Von Franck Sezelli
Mein Zahn muckert nicht mehr, ich spüre ihn gar nicht. Wen wundert es? Schließlich sitze ich im Wartezimmer des Zahnarztes. Da vergeht einem jeder Schmerz. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich so darauf bestanden habe, noch heute dranzukommen. Vergessen die schlaflosen Nächte, in denen ich am liebsten die Wände hinaufgelaufen wäre, wenn es denn geholfen – und ich es gekonnt hätte.
Aber ich kann jetzt nicht einfach gehen. Das wäre auch zu peinlich. Außerdem würden die Schmerzen mit Sicherheit wiederkommen. Also fasse ich mich in Geduld und versuche mich abzulenken. Passenderweise hängt gerade an der mir gegenüber liegenden Wand ein interessantes Gemälde. Man weiß nicht, was es darstellen soll. Jedes Mal, wenn ich neu hinblicke, erkenne ich etwas anderes. Es wirkt durch die Farben und die teilweise unbestimmten Formen.
Eine blaurot schimmernde Kugel, in der sich die Beleuchtung des Wartezimmers spiegelt, nimmt meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Es ist, als schwebte sie im Dreidimensionalen vor dem Hintergrund des Gemäldes. Den bilden weißbläuliche bis ins Gelbbräunliche gehende Flecken, die einerseits zusammenlaufen und an anderer Stelle auseinander zu driften scheinen. Dazwischen ist Schwärze mit kleinen gelben Punkten zu sehen. Ein Blick ins Universum, könnte man meinen. Dann könnten die Flecken Sternenhaufen sein, sinniere ich. Allerdings so dicht, wie ich die Milchstraße noch nie gesehen habe. Das Bild wird von dunklen Farben beherrscht, ohne aber düster zu erscheinen.
Wie komme ich auf Universum, frage ich mich. Es gibt keinen deutlichen Hinweis auf Sterne, das habe ich nur hineininterpretiert. Die im Raum scheinbar schwebende violette Kugel sieht auch nicht wie ein Himmelskörper aus, auch nicht wie ein Raumschiff. Wobei ich nicht weiß, wie ein Raumschiff vielleicht in hundert Jahren aussehen wird.
Jetzt ahne ich, wieso meine Gedanken von dem Gemälde in diese Richtung gelenkt wurden. Erst vor wenigen Tagen bekam ich von einem entfernten Bekannten aus der Autoren-Community im Netz die Anfrage, ob ich mich nicht an seinem neuesten Projekt beteiligen wolle. Er möchte ein Buch herausbringen, das verschiedene Genre der Fantastik vereint. Dabei denkt er an Science Fiction, Fantasy, Märchen, Steampunk, Cyberpunk, Horror und ähnliches. Jeder Autor soll als Inspirationsquelle eine Grafik von ihm als Vorlage bekommen. Ich weiß, dass der Initiator dieses Projekts vielseitig unterwegs ist. Er arbeitet in einem ingenieurtechnischem Beruf, ist naturwissenschaftlich sehr gebildet, war journalistisch tätig und hat sein Zeichentalent seit frühester Jugend vervollkommnet und nebenberuflich auch künstlerisch gearbeitet. Seine mir bekannten Hobby-Interessen liegen besonders in der Science-Fiction. Daher mein gedankliches Abschweifen ins Weltall. Das fällt wohl den meisten beim Stichwort Sci-Fi ein, obwohl diese sich keinesfalls darauf beschränken lässt.
Jetzt sitze ich also hier vor einem irgendwie rätselhaften Bild und frage mich, wozu mich denn dieses Gemälde inspirieren könnte, wenn das meine Vorlage für das Buchprojekt wäre. Denn ich habe unter Vorbehalt zugesagt, da mitzumischen.
Als meine Augen wieder das Bild streifen, scheint mich ein Tier mit drei Hörnern anzusehen. Die Schnauze wird von einer schwärzlichen Kugel gebildet, die offenbar eine Reflexion oder ein Schatten der vor ihr schwebenden Spiegelkugel ist. Raffiniert gemacht, denke ich. Immer wenn man das Gemälde erneut ansieht, glaubt man, etwas anderes zu sehen. Ich liebe solche Bilder und Muster, sie regen meine Fantasie an. Aber als Idee zu einer Kurzgeschichte?
Das könnte schwierig werden. Aber ich kenne das Bild noch nicht, welches mir der Herausgeber vorlegen wird. Gedankenvoll neige ich meinen Kopf nach links, auf die Seite, wo bis vor kurzem die Schmerzen in der Wange tobten. Ich bemerke, dass man das Bild sicher auch so aufhängen könnte, wie ich es jetzt sehe. Gewissermaßen im Querformat, die schwebende blaurote, wie gläsern scheinende Kugel nun im Zentrum der linken Hälfte. Der Kopf des ziegenbockähnlichen Tiers drängt sich dann nicht mehr nach vorn. Aus der weiß-gelb-bräunlichen Masse, die fast die ganze Illustration einnimmt, erhebt sich im Zentrum des nun rechten Bildteils ein Rüssel. Seine dunkle Öffnung war vorher das Auge des Tieres. Dieser Rüssel ähnelt auch einem kurzen Fangarm eines Kraken, der Nahrung aufsaugen möchte. Er erinnert mich von seiner Form her an einen der Schlote, die auf dem Meeresboden wachsen, kleine Krater, aus denen oft heißes Wasser aufsteigt.
Das hilft mir auch nicht weiter, wenn ich hier die Idee zu einer Kurzgeschichte suchen müsste. Ich setze mich wieder aufrecht hin – und kurz blickt mich der Ziegenbock an. Als ich auf die Uhr schaue, wird mir bewusst, dass keine zehn Minuten in der Betrachtung des Bildes vergangen sind. Es ist bekannt, dass die Wartezeiten bei diesem Zahnarzt recht ausgedehnt sind. Ich schaue im Zimmer herum und sehe, dass die anderen Wartenden sich mit ihrem Handy beschäftigen, eine Frau hat gar die Augen geschlossen und scheint zu schlafen, eine andere blättert in einer der ausgelegten uralten Zeitschriften, keiner aber achtet auf das Bild. Ich strecke die Beine aus und starre wieder auf die schimmernde Kugel gegenüber.
Da fällt mir noch etwas ein, was mir der Herausgeber geschrieben hatte: »Gerne auch eine erotische Story …« Was soll mir da an Sci-Fi einfallen? Oder doch ein Märchen?
Ich tue wieder so, als sei dieses Wartezimmerbild die Vorlage. Einmal, um mich abzulenken, zum anderen ist es vielleicht wirklich eine nützliche Übung, um die eigene Fantasie auf Trab zu bringen.
In der Betrachtung des Gemäldes habe ich plötzlich Assoziationen zu einem Ei, das über Samenflüssigkeit schwebt, die auseinanderläuft. Das kann ja nur mit den Gedanken zusammenhängen, die mir eben durch den Kopf gingen. So erotisch ist die neue, mich überkommene Sichtweise ja nun auch nicht! Aber gewissermaßen irgendwie eine Basis. Trotzdem wird mir klar, dass ich auf diesem Weg nicht weiterkomme. Ich muss oder besser müsste völlig anders herangehen. Und diese Vorgehensweise wäre auch bei fast jedem anderen Bild denkbar.
Ich muss mir einen utopischen Rahmen ausdenken, der erotisches Potential hat und dann den oder die Handelnden an Stationen führen, wo sie mit dem vorgegebenen Bild konfrontiert werden und sich in die Betrachtung vertiefen. So wie ich in diesem Wartezimmer.
Und schon sehe ich, wie in ferner oder gar nicht so ferner Zukunft eine Menschengruppe versucht, die Menschheit vor dem Untergang auf der Erde zu retten. Sie müssten auf einen bewohnbaren Himmelskörper aussiedeln und dort eine neue, friedlichere und gerechtere Gesellschaft aufbauen. Und das ist die Idee: Die Voraussetzungen müssen anders als auf der Erde sein. Lasst also die Frauen die Geschicke in die Hand nehmen, eine Frauengesellschaft aufbauen! Wir wissen, Männer werden für das Fortbestehen der Gesellschaft auch gebraucht. Aber vielleicht genügt eine verschwindende Minderheit, die den Frauen dient. Da haben wir die erotische Komponente! Die Männer dürfen nicht in der Lage sein, wieder tonangebend zu werden.
Die Vorbereitungen zum Aufbau einer außerirdischen Kolonie der Menschheit müsste natürlich schon auf der Erde starten. Das könnte den Plot der Kurzgeschichte ergeben. Ich lasse durch eine in der Zukunft entstehende Union feministischer Staaten und Organisationen eine künstliche Insel errichten als Ausgangspunkt der Eroberung einer neuen Heimat im All. Symbol für den neu zu bewohnenden Planeten könnte die blaurote Kugel aus dem Gemälde sein. Die Farben des Lebens! Blau für Wasser und Rot für die Energie, die der Sauerstoff liefert. Beides wird sich in meiner Geschichte finden. Das Kunstwerk mit dieser Symbolkraft wird überall zu sehen sein und der feministischen Gesellschaft Hoffnung geben. Deswegen werde ich die Basisstation, diese künstliche Insel, »Esperanza« nennen. Eine Kurzgeschichte ist geboren …
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