Von Nik Morgen
Mit FARTI fing drum alles ganz verquer an! Meine “Laune” (eher die Retraumatisierung meiner Vaterverlusterfahrung; aber war das nicht immer meine alles beherrschende Letztursache?) führte mich in eine Künstlerbar, wo ich überhaupt nicht hingehörte – ich mochte ja gar keinen Alkohol. Farti wirkte total versoffen. Und was er an Portfolios hinter sich herschleifte, war eher Ausdruck seiner Obdachlosen-Misere als ein Beleg für wahre Kunst.
In dem Moment, wo er mir die Schmuddelware präsentierte (da war etwas hundertprozentig Liebenswürdiges spürbar, hinter seiner «Scheibe»), löste sich sein Hosenträger und drinnen hatte er es pfunddick. Ich meine nicht, was vorne dranhing, das konnte ich gar nicht sehen, sondern was hinten unrettbar auf den Boden flutschte.
Ich, zwar selber untröstlich, war mir gleich im Klaren, wie unvergleichlich besser ich dran war als mein neuer Freund. Und so opferte ich mich (wieder war ich der einzig Freiwillige, wie damals beim fieberkranken Kameraden im Militär) fürs Saubermachen. Oh Güte, es lohnte sich im zweifachen Sinn. Unter dem Anstrich sah es nicht eben übel drein.
Irgendwie schafften wir es auch ohne Taxi in die Notunterkunft. Hierher wurden grosse Windelpacks und Ersatzwäsche von Verstorbenen aus dem Spital geliefert. Unter seinen Kunstsachen entdeckte ich einen wunderschön bemalten Fischkopf aus Plastik mit einer rosaroten Pfeilfeder als Hinterteil. Augenblicklich sah ich darin ein Symbol dafür, dass ich mich, wenngleich nicht besonders “frisch”, aber nichtsdestotrotz neu verliebt hatte.
Die Krankheit dauerte noch einen Moment. Lang genug, dass dem Patienten sein ganzes Obst in der Hose verfaulte – und abfiel. Darunter bildete sich eine infektiöse Öffnung, welche ich aufopfernd pflegte in der Hoffnung, dass sie mir vielleicht für später – oder sogar für immer? – erhalten bleiben würde.
Auf jeden Fall schaute ich sie während des Heilungsprozesses zunehmend als eine Muschel an, und damit als ein Versprechen, dass in ihrem Schutze etwas im Heranwachsen begriffen war, das sich für die Liebeskunst womöglich als noch kostbarer erweisen würde, als eine echte Perle.
Die misslichen Umstände hatten ihm (dem Sozialstaat sei Dank) zu einer bescheidenen Unterkunft verholfen, wo ich ihm meine alleinige, hoffentlich alleinseligmachende Betreuung angedeihen liess. Gleichzeitig durfte ich ihn durch den Entzug begleiten. Für immer längere Zeitabschnitte tauchte er an der Oberfläche kleiner Ernüchterungszustände auf und blinzelte mich durch die Öffnung seiner hochsensiblen Augen an. Aber mithilfe welchen Spuks gelang es ihm, durch diese Sehritzen unverhältnismässig mehr Liebe auszudrücken, als ich seit unserer Bekanntschaft ihm gegenüber unter Beweis gestellt hatte?!
Ich war ja in der Tat selber ein wenig aufgeschlitzt, seit meinem Rausschmiss beim Zirkus, sprich meiner brutalen Trennung von Daddy. Aber je weiter Farti gewahr wurde, wie sehr ich da und dort und überall «gesprungen» war, wie ein gläsernes, postmodernes Kunstwerk, leckte er nun seinerseits meine Wunden, und als wäre eine Heilkraft im Speichel enthalten, machte alles augenblicklich zu.
Eine Versicherungspromotion bezahlte überraschend einen Thermenbesuch unweit unseres Wohnortes. Und da, beim Blütenblasenpumpen entdeckten wir – quasi zum Dekor passend – eine Art orientalisch-westliche Synergie zwischen uns. Farti war nämlich Türke.
Nie hätte ich geglaubt, dass man so armselig werden muss, um wahres Glück zu erfahren! Ich kam mir vor wie ein Rippenstück, das wunderbar in seine Lücke passte. “Eine Lück’ mit Anfangsbuchstaben G”, wie wir es nannten!
Apropos Rippenstück: Farti offenbarte sich mir nach seiner Genesung immer mehr als besonders liebevoller Vater. Und, fasziniert von seinem Beruf, von seiner Berufung, baute ich für mein erstes, eigenes Werk seine Flanke in Form eines aus dem Brustkorb entnehmbaren Geigenkastens nach. Mit den Dimensionen musste ich etwas weiter ausholen, als es dem Anfänger zur Umsetzung dienlich gewesen wäre. Aber zumindest mit der Aussage der Darstellung traf ich übereinkommend unser beider Musikgehör.
Wo er wieder ganz hergestellt war, breitete Farti nun seinerseits die Flügel seiner erstaunlichen Kunstfähigkeit aus. Verliebt in seinen “Sohnemann” machte er mich zu seiner Grundskulptur, welche er fantasiereich zu variieren wusste. Dank seiner grossen Schaffenskraft hatte er bald Material für eine ganze Ausstellung beisammen.
Für eine seiner Skulpturen – eine Art Nachbildung einer antiken Neptundarstellung, nur moderner; kein alter Bart in einem zu hageren Gesicht, verglichen mit dem plumpen Körper– zeichnete er farbig ein ganzes Storyboard mit mir als Protagonisten auf einen grossen Bogen Papier: Neptun hält mich in einem Villeneingang als kleines Kind im Arm; ich steige an ihm herunter; gehe, während ich rasch grösser werde, in den Garten; steige als bereits Jugendlicher auf ein Pferd, um einmal ums Haus zu reiten (ich hatte Farti von meiner Zeit in der Reitschule erzählt); als Erwachsener steige ich ab und trete zurück in die Villa, wo ich im Greisenalter als neuer Neptun die zerbröckelte Statue ersetze. Was mich besonders ehrte an den Zeichnungen, war in der Tat, wie deutlich erkennbar ich in jedem Alter war. Wusste ich doch, dass die Darstellung einer Person in verschiedenen Lebensabschnitten eine grosse Einfühlung voraussetzt. Und all das andere, welche diese Einfühlung erst ermöglichte und nährte, bekam ich ebenfalls deutlich vom Meister zu spüren.
Ein anderes Projekt, welches mir flattierte, verglich die Relationen meiner Körperglieder untereinander mit Werken grosser Baukunst. Farti hatte mich in allen möglichen und unmöglichen Positionen fotografiert, die Fotos zerlegt und sie architektonischen Bildern zugeordnet, die er in seiner Sammlung hatte. So machte er mich zu Teilen des Louvre, des Mailänder Doms, der Tower Bridge und sogar – bleibt nur zu erraten, welches meiner Körperteile er dazu hernahm – dem Ground Zero in New York.
Weil er solche Tiefeneinsichten in mich nahm und hatte, malte er mich auch als Fresko – eine geniale Idee, wie ich fand. Denn das Bild wirkte wirklich sehr alt und zerfallen, obgleich es eben ganz frisch auf Leinen aufgetragen war. Hier war ich denn weniger deutlich auszumachen in den matten Stellen, über dem vermeintlich blättrigen Kalk. Wenn man allerdings genauer hinschaute, wozu neugierige Kenner ihre Lupe rausnehmen…
Farti, zweifellos unter meinem Einfluss, aber auch auf der Grundlage seines “transepochalen Charakters”, revolutionierte die Bodypaintingmethode für eine Live-Installation mit mir. Sie gehörte zu meinen verzehrendsten Erfahrungen im Rahmen von Fartis Kunstaktionen, denn die Farbpistole (ein Dauerwerfer) war direkt an meiner verlorenen Unschuld befestigt. Wenigstens war er darum bekümmert gewesen, Farbe zu verwenden, welche in den Augen nicht brannte. Nach jeder Präsenzzeit, welche ich um keine Sekunde ausdehnen mochte, erlöste mich der Künstler Punktum und höchst persönlich. Alle VIP-Gäste liess er stehen und schminkte mich im grossen Kombi ab, welchen er just hinter der Ausstellungswand im Lieferraum abgestellt hatte. Hier stimmte denn die Atmosphäre für mich wieder: Zu Lichteffekten und Musik schaukelte der Kleinbus schon im Stillstand wie beim Motocross!
Farti machte ferner auch Bodypainting in dem Sinn, dass er seinen eigenen Körper als Pinsel benutzte. Als eine Art “Nacktspinne” trippelte er, mit der richtigen Farbe am richtigen Körperende, über das Grossformat am Boden, um mit erstaunlicher Wendigkeit (besonders, wenn man seine bis vor kurzem ständig wiederkehrenden Abstürze in den Alkoholismus bedenkt), ein vollendetes Abbild zu Wege zu bringen.
Während des “Akts” duldete er einen einzigen Assistenten am Bildrand für Hilfestellungen, Handreichungen und Lieferdienste: Mich, natürlich! Und am Ende des Schaffensprozesses sah ich genauso farbenfroh drein wie er – man hätte Werk, Künstler und Assistent ohne weiteres verwechseln, respektive als eine Einheit auffassen können.
Übrigens hatte der brave Mann nur wieder meinetwegen die Produkteauswahl bezüglich Farben angepasst: Im Alleingang hätte er – paradoxerweise aufgrund eines “Unsterblichkeitsehrgeizes” seinem Werk gegenüber – viel schärfere Chemikalien gewählt und wäre daran als Langzeitfolge krass gesagt verätzt. Aber neben seinem Werk wollte er nun eben auch mich und deswegen neuerdings sogar sich selbst erhalten. Einmal mehr bestätigte sich echte Liebe als gesundheitsfördernd!
Aber leider muss ich ergänzen: Liebe macht auch blind. So endeten meine besten Absichten fatal für uns, als ich – wir waren nun schon einige Zeit zusammen und für viele Biographen als Künstlerpaar untrennbar – zu seinem runden Geburtstag drei jüngere Unbekannte einlud, von denen ich den Eindruck hatte, dass sie Farti nicht schlecht ähnlich sahen, als dieser zwanzig, dreissig und vierzig Jahre alt gewesen war. Da verliebte er sich unsterblich in das dreissig Jahre jüngere Modell! Es handelte sich, das muss ich zugeben, für beide ganz offensichtlich um ein gegenseitiges “Déjà-”, beziehungsweise “Jamais-Vu”, was beim Älteren allerdings von heute auf morgen auf Kosten eines kahlschlagartigen Interessensabfalls gegenüber meiner, mit ihm verglichen, unbedeutenden Persönlichkeit ausfiel… /1