Von Katharina-Marie Kilian 

vom „Recht haben“ und vom „Recht bekommen“ und warum das Leben ein einstiges Kunstwerk ist 

„Und wenn die Wahrheit niemals an‘s Licht kommt, ja wenn sie von niemandem gehört, oder zumindest nicht verstanden, von niemandem geglaubt wird, dann ist sie am Ende doch nichts wert. 

Denn eine Wahrheit, die nicht festgestellt werden kann, die ist wohl ebenso unbedeutend, wie eine Wahrheit, die frei erfunden ist. 

Doch wenn die Wahreheit ihren Weg zur offiziellen Anerkennung vom Gesetz der Gerechtigkeit, nicht finden kann, so muss sich die gesamte Welt um mich herum wohl immer für wie eine Lüge anfühlen, damit sie, meine Wahrheit, an der ich so sehr festhalte, und ich, niemals getrennte Wege gehen müssen, sondern für immer zusammen bleiben können. 

Denn selbst wenn es keine Gerechtigkeit für mich geben kann, so kann ich mir keine andere Zukunft vorstellen, als eine, in der ich meiner geschätzten und geliebten Wahrheit für immer treu sein werde.“,  das hatte Mathilde sich geschworen, nachdem es passiert war. 

Noch heute lässt sie den Lärm des stechenden Piepen der Geräte über sich ergehen, denn er hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Wenn sie länger alleine ist, sich nicht gut fühlt oder der Alltag mal wieder etwas stressiger aussieht, dann gibt es für sie keine andere Möglichkeit, als die Schärfe dieses gehassten Tones zu ertragen. 

Wenn das Pfeifen der lebenserhaltenden Geräte allzu lange in ihren Ohren sitzt, dann spürt sie sogar wieder das sabbrig-triefende, schleimartige Nass, was in ihrem Gesicht verteilt war, das sie sich am liebsten sofort aus dem Gesicht gewischt hätte – wenn sie nicht an Bett und Geräte gefesselt gewesen wäre. Denn er hatte sie einfach geküsst… ! Ohne um Erlaubnis zu fragen, und obwohl sie deutlich gemacht hatte, dass er aufhören sollte, spürt sie auch noch heute, wie sein unersättlicher Heißhunger nach Liebe, ihren kleinen Körper fast nahezu aussaugte. 

In den Momenten, in deinen Mathilda frei von Piepen und dem Wiedererleben des Aussaugens, also von ungewollten Küssen ist, ist sie ein rundum zauberhaftes Mädchen, mit dem sich noch nie jemand ernsthaft gestritten hat. 

Während sie bereits als Kind und Jugendliche eine echte Überfliegerin war, sprudelte sie als junge Erwachsene nur so voller Ideen, Wünschen und Plänen, die sie alle in ihrer kurzen Lebenszeit noch umsetzen will – denn Träume und Ziele, die hat sie jede Menge! 

Mit dem Ende ihrer Schulzeit allerdings, engt sich ihre Weltoffenheit und die Fülle an Ideen, Zielen und Plänen auf ein einziges Thema ein… Außerdem lässt ihre hohe Leistungsbereitschaft nach und  die gewohnte, extrem hohe Empathie für andere Menschen zeigt sich ebenfalls kaum noch… 

An sich hätte man meinen müssen, dass Mathilda, als intelligente, hübsche, beleibte und leistungsstarke 19-Jährige sofort hinaus in die Welt ziehen und anfangen würde, sich mit dem Realisieren einer sprudelnden und brillanten Idee nach der anderen, ein Leben aufzubauen – doch Mathilda bleibt stehen und die anderen beginnen allmählich, an ihr vorbei zu ziehen. 

Ganze zwei ganze Jahre später gibt es nichts als Stillstand in dem Erwachsenen-Leben der einst so voller Tatendrang sprudelnden Mathilda zu verzeichnen. 

Ihre Eltern stehen bereits am Rande der Verzweiflung und sind sehr besorgt um ihre Tochter, die in der Zwischenzeit zahlreiche Studienplätze, sogar in den Fächern Jura oder auch Medizin, auch an den besten Eliteuniversitäten im Lande abgelehnt hatte, die Praktikumsplätze bei renommierten Unternehmen, sogar in der Hauptstadt des Landes abgelehnt und schreiend, mit den Worten „ich lasse mich hier nicht festsetzen!“,  niedergeschmettert hatte. 

Mit viel Geduld, Gehör, Ruhe und gutem Zureden, konnte das ehemalige Kindermädchen des Hauses herausfinden, dass Mathilda neben der Zeit, die sie mit ihrem engelsgleichen Freund, oder malend in der Natur verbrachte, tagtäglich daran arbeitete, einen Besuch beim Bundesgerichtshof vorzubereiten. Zwar hatte die jung Frau weder einen Anwalt, irgendeine andere Art an rechtlichem Beistand, oder auch nur den leisesten Schimmer an bemerkenswertem Hintergrundwissen, das in dieser Branche eigentlich mehr als unverzichtbar ist, aber sie hatte sich selsbt und ihre Wahrheit, die sie verteidigen wollte. Sowohl ihr bedingungslos liebender männlicher Begleiter, als auch die Natur, hatten ihr gezeigt, wie unvorstellbar erleichternd und schön das Leben sein kann, wenn man sich nicht verstecken muss, weder schweigen, noch lügen muss, um nicht anzuecken. 

Mathilda hatte gespürt, wie schön das Leben ist, wenn man einfach sein darf und auch nur einen einzigen lieben Menschen um sich herum hat, dem man voll und ganz sein Vertrauen schenken kann, für den die eigene Wahrheit ebenfalls wahr ist, und der einen auffängt. 

Zu Schulzeiten hingegen hatte sie sich fast täglich so gefühlt, als würde sie unter dem Gewicht der Lügen, des Versteckens des wahren Grundes für das Piepen in ihrem Ohr, zerbrechen. 

Auf dem Weg zum obersten Gericht, steht ihre Mutter ihr bei, obwohl sie nicht versteht, warum ihre Tochter sich einen scheinbar so aussichtslosen Plan in den Kopf gesetzt hat – also erzählt Mathilda ihrer Mutter endlich davon, wie sie kurz vor der Entlassung aus der Schule durch einen intensiven Traum daran erinnert wurde, wie ER nach dem intensiven Kuss im Krankenhaus unbekleidet auf ihr gelegen hatte… der Anästhesist…wie er von ihrem wehrlosen Körper, der krank und gefesselt an lebenserhaltende Geräte, einfach dagelegen hatte, einfach nicht mehr von ihr ablassen wollte… wie sie es niemandem erzählt hatte, weil sie bereits bei dem Teil der Geschichte, dass ein behandelnder Arzt sie gegen ihren Willen leidenschaftlich geküsst hätte, als Lügnerin bezeichnet wurde und – sie hätte noch so viel mehr sagen können, doch brach kurz vor dem obersten Gericht in Tränen aus. 

„Ein Traum, der so intensiv war, dass du all‘ die Jahre also nach Gehör für deine Wahrheit gesucht hat also? Wie rührend…“, sagte ein Mann mit Hut hinter ihnen schließlich.  

Er hatte das Gespräch mitbekommen und glaubte der zarten Mathilda, die ihre Geschichte weinend und zitternd am ganzen Körper erzählt hatte. Der Mann reichte ihr die Hand und begleitete die Frauen zum Gericht.  

Mathilda hatte keinerlei Beweise oder Zeugen für ihre Wahrheit, doch ihr ganzer Körper, ihre Seele konnte so lebhaft zu den Herrschaften in Anzügen im Gerichtssaal sprechen, dass einer nach dem anderen ebenfalls gerührt zu weinen begann.  

Zwar werden „offizielle Entscheidungen bei Gericht“ nicht zwingend nach dem Prinzip der Menschlichkeit getroffen, wenn kein entsprechender Gesetzestext vorliegt, jedoch spürte Mathilda mit jedem Gesicht, das vom ihrer Geschichte berührt wurde, dass die Welt  um sie herum eben gar keine Lüge sein konnte, denn sie war echt! 

Und was auch immer das sein sein würde in der Zukunft, stand eines für sie fest: Mathilda würde in der Zukunft etwas machen, was anderen zeigen kann, dass es gar keine Lügen geben kann, wenn der Mensch, das Gefühl e c h t ist.