Von Andreas Schröter

Es war eine sternenklare, kalte Winternacht am Dortmunder Hafen, in der vor allem eines herausstach: eine friedfertige Ruhe, wie man sie sonst nur irgendwo auf dem Land findet, aber so gut wie nie in der Großstadt. Das änderte ein langgezogener Frauenschrei, der genauso abrupt wieder abbrach wie er begonnen hatte. Danach herrschte wieder Stille. Nur dass es diesmal eine bedrohliche und beängstigende Stille war. Das heißt: Es war nicht komplett still. Wäre jemand mit sehr guten Ohren in der Nähe gewesen, hätte er ein leises Schmatzen vernehmen können. Aber es war niemand in der Nähe.

 

* * *

 

Ich saß in meinem funkelnagelneuen Büro und hatte Kopfschmerzen. Erstens hatte ich gestern Abend mit meiner Frau Stella und Tochter 1, Nina, doch mehr getrunken, als mir guttat. Wir hatten meinen neuen Job gefeiert, den ich heute antreten sollte. Und das, obwohl es da rein gar nichts zu feiern gab.

Zweitens hatte ich trotz des vielen Alkohols im Blut schlecht geschlafen. Ich war wegen eben dieses neuen Jobs verdammt nervös gewesen. Denn ab heute war ich „Kommissar für besondere Angelegenheiten“ – was in keiner Weise das wiedergab, was ich wirklich ab sofort tun würde. Ich war „Dämonenjäger“. Doch weil es offiziell keine Dämonen, Vampire, Zombies, Geister oder Werwölfe gab, hatte Polizeipräsident Siebert meine Abteilung eben „für besondere Angelegenheiten“ genannt. Mitarbeiter dieser neuen Abteilung: Einer. Ich, Andreas Schröter, 36 Jahre alt, verheiratet, drei Töchter, seit zehn Jahren Polizei-Kommissar – und nun mit schlotternden Knien.

Ich hätte mich niemals darauf einlassen dürfen. Aber hatte ich eine Wahl? Nach ein paar unglücklichen Vorfällen auf meiner alten Stelle, auf die ich hier nicht näher eingehen will, und nach der Forderung des Ministers, diese neue Abteilung einzurichten, hatte Siebert die Chance gesehen, mich abzuschieben. Er hielt nichts, aber auch gar nichts von diesem „Dämonenquatsch“, wie er es nannte. „Der einzige Dämon, den ich kenne, ist meine Frau“, sagt er ständig und lachte dabei selbst am lautesten.

Ich selbst dagegen glaubte sehr wohl an diesen „Dämonenquatsch“. Viel zu oft hatte ich bereits mit den Ausgeburten der Hölle zu tun gehabt. Und genau das war der Grund, warum ich mich vor meiner neuen Aufgabe fürchtete. Extrem fürchtete.

 

* * *

 

Die Bürotür flog auf. Siebert.

„Am Hafen. Frauenleiche.“

Er sprach oft so abgehackt.

„Warum ich?“

„Der Minister meint, es wäre eine gute Gelegenheit, Ihre neue Abteilung gebührend einzuweihen.“ Sein schiefes Grinsen verriet, was er davon hielt. „Außerdem …“

„Außerdem?“

„Außerdem ist die Leiche in einem sonderbaren Zustand.“ Mit diesen Worten knallte er mir ein paar Fotos auf den Tisch.

Ich nahm sie, wusste sofort, was er meinte und hätte meinen Papierkorb fast mit einem Schwall Erbrochenem beehrt. Die Frau war kaum noch als solche zu erkennen. Sie war über und über mit Bissspuren bedeckt, und ihre Beine fehlten ganz. Und ich wusste genau, wer dafür verantwortlich sein musste. Der Zahndämon. Er hatte so viele Zähne, dass es eigentlich völlig unmöglich schien, sie alle in seinem Körper unterzubringen. Wenn er sein schreckliches Maul aufriss, kam eine Zahnreihe nach der anderen ins Blickfeld des Betrachters. Nicht lange natürlich, denn der Dämon griff in aller Regel sofort an, und der Betrachter hatte danach rein gar nichts mehr zu betrachten. Nie mehr. Ich hasste meinen neuen Job. Erwähnte ich das bereits?

 

* * *

 

Der Tatort direkt am Hafenbecken unterhalb des Alten Hafenamtes sah furchtbar aus. Die Leiche – oder das, was von ihr übrig war – war zwar abgedeckt – aber überall im Boden steckten kleine Fähnchen mit Zahlen im Boden. Und zwar dort, wo weitere Leichenteile gefunden worden waren. Die Zahlen reichten bis 21.

Weil der Tatort halb unterhalb einer Brücke lag, hatten die Spurensicherer Flutlicht-Spender aufgestellt, aber das Licht erhellte nicht jede Ecke. Ich schaltete meine Handylampe ein und schritt vorsichtig die dunkleren Stellen unterhalb der Brücke ab. Konnte es sein, dass sich der Dämon noch irgendwo hier verbarg? WC – wohl caum. Außerdem hätten ihn die Spurensicherer dann doch sicher schon lange bemerkt. Ich schaute mich um. Die Kollegen waren gerade dabei, ihren Kram zusammenzupacken. Einige waren schon abgerückt. Als nächstes würde der Leichenwagen kommen. Auch würde es mir wohl nicht erspart bleiben, dass Siebert jeden Moment aufkreuzte.

Mit diesen Gedanken leuchtete ich in die offenstehende Mündung eines großen Rohres. Was war das? Ein alter, stillgelegter Abwasserkanal? Ich wollte die Lampe gerade abschalten, als ich tief im Inneren des Rohres – fast schon außerhalb des beleuchteten Bereichs – eine Bewegung wahrnahm. Bestimmt Ratten.

Dachte ich zumindest. Aber nur so lange, bis ich die erste Zahnreihe sah. Und dann die zweite. Und dann die dritte.

Der Zahndämon.

Und fast schien es so, als würde er mich angrinsen. Und als hätte er sich vor der Spurensicherung versteckt, um nur auf mich zu warten. Obwohl das nicht unsere erste Begegnung war, war ich aufs Neue entsetzt über sein fürchterliches Aussehen – zumal sein bizarres, schuppiges und abstoßendes Äußeres mit einem beißenden Gestank einherging.

Aber ich hatte keine Zeit, mir über solche Details Gedanken zu machen, denn der Dämon schoss aus seinem Loch auf mich zu. Es dauerte geschätzt 1,5 Sekunden, bis sich seine erste Zahnreihe in meinem rechten Hosenbein verbissen hatte. Mit dem anderen Bein trat ich dem Viech in das, was man mit viel Fantasie als Gesicht hätte bezeichnen können. Aber lediglich ein zorniges Knurren war die Reaktion. Gleichzeitig zerrte dieses Ding die Hose tiefer ins Maul, sodass die zweite Zahnreihe zubeißen konnte.

Langsam wurde es eng für mein Bein. Wie war das noch? Die tote Frau hatte überhaupt keine Beine mehr. Ich geriet in Panik und schrie laut um Hilfe. Wo zur Hölle waren die Spurensicherer und warum halfen sie mir nicht? Ich trat immer wilder nach dem Dämon und versuchte, mit dem Handy seine Augen zu verletzten. Wenn ich nur gewusst hätte, was in diesem Gesichtsbrei die Augen waren.

 

Als die dritte Zahnreihe zupackte, aber gleichzeitig meine Bemühungen, mich der Bestie erwehren zu können, immer mehr gegen Null tendierten, war ich mir sicher, dass mein erster Arbeitstag im neuen Job auch gleichzeitig mein letzter war.

Die schlechte Qualität meiner Jeans verschaffte mir etwas Luft. Sie zerriss lautstark, und ich hatte plötzlich immerhin so viel Bewegungsfreiheit, dass ich einen halb verrotteten Besen mit Stil greifen konnte, den ich in der Nähe erspäht hatte. Ich zögerte nicht lange, ergriff das Stück Holz und rammte es dem Dämon mit der Unterseite zuerst mit voller Kraft ins Maul. Ohne dass das Biest zum Beißen oder Kauen kam, rutschte der Besen in einem Schwung bis tief in seinen Körper. Das immerhin war offenbar etwas, das dieses Wesen nicht ganz so gerne mochte. Hatten die verschiedenen Zahnreihen bislang wie ein böses Grinsen gewirkt, konnte davon nun keine Rede mehr sein. Vielleicht lag das aber auch einfach an dem Ende des Besenstiels, der auf recht unfotogene Weise aus dem dämonischen Maul ragte.

Und nun passierte noch etwas, was meine Chancen erhöhte, doch noch meinen zweiten Arbeitstag zu erleben: Hinter mir ertönte das durchaus hässliche Geknatter von gleich mehreren Maschinengewehren, die ihre gesamte Munition auf den Körper des Dämons abfeuerten.

Nun, ich wusste, dass einfache Kugeln dieser Kreatur nichts anhaben konnten, aber der Beschuss in Einheit mit dem halbverdauten Besenstiel störte den Zahndämon zumindest insoweit, dass er den Angriff gegen mich abbrach und seinen Körper mit einem lauten Platschen ins nahe Hafenbecken fallen ließ. Ich war sicher, dass er kurz vor dem Eintauchen doch wieder grinste und mir auf diese Weise zu verstehen gab: „Wir sehen uns wieder, Du Möchtegern-Dämonenjäger.“

Und ich stand in zerfetzter Hose am Rand des Hafenbeckens und fragte mich, ob die Maschinengewehr-Schützen hinter mir wirklich ihre Waffe beherrschten. Einige der Kugeln zischten nur um Haaresbreite an mir vorbei ins Wasser.

 

* * *

 

Siebert schloss ein paar Tage später die Akte zu diesem Fall. Taucher, die im Hafenbecken „nach dem mutmaßlich verletzten oder toten Tatverdächtigen“ (Polizeijargon) suchten, hatten nichts gefunden.

„Täter erschossen, Fall gelöst“, sagte Siebert lapidar bei einer der Dienstbesprechungen in diesen Tagen. Kein Wort davon, dass dieser „Täter“ sehr ungewöhnlich gewesen war – um es einmal derart untertrieben auszudrücken – oder dass er niemals gefunden wurde.

Ich versuchte mich in der Folgezeit an meinem Arbeitsplatz einzurichten und hatte Angst vor meiner nächsten Begegnung mit dem Zahndämon. Ich war sicher, dass die nicht lange auf sie warten lassen würde.