Von Bergthora Eldey
Liebe Astrid,
15.10. 1872
Du wirst dich grämen, dass ich im September nicht heimgekommen bin, wirst fürchten, wir seien umgekommen in Spitzbergen. Auch mein Brief kann deinen Kummer nicht lindern, denn er wird wohl Tromsø nicht vor mir erreichen – bestenfalls Ende Mai.
Aber ich lebe, wohne mit sechzehn Kameraden in einem festgefügten Haus, geräumiger als alle, in denen ich in Tromsø verkehrt habe. Selbst, wenn wir nicht auf Jagd gehen könnten, haben wir Vorräte für drei Jahre. Denk dir nur, Essen in Blechdosen! Spätestens im Sommer werden sie ein Boot schicken, um uns zu holen. Also bleib mir treu, Astrid!
Unterwegs hierher haben wir zwei Walrösser erlegt. Weißt du noch, wie du erzähltest, du hättest gerne eine Schnitzerei aus Walrossbein, wie deine Tante sie sammelt? Nun, einer der älteren Männer, Henrik Henriksen, hat Erfahrung in dieser Fertigkeit und will mir ein paar Kniffe zu zeigen, und so kann ich in diesen dunklen Monaten zwar nicht bei dir sein, aber mich immerhin darauf freuen, dir mein Kunstwerk zu überreichen. Oder falls die Schnitzerei misslingt, wenigstens meinen Brief. In diesem Haus gibt es so viel Papier, dass das Verschwinden einiger Blätter kaum auffallen wird.
5.11.
Es war die letzten Tage mehr zu tun als erwartet. Das Wetter war mild, und so haben wir draußen aufgeräumt – unglaublich, was die Kolonisten alles haben liegen lassen, ungesichert gegen Schnee und Eisgang. Die schwerste Arbeit war, ihr Jagdboot höher an Land zu ziehen. Ein schönes, neues Boot, größer als unsere, wir mussten alle mit anfassen.
Außerdem haben wir drei Rentiere und zwei Seehunde erlegt. Für alle Vorräte, die wir hier verbrauchen, müssen die Reeder bezahlen, also ist es besser, einen Teil unserer Nahrung selbst zu beschaffen, statt uns der Verschwendungssucht bezichtigen zu lassen.
Heute stürmt und schneit es, und so will ich dir berichten, wie wir hier gelandet sind. Mitte September lagen wir mit fünf anderen Schiffen vor Gråhuken an der Nordküste Spitzbergens, hatten trotz des kalten Sommers gute Beute gemacht und freuten uns auf die baldige Heimkehr, als ein Nordweststurm große Mengen Meereis herantrieb und uns den Heimweg abschnitt. Da die Jagdzeit zu Ende ging, hatten wir kaum Proviant – zu wenig für eine Überwinterung. Aber eine schwedische Expedition unter Adolf Nordenskiöld lag 25 Seemeilen östlich von uns und so schickten die Skipper mich mit sechs Mann, um Proviant zu erbitten. Nordenskiöld ließ wissen, dass er unmöglich über 50 norwegische Robbenjäger durchfüttern könne, aber auf Kapp Thordsen im Isfjord habe ein schwedisches Unternehmen ein Haus gebaut, um – ist das zu fassen? – alte Vogelscheiße abzubauen und als Dünger nach England zu verschiffen. „Koprolith“ nennen die Gelehrten das Zeug. Kaum hatten die gut 100 Siedler ihr Haus fertig und den Proviant ausgeladen, da verloren sie den Mut und ließen alles stehen und liegen. Nordenskiöld schlug vor, dass ein Drittel von uns in dem schwedischen Haus überwintern solle, dann würde er den Rest mit mageren Rationen versorgen. Wir losten unter den unverheirateten Männern aus, wer die Reise unternehmen würde. Eigentlich gehörte ich nicht dazu, und das war mir recht, denn ein paar Tage lang zwei Boote über das Eis ziehen und dann 200 Seemeilen rudern ist nicht ganz ungefährlich, und auch wenn wir beide noch nicht verheiratet sind, sind wir doch so gut wie verlobt. Aber der Skipper nahm mich beiseite und bat mich, mit Morten Isaksen zu tauschen – vermutlich weil der ein Großneffe des Reeders ist. Ich zögerte, aber als der Skipper versprach, er werde dafür sorgen, dass ich die Ausbildung zum Maat machen kann, sagte ich kurzentschlossen Ja. Stell dir vor, Maat – vielleicht gar Kapitän! Dann wohnen wir in ein paar Jahren in einem der hübschen Häuser am Hafen, nicht in den trüben Gassen, die wir bisher kannten. Und letztlich war die Bootreise nicht sehr aufregend. Ein paar Tage harte Arbeit, Gegenwind und wenig Schlaf, aber jetzt sitzen wir hier wohlgeborgen im Schwedenhaus und warten auf den Frühling. Vermutlich haben wir es besser getroffen als unsere Kameraden, die von Nordenskiölds halben Rationen abhängen. Meine größte Sorge ist, dass du sich zu sehr grämst. Wenn wir nur einen Telegraphen hätten, damit ich dir sagen könnte, dass ich lebe und dich liebe!
5.12.
Unser Leben hier ist ruhig, wir sind noch ein paar Mal auf Jagd gewesen und haben Löffelkraut gesammelt gegen den Skorbut, aber jetzt ist das Wetter meist zu schlecht für Ausflüge – 20 Grad Kälte am Mittag und Schneetreiben – und so haben wir nicht viel mehr zu tun als kochen, essen und lesen. Die Schweden haben uns eine wohlgefüllte Bibliothek hinterlassen, wir werden klüger heimkehren, als wir aufgebrochen sind, so viel ist sicher. Ich habe ein Buch über Navigation entdeckt – wenn ich mir das alles merken kann, ist die Prüfung zum Maat so gut wie bestanden. Außerdem ist mir die Aufgabe zugefallen, fünfmal am Tag Aufzeichnungen über das Wetter zu machen, wie Nordenskiöld vorgeschrieben hat. Mit der Schnitzerei geht es langsam – aber ich habe ja noch ein paar Monate Zeit.
Wir sind gute Kameraden und guter Dinge. Nur Nils Larsen behauptet seit ein paar Tagen, sich nicht gesund zu fühlen. Ich bin nicht sicher, ob er wirklich krank ist oder sich davor drücken will, bei den Wetterbeobachtungen zu helfen.
18.12.
So, die erste Schnitzerei ist fertig – ein Seehund. Henrik sagt, er sei nicht schlecht geworden. Aber keine Schnitzerei kann die Geschmeidigkeit einfangen, mit der ein Seehund durch das Wasser gleitet. Die Behäbigkeit, mit der er über eine Eisscholle robbt. Oder diesen gänzlich verlorenen Blick des Jungtiers, wenn der Jäger seine Mutter niedergeknüppelt hat und nun den Hakapik über den Kopf des Welpen hebt, um ihm den Gnadenstoß zu versetzen.
Nils geht es immer noch nicht besser, er liegt nur im Bett, klagt über Kopf- und Magenschmerzen und Kribbeln in den Händen. Gestern hat er kein Wort gesagt, nur dumpf an die Decke gestarrt. Heute fuhr er uns an, wir würden ihn gänzlich vernachlässigen in seinem Elend. Was denn nun? Henrik behauptet, er bekomme Kopfschmerzen von Nils‘ Nörgelei, dabei ist er sonst die Ausgeglichenheit selbst.
26.12.
Es war ein sorgenvolles Weihnachtsfest. Nils‘ Krankheit muss ansteckend gewesen sein, wir haben jetzt alle Kopfschmerzen und manche von uns Bauchkrämpfe. Mir geht es besser als den meisten, aber die Wetterbeobachtungen, fünfmal am Tag in Sturm und Kälte, setzen mir zu.
Henrik hat sich aufgerafft und eine Art Gottesdienst gehalten. Wir haben Gott um Hilfe angefleht. Was können wir sonst tun? Peder Hansen meinte gestern, er habe sich besser gefühlt, nachdem er eine Büchse Milch getrunken hat. Also haben wir alle Milch getrunken, aber ich glaube nicht, dass es geholfen hat.
12.1. 1873
Zu Neujahr habe ich von deinem Walrossbeinseehund geträumt. Und seither jede Nacht wieder. Er kriecht aus seiner Kiste und wälzt sich auf mein Bett und dann sitzt er auf meiner Brust und schaut mich an und aus seinem Blick lodert es wie die Flamme von einem Tranofen. Wie viele Robben und Walrösser habe ich abgeschlachtet, damit die guten Bürger von Tromsø bis Oslo Licht für ihre Lampen haben?
Heute früh habe ich die Schnitzerei mitgenommen, als ich mich mit dem Thermometer nach draußen schleppte, und das vermaledeite Ding weggeworfen. Es tut mir Leid, Astrid.
19.1.
Heute sind zwei Männer gestorben, Tønnes Pedersen und Henrik Henriksen. Wir haben ein gutes Stück vom Haus mit Hakapiks und Schaufeln ein Loch in den gefrorenen Boden gehackt und sie hingezerrt und begraben. Möge Gott ihnen und uns allen gnädig sein.
1.2.
Von den fünfzehn Mann, die noch am Leben sind, liegen fünf im Bett, und wir anderen werden immer kraftloser. Manche haben einen blauschwarzen Streifen zwischen Zähnen und Zahnfleisch. Skorbut kann es nicht sein, wir haben so viel Löffelkraut gegessen. Gott steh uns bei in unserer Not!
21.2.
Nils ist tot.
Habe ihn mit Peder Jansen aus dem Haus geschleppt und eine Persenning über ihm ausgebreitet. Wir haben keine Kraft mehr, um ein Grab zu schaufeln. Peder und ich sind die Einzigen, die noch arbeiten können. Was soll nur aus uns werden?
Gestern haben wir zum ersten Mal die Sonne gesehen. Es wird noch Monate dauern, bis vielleicht ein Schiff kommen und uns aus dieser leidvollen Stätte erretten wird.
1.3.
Der Seehund ist wieder da. Als ich gestern Abend mit dem Thermometer draußen war, kam er aus dem Nebel herangerobbt und hat nach meiner Hand geschnappt. Aber als ich wieder drinnen war, war an meiner Hand nichts zu sehen.
3.3.
Johan, Jacob und Odin sind tot, ruhen jetzt an Nils‘ Seite unter der Persenning.
Nach dem Begräbnis habe ich überall nach dem Elfenbeinseehund gesucht. Warum habe ich ihn weggeworfen? Wie kann ich hoffen, dass du mir treu bleibst, wenn ich so mit dem Pfand meiner Liebe umspringe?
16.3.
Didrik, Hans und Isak sind tot. Wir haben sie nicht die Treppe hinunterbekommen, sondern sie nur ins Nebenzimmer geschleift.
9.4.
Vier weitere Tote.
Du hast mit Roald getanzt, ich habe es im Traum gesehen. Hast du mich schon vergessen? Heißt das, dass ich nicht heimkommen werde? Ich will ja heimkommen, Astrid. Noch zwei Monate, dann kommt vielleicht das Schiff. Und ich kann immer noch einhergehen – mühsam, aber doch – ich will durchhalten für dich!
30.4.
Ich bin der Letzte. Bete für mich, Astrid.
10.5.
Ein Segel am westlichen Horizont! Vielleicht sehen wir uns doch noch wieder!
Ich hoffe nur, ich erhole mich genug, um dir ein guter, starker Mann zu sein. Jetzt bin ich ein Wrack. Gott helfe mir.
12.5.
Das Segel ist verschwunden. Falls es je da war.
Wenn du nicht wärst, würde ich hoffen, dass der Herr auch mich zu sich ruft.
20.5.
Wollte neue Schnitzerei anfangen Astrid
Einen Seemann wie mich
Der lebendige Leib ist das größte Kunstwerk aber mein Leib zerfällt
Kann die Rechte nicht mehr bewegen und schreibe mit Links
Bete für mich Astrid, aber warte nicht auf mich
In Liebe
Ulrik Albrigtsen
Lange hieß es, die Jäger seien an „Trägheit und Skorbut“ gestorben.
2008 fanden Forscher Blei in den Konservendosen.
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