Von Eva Fischer 

Die Buchstaben und Zahlen auf dem Handy sind eindeutig. Das Date mit Herrn Z. um 11 Uhr ließe sich wegscrollen, aber die Hoffnung ist dahin, der Termin wäre erst in einer Woche, einem Monat, einem Jahr, nein, der Termin ist heute.

Lena seufzt. Sie muss sich auf den Weg machen. Die Frühlingssonne bescheint ihre furchtsame Seele. Herr Z. wohnt in einem modernen, weiß gestrichenen Haus mit hohen Fenstern und einer breiten einladenden Glastür, hinter der sich ein roter Teppich schlängelt. Die Besucher sollen sich wohl wie Filmstars fühlen, denkt Lena, heldenhaft und oscarverdächtig. Eine riesige Erdbeere wächst aus dem Sisalläufer. Neben ihr macht sich eine aufgeschnittene Orange breit, in Plastik, for ever young. Beide Früchte sind nicht der Verrottung preisgegeben, werden nie stinken, werden nie duften, werden nie in Mägen wandern, werden nie schmecken.

Lena schaut in die hundert gelben Augen der Erdbeere, die so groß wie ein Kind ist.

 

*

 

Sie streichelt die semmelblonden Locken am warmen Körper des Tieres. Bobby ist ihr einziger Spielgefährte hier draußen im kleinen Garten, an dessen Ende die Bahn ab und zu vorbeirauscht und  große Sonnenblumen im Wind schaukeln. Die Mutter ist im Haus, arbeitet an einer Strickmaschine. Ritsch ratsch tönt es den ganzen Tag.

   

Erdbällchen wirbeln durch die Luft. Sie lacht, versucht sie zu fangen. Vergeblich! Immer mehr Erdkrumen schießen in ihre Richtung, setzen sich in ihrem Haar fest. Sie schüttelt den Kopf, schmeckt den erdigen, nicht beerigen Geschmack im Mund. Sie greift nach dem Fell, das nicht mehr da ist. Ein Zaun trennt sie und Bobby. Er wartet und sie versteht. Sie muss sich durch das Loch zwängen, das er gerade für sie beide gebuddelt hat, so wie er.

 

Der Blickwinkel hat sich verändert. Der Zaun schützt nicht mehr die kleine Welt. Eine Asphaltstraße schlängelt sich ins Nirgendwo. Bobby setzt sich in Bewegung. Ihre Beine sind so groß wie seine, doch er ist schneller. Er hat vier davon. Sie stützt sich auf seinen Rücken. Gemeinsam überqueren sie die Straße. Ein Autofahrer sieht beide nur im Rückspiegel.

Wiesen so weit wie das Meer breiten sich vor ihnen aus. Uneben. Stolperig. Die Fallhöhe ist gering. Hinfallen ist keine Schande, wohl aber liegenbleiben.

Jungen spielen Fußball. Achtjährige Riesen. Bobby will mitspielen, dem Ball hinterherjagen, nimmt aber wieder Platz neben seiner kleinen dreijährigen Prinzessin, die das Weggehen des Hundes lautstark beklagt hat, und sich nun in sein Fell kuschelt von der Sonne im endlosen Blau beschienen.

 

Die Zeit kennt kein Ticken, nur das Summen der Bienen. Irgendwann schiebt sich das Gesicht der Mutter vor die Sonne. Schneeweiß. Zitternd. „Lenal! Gott sei Dank. Da bist du ja!“ Freudentränen tropfen auf das Gesicht des Kindes. Der Hund wird bestraft, bekommt mit der Leine einen Hieb auf das Hinterteil, jault auf. Lena reißt zuerst die Augen auf und dann den Mund, schreit alle Ungerechtigkeit in die Welt hinaus. Bobby, ihr ritterlicher Freund, hat Besseres verdient.

 

*

 

Lena möchte weg von diesem Ort, aber es gibt keinen Bobby mehr, der sie auf einer Sommerwiese absetzt.

Sie geht den roten Teppich weiter entlang, steigt die Treppe hoch. Auf der obersten Stufe hockt ein steinerner Vogel mit spitzem, auf sie gerichteten Schnabel.

 

*

 
Im schwarzem Anzug sitzen sie vor ihr wie die Krähen. Aufmunternd lächeln sie ihr zu. Sie wissen nicht, dass sie am liebsten weggeflogen wäre. Weit weg! Nach Australien! Nur um ihren Fragen zu entgehen. Wird sie sich noch an das erinnern, was sie sich über Monate und Jahre eingebläut hat?All das Wissen, das sie jetzt zum Leben erwecken muss. Sie schluckt. Die Angst schnürt ihr die Kehle zu. Sie räuspert sich, sieht auf das Glas Wasser des Prüfers. „Möchten Sie einen Schluck?“ Sie schüttelt den Kopf. Die eigenen Worte klingen fremd in ihren Ohren. Zähne zeigen. Lächeln. Immer weiter reden. Hektische rote Flecke auf ihrem Ausschnitt geben der Angst eine Farbe.
Aber dann fließt der Redefluss. Sie hat es geschafft, kann es kaum glauben. Hände schütteln.
 
*

 

Schnitt. Vorerst.

Prüfungen hören nie auf. Wenn man Glück hat, lassen sie einem Zeit, bis man wieder Atem geschöpft hat.

 

Beziehungskrisen. Kein Schlupfloch, um sich vor Wut und Enttäuschung in Sicherheit zu bringen, vor Missverständnissen, vor zu viel oder zu wenig Nähe, vor Erwartungen, die man nicht erfüllen kann oder vor zu viel Zuckerwatteträumen.

 

Lena bekommt einen Stuhl zugewiesen und starrt auf die weiße sterile Wand.  

 

*

 

Das kleine Gesicht mit der spitz gewordenen Nase unterscheidet sich kaum von dem weißen Kopfkissen. Die Augenlider flackern unruhig wie eine Kerze im Wind. Die Gespräche sind schon länger erloschen. Worte verblassen wie Tinte im Regen. Lena umfasst die Hand, möchte sie wärmen.

Die alte Frau sieht sie an für einen Augenblick. „Ach, Lenal! Gib dir keine Mühe! Jeder ist einmal dran. Du wolltest manchmal weglaufen. Am Ende geht das ganz von alleine.“

 

*

 

„Frau Schweigert?“

Lena fährt hoch.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden. Der Doktor erwartet sie.“

 

„Guten Tag, Frau Schweigert! Wie geht es Ihnen? (professionelles, nichtssagendes Colgatelächeln)

Wie wir bereits besprochen haben, sind Ihre Zähne aufgrund fortgeschrittener Paradontose leider nicht mehr zu retten. Ich begrüße Ihre Entscheidung, sich alle Zähne ziehen zu lassen.  Wir werden Implantate einsetzen. Sie werden sehen, Ihr Lächeln wird hinterher schöner als vorher.“