Von Sylvia Seelert

Rechts außen mit Blick von oben war seine Lieblingsposition. Dabei konnte er seinen Standpunkt nicht ernsthaft verändern, außer ihm wurde durch eine Faust oder einem Unfall mit der Gartenharke eine gänzlich andere Richtung gegeben: Und dies bedeutete, sein kuschelig, warmes Territorium gänzlich zu verlassen. Die tiefe und lange Verwurzelung mit seiner Heimat gab ihm jedoch Halt genug, dies nicht zu befürchten. Lediglich die Ungeschicktheit seiner Besitzerin in letzter Zeit bereitete ihm schon mal das ein oder andere Unbehagen. Dabei hatte er doch gerade erst den oberen Platz für sich in Anspruch genommen und den Vorgänger rausgeschmissen. Und seitdem liebte er diesen Ort. Hinabzublicken oder sich auch nach außen in all seiner Pracht zu präsentieren. Ein stolzer Caninus, der seine Beute mit Kraft zerbiss.

 

Hilde, gerade zwölf geworden, war verliebt. Sie war ein rauflustiges, junges Mädchen mit umherfliegenden roten Zöpfen und einer Menge Sommersprossen. Und wer es wagte, sich über die Sommersprossen lustig zu machen,  der bekam von ihr mit gefletschten Zähnen schon mal die Faust zu spüren. Sie war die unangefochtene Herrscherin in ihrer Klasse. Bis Chiron kam.

 

Er konnte sich den Wandel nicht erklären. Jedes Mal wenn diese eine Person auftauchte, geschah etwas mit seiner Besitzerin. Die sonst angespannten Muskeln um sie alle herum, wurden ganz weich und nachlässig. Statt sich grimmig nach außen zu zeigen, war nun LÄCHELN angesagt. Alle in seiner Nähe waren sich einig, dass dies allerdings eher ein Lächeln der dümmlichen Art war. Die  Incisivis neben ihm schämten sich gar dafür. So wollten sie sich nicht zeigen. Ihr ganzes Dasein war auf das Zerteilen ausgerichtet. Alles, was zwischen sie geriet, wurde fachgerecht zerlegt. Und nun das. Schlimmer noch, die Besitzerin geriet irgendwie in einen drogenähnlichen Zustand, so dass sie dabei Tische, Stühle oder sonstige Gegenstände vor sich nicht mehr wahrnahm. Sie taumelte nicht selten dabei, so dass große Panik gerade in den vorderen Reihen ausbrach. Was, wenn sie ungünstig mit ihrem Gesicht aufschlug? Die Folgen waren nicht auszudenken!

 

Chiron hatte eine sanfte, ernsthafte Ausstrahlung. Die dunklen Augen verbargen Geschichten, die sich Hilde kaum vorstellen konnte. Von Syrien wusste sie nur, dass dort Krieg herrschte. Das hatte die Lehrerin erzählt, bevor er in ihre Klasse kam. Er sprach ihre Sprache noch sehr holprig, verstand jedoch jedes Wort, was sie sagten. Und er konnte Mathe besser als sie. Es war in dem Moment um sie geschehen, als ihr Handy durch eine ungeschickte Bewegung aus ihrer Jackentasche fiel, sie gleichzeitig danach griffen, um es aufzuheben, und er dabei ihre Finger berührte.

 

Die Molaren in ihren dunklen Ecken wollten murrend wissen, was denn zum Teufel los wäre. Sie fühlten sich durch den Aufruhr vorne in ihrer behäbigen und meditativen Tätigkeit des Zermahlens von Nahrung gestört. Sie verlangten Antworten. Und sie verlangten vor allem nach mehr Essen. In letzter Zeit war die Lieferung länger ausgeblieben und sie fingen an, sich zu langweilen. Caninus erging es ebenso. Der Drang, die Dinge, die durch das Eingangstor kamen, zu zerreißen, war groß.

 

Hilde konnte nichts mehr essen. Sie träumte nur noch von Chiron. Von seiner leisen und dennoch festen Stimme und wie er sie mit den Fingern berührt hatte. Sie hatte noch nicht einmal mehr Lust, jemanden zu verprügeln, um ihre Vorherrschaft in der Klasse zu unterstreichen. Ganz schlimm wurde es, als sie Chiron mit Lilli aus der Nebenklasse sah. Wie vertraut sie miteinander tuschelten. Da schossen ihr die Tränen in die Augen.

 

Sie wurden alle durchgeschüttelt. So was hatten sie noch nie erlebt. Es knirschte und mahlte zwischen ihnen, ohne jegliche Nahrung. Und die Muskeln waren ganz verkrampft. Es tat ihnen bis in die Wurzeln weh. Welch ein Leiden! Wenn Caninus gekonnt hätte, dann hätte er jetzt seinen geliebten Platz verlassen und sich etwas Neues gesucht. Doch er war gebunden. Wie alle um ihn herum auch. Mit ihrer Geburt hatten sie einen Vertrag für die Ewigkeit unterschrieben. Und sie mussten ertragen, was kam. Auch wenn Caninus das Fleisch liebte, so musste er auch Bonbons und widerlich klebende Paradiesäpfel zerbeißen. Vielleicht konnte er mit solch einem Apfel seinem Leben ein Ende bereiten?

Hilde versank in tiefes Grübeln. Ein Ziehen oben rechts in ihrem Mund riss sie schließlich aus den trüben Gedanken. Dieser Schlampe von Lilli würde sie es zeigen. Das hier waren ihr Revier und ihr Junge. Grimmig ballte sie die Faust und lauerte ihr auf dem Schulhof auf.

 

Hurra, dachte Caninus. Das ist mein Mädel. Jetzt wird es wieder wie vorher sein.

 

Hilde packte Lilli grob am Arm und schrie sie an. Sie solle gefälligst Chiron in Ruhe lassen. Das wäre ihre Beute. Sie zerrte an ihren Haaren und schlug sie ins Gesicht. Eine Hand von hinten zog sie von Lilli zurück und drehte sie energisch um. Es war Chrion mit seinem älteren Bruder. Und beide sahen nicht freundlich aus.

 

Oh je, dachte Caninus noch, dann kam der Schmerz…

 

Jammernd hielt sich Hilde die Hand vor ihrem Mund.

 

Caninus war erleichtert. Es hatte den Schneidezahn neben ihm erwischt.