Von Miklos Muhi

 

»Ist das nicht wunderschön?«

Wolfgang antwortete nicht. Karl war das egal.

»Kommen Sie schon! Wo bleibt die Würdigung meiner Kunst? Wo bleibt Ihre Katharsis? Oder sind Sie genau so ein Banause wie die anderen? Das wäre nämlich schade.«

Wolfgang schwieg weiterhin.

»Das hier, mein neuestes Werk, ist eine tragische Figur, ein Opfer seiner selbst und irgendwie auch von uns, der ganzen Gesellschaft. Ob er je nach Hilfe geschrien hat?«

Wolfgang hätte gerne auf diese Führung verzichtet. Das Handy in seiner Tasche vibrierte gelegentlich. Rangehen war aber nicht drin.

Karl unterbrach seine Ausführung mit einer weiteren Frage. In der so entstandenen Stille des Kellers hörte sich der fallende Tropfen wie eine kleine Explosion an.

Und dieser Gestank …

Die gedämpfte beleuchtete Statue zeigte eine Figur auf einem Podest, in aufrechter Haltung, in Neonfarben, mit bemerkenswert realistischer Muskulatur. Die rechte Hand lag auf der Brust, die linke reichte nach unten, Richtung Betrachter. Auf dem Boden darunter formt sich eine Pfütze, auf dem kleinen Finger ein neuer Tropfen.

Aus dem Gemisch der üblen Gerüche sprang eins direkt in Wolfgangs Nase. Wie fein geriebenes, rostiges Eisen, feucht und …

»Oh, nicht schon wieder!«, rief Karl.

Er schritt den düsteren Flur entlang, und ein Klicken war zu hören. Eine versteckte Lampe tauchte die Statue in gelbliches Licht.

»Ist genial, oder?«, fragte Karl und grinste Wolfgang haiartig an.

In den neuen Lichtverhältnissen war das Gesicht der Statue klar zu erkennen. Die Erkenntnis, dass das Kunstwerk aus einem menschlichen Körper bestand und Wolfgang diesen Menschen persönlich gekannt und in den letzten Tagen mit ihm geschäftlich zu tun hatte, wirkte wie ein Schlag in die Bauchgegend. Er vermutete, dass das bei den anderen Ausstellungsstücken ebenfalls der Fall war.

Seine Trance, die sich aus gegen seinen Willen verabreichten Drogen, Übermüdung und Dehydration ernährte, verflog. Er wollte aufstehen, um diesen Schwachsinn zu beenden. Doch die Handschellen saßen eng und waren an ein Metallrohr geschweißt, aus dem der altmodische Rollstuhl gebaut wurde. Wie seine Füße fixiert waren, konnte er nicht sehen. Sein Versuch, zu schreien, erstickte im fachkundig angebrachten Knebel.

Der Gestank des eigenen Urins und des Kots zog seinen Magen zusammen. Wolfgang atmet tief durch. Da Karl keinerlei Bereitschaft zeigte, auf seine elementarsten Bedürfnisse einzugehen, war ihm gewiss, dass, wenn er sich erbrächte, er daran ersticken würde.

»Teilhabe an der Kunst unterscheidet uns von den Tieren«, sagte Karl. »In Galerien herumzulaufen oder etwas auf sich wirken zu lassen, ist nicht genug. Wahre Teilhabe entsteht nur, wenn man selbst mitmacht. Man muss selbst zur Kunst werden!«

Wolfgangs Augen weiteten sich und er setzte seine vergeblichen Versuche, sich zu befreien, fort.

»Ich ermögliche Ihnen das«, sagte Karl, trat zum Rollstuhl und schob ihn einen düsteren Flur entlang bis zu einer Holztür neben den Treppen, die nach oben führten. Er öffnete die Tür, schritt hinein und schaltete das Licht an. In der Mitte des Raumes stand ein Seziertisch mit einer Hebevorrichtung.

Als die Lichter ausgingen, wurden Stille und Dunkelheit bodenlos. Bevor Karl oder Wolfgang das Überraschungsmoment überwanden, krachte es. Die Kellertür flog auf und gleißende Strahlen zahlreicher Kopflampen zerschnitten den düsteren Luftfilz.

»Polizei! Hände hoch!«, brüllte jemand. Karl wurde an die Wand gedrückt und Wolfgangs Gesicht wurde aus verschiedenen Richtungen beleuchtet.

Zwei Uniformierte befreiten ihn und entfernten den Knebel.

»Sind Sie Wolfgang Büschel?«

»Ja. Ich brauche …«, antwortete er und verstummte, sobald er ebenfalls an die Wand gedrückt wurde und man ihm wieder Handschellen anlegte.

»Ich verhafte Sie wegen Verdacht auf Mord, räuberische Erpressung, Menschenhandel und Förderung der Prostitution. Wir bringen Sie ins Gefängniskrankenhaus und …«

»Chef, das müssen Sie sehen!«, brüllte jemand.

Eine Gruppe folgte dem Ruf. Die Strahlen der Kopflampen bewegten sich im Rhythmus derer Schritte, bis alle in eine Richtung zeigten.

»Ist das, wonach es aussieht, Chef?«

»Ausgezeichnete Frage, Kollege, aber darauf zu antworten ist nicht unser Job«, sagte er und lief zurück zu den Beamten, die Karl befragten.

»Nehmt ihn in Gewahrsam und funkt den Kriminaldauerdienst an!«

*

Kommissar Nelson empfing im Hof der Einsatzzentrale die SEK-Leute. Seine Freude darüber, dass alles in Ordnung war und niemand verletzt wurde, wurde bald von einem Gefühl von Unverständnis verdrängt.

»Wer ist das denn?«, fragte er und zeigte auf Karl. »Wo ist Büschel? Wir haben doch sein Handy am Einsatzort geortet.«

»Büschel ist im Gefängniskrankenhaus und wird bewacht. Der Mann hier heißt Karl Schmucker.«

»Warum ist er hier?«

»Ich denke, sie sollten mit der Spurensicherung am Einsatzort reden. Der Chef fährt sie hin.«

Die Pläne des Kommissars, heute ausnahmsweise mal beim Dienstschluss nach Hause zu fahren, lösten sich in der Luft auf.

*

»Wie heißen Sie?«, fragte Kommissar Nelson. Eine lange Pause folgte, erfüllt vom Summen der Leuchtstoffröhren im Verhörraum.

»Mein Name ist Karl Schmucker.«

»Was sind Sie denn von Beruf?«

»Ich bin Steuerberater und Bilanzbuchhalter.«

»Reden wir darüber, was wir in ihrem Keller gefunden haben.«

»Meinen Sie meine Kunstwerke?«

»In meinem Beruf bezeichnet man das als eine Sammlung geschändeter Leichen«, sagte Nelson.

»Artikel 5, Absatz drei des Grundgesetzes: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.«

»Herr Schmucker, ich habe den Eindruck, dass Sie nicht begreifen, in welcher Lage Sie sich befinden.«

»Das begreife ich durchaus, Herr Kommissar. Was wird mit Wolfgang Büschel passieren?«

»Ich stelle hier die Fragen.«

»Wenn Sie auf Details aus sind, bin ich bereit, sie Ihnen zu liefern. Im Gegenzug möchte ich wissen, was mit Wolfgang Büschel passieren wird.«

»Es geht um ein laufendes Verfahren. Ich kann dazu keine …«

Ein Klopfen an der Tür ließ Kommissar Nelson verstummen.

»Herein!«, rief er.

Ein Uninformierter trat mit einem dicken Ordner in der Hand ein.

»Die Staatsanwältin meinte, dass Sie das sehen sollten«, sagte er, legte ihn auf den Tisch und verließ den Verhörraum.

Nelson nahm den Ordner in die Hand und blätterte ihn durch. Die Leichen im Keller von Karl Schmucker wurden identifiziert. Der Kommissar pfiff leise.

»Wolfgang Büschel wird einer Reihe schwerer Verbrechen beschuldigt. Sie haben es gehört. Sie waren ja dabei, als wir ihn verhaftet haben. Er ist vorbestraft. So schnell wird er nicht wieder freikommen. So. Und jetzt möchte ich wissen, wie die Leichen der führenden Köpfe der Prostitution- und Menschenhandelsszene der Stadt, von denen einige seit Langem als vermisst gemeldet sind, in Ihren Keller kommen.«

»Ich habe sie betäubt, verschleppt und gequält, bis sie krepiert sind. Dann habe ich sie präpariert. Ich habe jedem Einzelnen meine Ausstellung gezeigt, bevor ich sie lebendig auf den Seziertisch legte.«

»Wie ist es Ihnen denn gelungen, diesen Schwerverbrechern so nahezukommen und sie zu entführen? Mit Verlaub, Herr Schmucker, Sie sehen nicht gerade wie ein Muskelprotz oder ein versierter Schläger aus.«

»Buchhalter und Steuerberater werden in der Unterwelt händeringend gesucht. Geld hinterlässt Spuren, die verdeckt oder wegdiskutiert gehören. In meinem Safe, den Ihre Kollegen sicherlich schon geöffnet und den Inhalt beschlagnahmt haben, finden Sie die detaillierten Aufzeichnungen.«

»Aber solche Menschen haben Leibwächter und zig willige Vollstrecker.«

»Hilft man ihnen oft genug aus der Patsche, werden sie leichtfertig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich sie mir schnappen konnte.«

»Wieso sind Sie nicht mit Ihren Erkenntnissen zu uns gekommen?«

»Sie und Ihre Kollegen leisten ausgezeichnete Arbeit, doch vor Gericht heißt es immer wieder Mangel an Beweisen, Bewährungsstrafe oder was auch immer. Ich habe den Müll endgültig beseitigt.«

»Sie haben Ihr eigenes Leben ruiniert.«

»Kommt Ihnen der Name Gerda Schmucker bekannt vor?«, fragte Karl.

Die Erinnerungen an den Fall, der seit fast acht Jahren ungelöst war, überfluteten Nelsons Kopf. Die Leiche des Mädchens wurde halb zerschreddert in einem industriellen Häcksler auf einem verlassenen Bauernhof gefunden. Laut Obduktionsbericht wurde sie lebend da hineingesteckt und lebte noch, als das Gerät abgeschaltet wurde.

»Sie war meine Tochter, ein hübsches, aufgewecktes Mädchen, voller Hoffnungen und künstlerischer Begabung. Sie wurde von dieser Bande entführt. Man wollte sie zur Prostitution zwingen. Ich kenne meine Kleine: Sie kämpfte wie eine Löwin. Diese feigen Machos, die jetzt die ungebührende Ehre haben, Teil meiner Kunstsammlung zu sein, ertragen so etwas nicht. Welches Leben soll ich denn ruiniert haben, Herr Kommissar? Mein einziges Kind wurde massakriert. Meine Frau hat sich in ihrem Kummer umgebracht. Ich habe nichts zu verlieren … nur meine Kunstsammlung. Die hat ihren Zweck aber schon erfüllt.«

 

 

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