teil an und betrachtete sich im Spiegel. Es verlieh ihm eine gewisse Würde. Etwas, das er schon seit Längerem verloren, vielleicht nie besessen hatte. Drauf gekackt, das Leben ist eben kein Ponyhof, dachte er und ein hämisches Grinsen verzog seinen Mund, das sein engelsgleiches Aussehen Lügen strafte.
Wie oft hatte seine Mutter ihm früher seine Attraktivität attestiert, einmal voller Stolz zu ihm gesagt: „Ach, mein Hübscher, wenn ich den Charme, den du so mühelos versprühst, in Flaschen abfüllen und verkaufen könnte, wäre ich eine gemachte Frau.“
Während Jamie weiter darüber sinnierte, wie er jeden täuschen und um den Finger wickeln konnte, musterte er das funkelnde Juwel im Spiegel. Bis er im Halbdunkel hinter sich eine Gestalt stehen sah.
Er erstarrte, hielt den Atem an. Ein bleiches Gesicht. Langes, dunkles Haar, das nass am Kopf klebte …
Was zur Hölle …? Er wirbelte herum, doch er war allein im Raum. Was hatte der Alte noch über den Fluch gebrabbelt? Nein, das war doch Bullshit! Doch wider seine Natur verspürte Jamie mit einem Mal Unbehagen, etwas wie eine kalte Faust ballte sich in seinem Magen.
Er fasste sich in den Nacken, konnte den Verschluss jedoch nicht finden, tastete hektisch weiter. Endlich bekam er den kleinen Goldkarabiner zu fassen, öffnete ihn, riss sich die Kette vom Hals und schleuderte sie auf den Teppich. Heftig atmend starrte er sie an wie eine gefährliche Schlange. Sekundenlang.
Reine Einbildung, liegt wohl am Koks, beruhigte er sich und trank das Bier aus. Aber ich sollte das Ding loswerden! Sofort!
Er zog das Handy aus der Hosentasche, suchte in seinen Kontakten nach dem passenden Hehler und rief Wilson an. Sie vereinbarten ein Treffen am üblichen Ort.
„Okay, wir sehen uns in einer Stunde“, beendete er das Gespräch.

Jamie erreichte die verlassene Fabrik, lenkte seinen Wagen in den finsteren Innenhof.
Im Scheinwerferlicht sah er Wilsons Kombi und parkte.
Er ergriff den Schmuckbeutel, stieg aus und sah sich um. Im spärlichen Mondlicht konnte er kaum etwas erkennen, kniff leicht seine Augen zusammen. Der eisige Wind, der um die verwahrlosten Gebäude heulte, war das einzige Geräusch in der nächtlichen Stille.
Bis er Wilson „Hierher!“ rufen hörte und kurz eine Taschenlampe aufblitzte.
Jamie schritt los, auf die Schatten vor der Lagerhalle zu.
Auf halbem Weg sprang jemand hinter ihn, er spürte einen Schlag auf den Rücken.
Jamie entfuhr ein leiser Schrei, sein Herz galoppierte, er ging in Abwehrhaltung. Entspannte sich erst, als er hörte, wie Wilson dreckig in sich hineinlachte. Der Hehler knipste seine Maglite an und leuchtete Jamie ins Gesicht.
„Na, hast‘ dir fast in die Hose gepisst, Schönling, was?“
Jamie drückte die Lampe zur Seite. „Dein Glück, dass ich keine Wumme dabeihabe“, knurrte er und hielt Wilson den Beutel entgegen.
Außerdem könnte ich dich mickriges Würstchen auch ohne Waffe plattmachen, dachte er grimmig.
Wilson klemmte sich eine Juwelierlupe ins Auge, prüfte die Schmuckstücke im Licht der Lampe, das auch seine rattenhaften Züge beleuchtete. Als er Dunbars Kette inspizierte, pfiff er leise durch die Zähne, ließ die Kette zurück in das Säckchen gleiten.
„Geb‘ dir fünfzigtausend für alles.“
Jamie schnaubte und nahm ihm demonstrativ den Beutel wieder aus der Hand.
„Willst du mich verarschen? Allein das Collier mit dem Klunker ist das wert.“
„Sechzig, mein letztes Wort. Und nur, weil‘s unser letztes Geschäft is‘, setz‘ mich übermorgen ins Ausland ab.“
„Okay. Hast du die Kohle dabei?“
Wilson fischte eine Rolle Fünfzig-Pfundnoten aus der Jacke, hielt sie hoch, während seine andere Hand langsam in die zweite Jackentasche wanderte. Noch ehe Wilson sie wieder herausziehen konnte, rammte ihm Jamie mehrfach ein Messer in den Oberbauch und zischte:
„Alter, ich bin schneller als du!“
Der Hehler stöhnte vor Schmerz auf, ließ das Geld fallen, um seine Hände auf die Wunden zu pressen. In dem Moment, als er röchelnd auf die Knie sackte und zu Boden fiel, ertönte hinter ihnen Lärm. Jamie zuckte zusammen. Wilsons Rottweiler! Bellend und geifernd sprangen sie an die Scheiben des Kombis. Elende Mistviecher! Er hatte vergessen, dass der Kerl nie ohne seine beiden scharfen Köter unterwegs war. 
Doch wie wild sie sich auch gebärdeten, sie waren im Auto gefangen. Jamie hob Schmuckbeutel und Geldrolle auf. Daneben entdeckte er einen Zettel, darauf stand Tyler und eine Telefonnummer.
Ach, den hat er aus der Tasche gezogen, keine Waffe …
Jamie zuckte mit den Achseln.
Über das lautstarke Toben der Hunde hinweg vernahm er, wie Wilson „Verfluchter Drecksack“ hervorpresste.
Jamie lachte leise, ein unangenehmes Lachen, er beugte sich über den Sterbenden.
„Hu, schon der zweite Fluch heute. Muss dich enttäuschen: Das ist Bullshit. Und jetzt hab‘ eine gute Reise ins Jenseits!“
Damit wandte er sich ab, schlenderte mit zufriedenem Grinsen auf sein Coupé zu.
Im Vorbeigehen zeigte er den Rottweilern den Mittelfinger, die sich wie von Sinnen an die Scheiben schmissen, ihre Zähne klackten ans Glas.
„Und du … fährst zur … Hölle“, hörte er Wilson mit letzter Kraft rufen. Darauf folgte ein vertrautes Piepen, das Geräusch, wenn ein Wagen aufgefunkt wurde.
Fuck! Panisch sprintete Jamie los, zeitgleich glitt die Heckklappe des Kombis in die Höhe und entließ die Hunde, die wie Pfeile auf ihn zuschossen. Gerade, als er die Tür seines Autos aufziehen wollte, verbiss sich eine der Bestien in seinen Arm, die andere sprang ihm an den Hals. Zusammen rangen sie ihn nieder auf den Asphalt. Oh, was für höllische Schmerzen!
Jamie wollte schreien, doch aus seiner aufgerissenen Kehle drang nur ein Gurgeln.

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