Von Matthias Herrmann

Als Andy auftauchte, wusste ich: „Diesmal quatsche ich ihn an!“ Klar, ich hatte Andy Warhol schon auf diversen Partys gesehen, aber noch nie gewagt, ihn anzusprechen. Auch klar: Ich liebte Andy, seine Kunst, seine Aura. Wenn er auftauchte, dann war der ganze Raum plötzlich energetisiert: Irre!

Andy erinnerte mich an Lichtdampf. Einen Lichtdampf, der dir in sämtliche Poren, Nasen- und Arschlöcher kroch. Manche munkelten, dass Andy seine Perücken nachts unter einer Kristallpyramide deponierte, wo sie Lichtenergie aus dem Weltall tanken konnten. Wenn er sie dann tagsüber aufzog, strahlten sie kosmisches Licht ab. Andy war eine Berühmtheit. Wie konnte ich ihn in ein Gespräch verwickeln? Ich entschied mich für die schwungvolle Variante, baute mich vor ihm auf und rief: „Andy Warhol? Superstar!“

Andy, der sich gerade mit seiner Assistentin Pat unterhielt, starrte mich an. Ich nahm einen Schluck Pepsi Cola. Andys Augenlider zuckten. Das gab mir etwas Sicherheit. Er rollte ein Glas voller Eiswürfel und duftendem Apfelsaft aus Georgia zwischen seinen Händen. Vor und zurück. Er ließ die Flüssigkeit kreisen, so dass sich im Glas ein Strudel gebildet hatte. Gleichzeitig schaukelte dazu die Brownies-Tüte an seinem Handgelenk hin und her. Ich glotzte in das Glas mit dem Apfelsaftstrudel und sagte: „Wie der Abfluss in der Badewanne!“

Pat musterte mich: Meine Basketballstiefel, meinen Afro-Look und meine Schuppen, die sackweise aus meinen Kraushaaren rieselten. Andy starrte auf das Glas, den Apfelsaftstrudel aus Georgia und sagte: „Ich bade nie! Ich dusche. Und wenn ich dusche, mache ich die Augen zu. Das Licht aus!“

Jetzt war es an mir, ratlos zu starren. Pat strich sich über die Bluse. Sie trug Sandalen und einen Rock. 

„Warum?“, fragte sie.

„Warum? Warum? Warum ist die Banane krumm?“, äffte Andy sie nach, woraufhin Pat die Arme verschränkte, die Unterlippe vorstülpte und den Holzboden musterte, als enthielte die Maserung eine geheime Botschaft über den Sinn ihres Daseins. Und Andy? Er verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, schob seine Unterlippe vor und tat so, als wartete auch er auf die Message der Dielenbretter.

„Wo bin ich da rein geraten?“, dachte ich und fuhr mir durchs Kraushaar. Und wieder regnete es weiß und staubkornfein aus meinem Haupthaar: Schuppen, die sich zu einem Spiralnebel arrangierten. Schuppen, die eine Milchstraße formten. Schuppen des Universums mit einem schwarzen Loch in der Mitte: Andys Brownies-Tüte, mit der er versuchte, den weißen Haarschnee aufzufangen! Alte Sammlernatur!

„Okay! Ich habe da ein Problem! Ich war beim Arzt“, stammelte ich.

„Es ist ekelig“, meinte Pat.

„Irgendwie sexy“, sagte Andy und freute sich über meine Schuppen in der Brownies-Tüte. Ich wurde rot.

„Danke! Aber im Dunkeln duschen? Warum?“

„Tja, Erdbeertörtchen, das werde ich dir nicht verraten“, erwiderte Andy, hakte Pat unter und rauschte mit ihr und der Brownies-Tüte voller Sternenstaub davon.

 

Drei Tage später hatte ich die Stelle als Wasserzählerableser bei Norman & Vieweg ergattert. Meine Dienstuniform bestand aus einem apfelgrünen Overall und der Großen Welle vor Kanagawa als Logo der Firma auf der Brust.

„Große Welle! Gottes Welle! Schnelle durch die Stadt, hat sie Dich gepackt! Versackt! Oh, Gottes Welle! Schnelle! Lies ab den Zähler, immer schnääähler!”

Mit dem Sprechgesang versuchte Norman, uns bei der Einsatzplanung zu motivieren. Ich fragte mich kurz, welche „Gottes Welle“ mich zu der Party gespült und veranlasst hatte, diesen Job anzunehmen, um das Rätsel des „Im-Finstern-Duschens-des-Andy-Warhol“ zu lüften. 

 

Und während ich auf die U-Bahn wartete, zeichnete ich mit Kreide Wellen auf die Werbetafeln am Bahnsteig und dachte dabei an Andys Haar, das mich an Wellenkronen, Gischt und Präriegras erinnerte. Und an meins, dass mich an Vulkaneier, Hahnenkämpfe und Tischtennis denken ließ.

Es war klar, dass ich nicht schnurstracks in die Factory marschieren konnte, um das Geheimnis des „Im-Finstern-Duschens-des-Andy-Warhol“ zu lüften. Ich musste mich vortasten. Keinen Verdacht erregen. Ich klingelte beim Portier, zeigte ihm meinen Ausweis. Er rief im Büro an: „Hier will einer ablesen. Von Ihnen?“

Pause. Die alte Mrs. Vieweg suchte jetzt auf dem Stadtplan nach einem Fähnchen am Madison Square. Jeder Ableser musste morgens seinen Wimpel in den Stadtplan von Manhattan stecken. Zum Glück hatte ich ein Fähnchen auf Andys Haus gepikst.

„Danke!“, sagte der Portier, „seit Andy hier lebt, müssen wir jeden checken!“

Ich fuhr per Lift ins oberste Stockwerk. Um nicht aufzufallen, wollte ich mich Wohnung für Wohnung vorpirschen. In der ersten Wohnung eines Mr. Cook hing der Zähler in einer vernagelten Wandnische.

„Da müssen wir ran!“, sagte ich, während Mr. Cook fluchend die Bretter wegstemmte. Als der Zähler freigelegt war, entdeckten wir dort Knochen, Federn und Fellfetzen.

„Beutenest! Unsere Katze hatte so was in meinem Bettkasten eingerichtet. Meine Mutter dachte, meine Unterwäsche würde so stinken!“

 

In der nächsten Wohnung hing der Zähler im Behandlungszimmer der Körpertherapeutin Lizbeth. Und während ich die Wasserzahlen in mein Ableserbuch, intern nur die Bibel genannt, notierte, lauschte ich Emma, der Klientin, die von ihrer Gehirnentzündung berichtete, die sie nach der Geburt ihres Sohnes bekommen hatte, und den sechs Monaten, die sie im Koma gelegen hatte und was sie da geträumt hatte in dieser Zeit.

„Ich war in Kansas auf dem Acker, klaubte Kartoffeln. Den ganzen Tag.“

 „Seitdem hast du die Anfälle?“

„Einmal im Monat!“

„Und was haben Sie mit den Kartoffeln gemacht? Ich meine sechs Monate. Das ist ja ein Kartoffelgebirge!”, mischte ich mich ein.

Liz starrte mich an. Emma saß mit offenem Mund da und überlegte angestrengt. Ich verabschiedete mich lieber.

 

Danach hatte ich endlich die Tür von Andys Loft, der Factory, erreicht. Ich ließ den Türklopfer gegen die Holztür krachen. Pat öffnete. 

„Was willst Du?“, fragte sie, ohne mich zu erkennen.

„Wasser ablesen!“

„Komm rein! Die Typen von Absolut Vodka sind hier! Da hinten ist das Bad!“

Flink drückte ich mich an einem Haufen Fernseher vorbei, die ein Freund von Andy zu einer Installation zusammengeschraubt hatte. Die Bildschirme sollten eine Überwachungseinheit suggerieren. Gaben sie Andy ein Gefühl der Sicherheit?

Das Bad lag am Ende des Ganges. Hier war die Badewanne, daneben das Waschbecken mit Heiß- und Kaltwasserhahn, ein Metallschrank und ein gigantischer Wäschepuff. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, der mit einem schwarzen Samttuch verdeckt war. 

Da näherten sich Schritte. Die Tür ging auf, ich sprang gerade noch rechtzeitig in den Wäschepuff. Sachte wühlte ich mich hinab auf den Boden des riesigen Korbes. Durch einen Schlitz im Weidengeflecht konnte ich Pat beobachten, wie sie sich einen Mitesser ausdrückte und ihre Lippen nachzog. Dann verließ sie das Bad, ohne mich bemerkt zu haben, worauf ich tatsächlich vor Erleichterung einnickte. 

Ich träumte von einem Wandertrip mit Emma und ihrer Therapeutin Liz. Wir latschten durch ein Gebirge. Die beiden trugen einen riesigen Kartoffelschäler und wir sangen: „We don’t love Kansas City anymore!“ In dem Gebirge suchten wir eines Gottes goldene Testikel! Am Gipfelkreuz fand ich das gesuchte Goldstück und hielt es ihnen triumphierend entgegen. Liz und Emma glotzten neidisch. Emma fragte: „Na, Darling! Was hast Du denn mit den Eiern vor?“ Doch bevor ich antworten konnte, zogen am Himmel dunkle Wolken auf, und es schüttete wie aus Kannen.

 

Ich erwachte. Im Bad war es dunkel. Was war das? Da duschte jemand. Im Dunkeln! Das konnte nur er sein! Andy duschte im Dunkeln! Ich schüttelte den Kopf. Das Korbgeflecht knirschte.

„Ist da jemand?“

Doch Andy schöpfte keinen Verdacht, duschte weiter. Endlich stellte er das Wasser ab, schob den Vorhang zurück, patschte über den Kachelboden. Dann rubbelte er sich ab! Alles im Dunkeln! Schließlich öffnete er die Tür, verließ im Frotteemantel das Badezimmer. Vorsichtig kletterte ich aus dem Korb. Es dauerte, bis ich wieder einigermaßen geradestehen konnte. Ich lauschte. Die Luft war rein. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür und verließ die Factory.

 

In der folgenden Nacht träumte ich von Emma und Liz, die einen Verletzten durch das Hodensackgebirge schleppten. Ich konnte nicht erkennen, wen sie trugen. Die Person hatte mehrere Wunden und Narben im Brustbereich. Außerdem trug sie eine hellblonde Perücke. Als ich erwachte, wusste ich, warum Andy im Dunkeln duschte, und was ich zu tun hatte!

 

Am Sonntag klingelte es an der der Tür der Factory. Gegen seine Gewohnheit öffnete Andy selbst. Niemand zu sehen. Vor ihm lag eine große Scheibe, in Luftpolsterfolie verpackt. 

„Pat“, rief er. 

„Was ist das? Eine Bombe?“

„Shit!“

Andy sprang hinter den Empfangstresen und schrie: „Wirf sie raus!“

Doch Pat hatte schon die Folie heruntergerissen. Zum Vorschein kam eine runde Scheibe aus blauem Kunststoff mit einem Loch in der Mitte. Mit goldener Farbe waren Zungen, Testikel und Sterne darauf gemalt.

„Crazy! Hier. Ein Zettel!“

„Lass mich!“, drängelte Andy.

„Lieber Andy“, las er, „das ist eine Duschmanschette. Wenn Du duschst, setzt Du sie Dir einfach auf. Deine Narben siehst Du dann nicht mehr. Du kannst das Licht anlassen! Und das Duschen feiern!“

 

Tage später bekam ich einen Brief. Ohne Absender. Darin steckte meine Bibel, das Wasserablesebuch! Ich hatte es vergessen! Im Wäschekorb! Aufgeregt blätterte ich es durch. Auf der letzten Seite fand ich eine Notiz: „Im Ansatz gut. Es gibt nur ein Problem: Ich sehe zwar die Narben nicht, aber meine Haut auch kein Wasser. Das Ding funktioniert wie ein Regenschirm. Duschen ist nicht. Da musst Du noch dran arbeiten, Kollege!“

 

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