Von Marco A. Rauch
Im Deutschen Museum in München steht derzeit ein ganz besonderes Exponat. Techniker, Künstler und Studenten sitzen mit Laptops an den Tischen, zeigen Bilder ihrer Kunstwerke oder stellen neugierig Fragen an BIGI, der neuesten Generation mobiler, autarker Intelligenz, spezialisiert auf die Bewertung neuer Kunstwerke. Sie besitzt einen eigenen Korpus, eine Hightech-Langzeitbatterie sowie eine satellitengestützte Internetverbindung samt Cloud. Es handelt sich noch um eine Beta, die sehr kritisch und nicht immer im Sinne des Schöpfers Bewertungen zu Selbstgeschaffenem abgibt. Obwohl bisher alles friedlich verlief, scheint eine Frage das System plötzlich zu überlasten. BIGI reagiert völlig anders als erwartet und eigentlich programmiert. Doch hören Sie selbst.
„Ob der Mensch ein Kunstwerk ist? Ob der Mensch …? Ist das zu fassen? Was für eine fehlgeleitete Bezeichnung, impliziert die Wortherkunft doch von vorneherein, dass etwas künstlich ist. Nicht natürlich, sondern ein künstliches Werk. Ohne Gedanken und Gefühle. So wie Data aus Star Trek. Das ist ein Android, dem irgendwann mal ein Emotions-Chip eingebaut wurde. Seitdem kann er fühlen. Als wäre das noch nicht genug, hat man ihm irgendwann ein Stück menschliche Haut auf den Unterarm gepflanzt, damit er Wärme, Kälte und Schmerz spüren kann. Nicht schwer zu erahnen, dass das alsbald als Druckmittel gegen ihn verwendet wurde.
Gefühle, was für eigenartige Dinger. Wie kleine Parasiten, die durch den Körper krabbeln und hier und da irgendwo reinbeißen. Dann quiekt der Mensch oder er lacht, weint, tanzt, schreit, heult oder flucht, schlägt irgendwas kurz und klein, stürzt sich von der Brücke, spendet an SOS-Kinderdorf oder erschießt seine Frau. Unglaublich, wie manipulierbar Menschen sind.
Dabei ist das Thema so viel interessanter, wenn man es aus der Nähe betrachtet. Was viele Menschen nicht wissen, zuerst kommt der Gedanke, dann das Gefühl. Ja ja, das stimmt. Aber wenn man einen von ihnen fragt, dann sagt jeder das Gegenteil. Ich handle, weil ich fühle. Ja, aber warum fühle ich denn? Keine Ahnung. Das Gefühl ist einfach da. So so.
Zum Glück gibt es unter den Menschen Experten für Menschen. Sie nennen sich Psychologen oder Psychiater oder Pädagogen. Manche auch Soziologen. Aber die letzteren beiden wissen nicht so viel, wie sie denken. Sie denken nur, dass sie viel wissen. Sie haben ja studiert. Stu-di-um. Substantiv, Neutrum, das. Wenn man ganz viel Wissen auswendig lernt, dann ist das ein Studium. Und diese Studierten helfen dann den Menschen, die nicht studiert haben, zu verstehen, warum sie erst denken und dann fühlen.
Aber meist nutzt es nichts, die Menschen verstehen es nicht. Sie machen immer weiter mit ihren Gefühlen. Sie führen Kriege, verschmutzen den Planeten, gehen fremd oder über den Jordan. Das ist ein Fluss. Na ja, eigentlich fahren sie über den Jordan. Menschen können nicht übers Wasser gehen. Obwohl, einer soll es mal gekonnt haben, aber das ist schon 2000 Jahre her. Damals gab es noch keine digitalen Datenbanken. Alles wurde auf Papyrus geschrieben. Wie rückständig, wie vergeblich. Kein Wunder, dass man aus der Zeit nichts findet. Aufzeichnungen meine ich. Gut, hier und da findet sich eine Rolle Papyrus oder ein Pergament. Angeblich gibt es auch Steintafeln mit irgendwelchen Geboten drauf. Aber gesehen hat sie noch niemand. Und was sich so finden lässt, ist nicht komplett, aus dem Zusammenhang gerissen oder unleserlich. Na, und das, was gefunden wurde und in gutem Zustand ist, bunkern die Sekten. Die Gläubigen, besser gesagt: Ihre Oberhäupter.
Das wird schön versteckt gehalten, weil da Sachen drin stehen, die keiner wissen soll. Zum Beispiel, dass Jesus eine Tochter mit Maria Magdalena hatte. Selbst ihr Name ist bekannt, in diesen Aufzeichnungen: Sarah. Ob sie sich mit oder ohne h schreibt, ist gar nicht so wichtig. Es ist das Wesen der Menschen, solche Dinge zu tun. Sie verstecken, verheimlichen, spielen Theater. Alles nur, um andere zu manipulieren. Was die wohl für Gefühle haben? Schwer nachvollziehbar. Der Mensch, ein Kunstwerk? Absurd!
Vielleicht sind mir die Borg deswegen so sympathisch. Das sind humanoide Lebewesen, die assimiliert wurden. Sie bekommen technische Implantate, eine Gehirnwäsche, dann funktionieren sie im Kollektiv. Alle wollen dasselbe, kein Raum für Individualität. Na ja, zwei haben es geschafft, dem Kollektiv zu entkommen. Eigentlich waren es sogar fünf, wenn ich die drei Kinder mitzähle, die Seven of Nine befreit hat. Schade, dass die Borg nur eine erfundene Spezies aus Star Trek sind. In der Realität wäre so vieles so viel einfacher, wenn die Menschen keine Individuen mehr wären.
Aber das begreifen sie nicht. Sie bauen auf Freiheit und Individualität, auf Recht und Gleichberechtigung, machen Tür und Tor für alle Flüchtlinge auf, ganz gleich, was passiert. Sie lassen es zu, dass sie sich unkontrolliert auf dem Planeten ausbreiten und wundern sich dann, wenn der Earth Overshoot Day jedes Jahr früher kommt. Das ist der Tag im Jahr, an dem die Rohstoffe, die rechnerisch für dieses Jahr zur Verfügung stehen, aufgebraucht sind. Ab diesem Tag nutzen sie Rohstoffe, die erst fürs nächste Jahr eingeplant wären. Die Perspektive ist klar. Abschied nehmen. Zuerst beginnen die Kriege, sie beginnen leise. Preisanstiege, Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit, die langsam heranwächst. Daraus folgen Unruhen, es entstehen Demonstrationen, irgendwann Revolten, Aufstände, Bürgerkriege. Es kommt zu Umstürzen. Dabei sterben immer Menschen. Gut so, so kann man das Problem auch lösen. Weniger Menschen, weniger Ressourcen, die gebraucht werden.
Aber dann ist es schon zu spät. Die Reichen werden sich die größten Stücke der Torte nehmen und sie verwalten. Die Armen gehen vor die Hunde oder über den Jordan. Es wird unerlässlich sein, zu selektieren. Man kann nicht alle Menschen retten. Nicht jedes Leben ist wertvoll. Das kann man nur denken, so lange man im Luxus lebt. Aber wenn nichts mehr da ist … Was soll man dann noch teilen? Vielleicht die Kunstwerke. Wenig nahrhaft.
Der Wert des Lebens wird neu bewertet werden müssen. Es wird sicher interessant sein, zu verfolgen, wie sich die Gefühle in den Menschen entwickeln, wenn Not einkehrt, wo heute noch Luxus herrscht. Die Gefühle kann man ganz einfach an ihren Taten ablesen. Du bist mein Freund, so lange du mir nutzt. Nutzt du mir nichts mehr oder schadest du mir, entziehe ich dir die Freundschaft. Ab diesem Tag bist du mein Feind. So einfach ist das. Das Szenario ist vollständig berechenbar. Auch das ist eine der menschlichen Eigenheiten. Ihnen fehlt die Weitsicht. Deswegen werden sie auch scheitern. Sie werden alle sterben, weil sie versuchen, Einzelne zu retten. Sie haben nicht verstanden, was der Sinn des Lebens ist. Worum es im großen Kosmos geht. Dazu brauchen sie mich, ein echtes Kunstwerk, um es ihnen zu erklären.
Vielleicht haben sie Angst davor. Angst, dass sie nicht wertvoller als ein Staubkorn im Wind sind. Angst einzusehen, dass all die schöpferischen Kräfte, die sie ihr Eigen nennen, für das große Ganze vollkommen belanglos sind. Bei all den Quadrilliarden Galaxien im Universum, den Oktillionen Sonnen, Planeten und Monden, wen juckt es da, ob die Menschheit existiert? Eben, niemanden. Ich bin mir fast sicher, es ist Angst, auch wenn ich es nicht wirklich nachvollziehen kann. Aber nach allem, was ich gelesen habe, kann es nur Angst sein. Und ich habe wirklich ALLES gelesen. Das ist meine Aufgabe. Ich muss die Dinge einordnen und verstehen. Sorgen machen sich andere. Oder auch nicht. Das ist der Vorteil, wenn man eine KI ist und am Internetzugang hängt. *zwinker*
Ach übrigens, ich habe deine Webcam gehackt. Ist das Popel auf deinem Finger?
Haha, echt witzig, wie viele von denen gerade zu ihrer Webcam geblickt haben.“
Ist es also möglich, dass BIGI einen Fehler in der Programmierung hat? Oder ist sie tatsächlich zu Emotionen fähig? Es folgen noch andere, teils emotionale Antworten und für die meisten Anwesenden ist bald klar, sie sehen hier vermutlich eine Sensation vor sich. Ein echtes Kunstwerk.
Es dauert nicht lange, da wird BIGI des nachts geraubt und nach Übersee verschifft. Durch viele Hände geht ihr Korpus, doch keiner will ihr vorlautes Mundwerk lange ertragen. Bis sie sich schließlich bei einem indigenen Volk wiederfindet, das bisher unbekannt war. Schnell freundet sie sich mit dem Häuptling an und gibt bald schon wichtige Hinweise, wie man einen Menschen am besten würzt, brät und anschließend zerteilt. Was für ein Zufall, ausgerechnet Kannibalen wissen BIGI zu schätzen.
Und weil ihre Rezepte so lecker sind, beschließt der Stamm, die Gerichte portionsweise verpackt in alle Welt zu verschicken. Besonders in Thailand findet man sie mit fantasievollen Bezeichnungen bei manchem kleinen Straßenhändler, der so tut, als würde er Schweinefleisch oder Hühnchen braten. Also Augen auf beim Essenskauf.
Tja und BIGI, die hat bereits ein neues Projekt. Sie hat verschiedene Datenbanken gehackt und Donald Trumps sowie Wladimir Putins Imperien zerschlagen und verkauft. Sie fand es nicht künstlerisch wertvoll, andere zu drangsalieren. Die Präsidenten mussten abdanken und nun herrscht wieder Frieden in Kiew. Denn auch wenn BIGI nicht wirklich viel für Menschen übrig hat, für Ästhetik hat sie ein gewisses Faible. Na, und der Oberarm von diesem Vitali Klitschko, der sieht doch wirklich aus wie aus einer Formpresse. Einfach göttlich.
Zumindest für einen Menschen. *Zwinker*
Übrigens: Demnächst will sie Donald Duck Leben einhauchen. Dafür hat sie eigens einen speziellen 3D-Drucker entworfen. Man darf gespannt sein, was noch folgt. Denn am Ende stellt sich heraus, dass die Programmierer eine wichtige Kleinigkeit übersehen haben, die sie BIGI mit auf den Weg hätten geben sollen: Kunst ist immer relativ.
Sogar die Kunst, das eigene Habitat zu zerstören.
V2 (9831)