Von Dagmar Droste

Wie ein Messer bohrte sich das Entsetzen in Annas Herz.

 

„Mark, wach auf“, schrie sie ihn an und schlug ihm ins Gesicht.

 

„Hörst du …, verdammt, schau mich an“, kreidebleich und hektisch schüttelte sie seinen schlaffen Körper. Um ihn herum zerknüllte Blisterpackungen eines Schlafmittels, dazwischen eine leere Whiskyflasche. Mit zittrigen Fingern wählte sie die 112.

 

Seit gestern saß sie an seinem Bett. Er würde es schaffen, hatte der Arzt versichert und ihr geraten, heimzugehen. „Wir melden uns, wenn er aufwacht“.

 

Anna blieb. Zusammengesunken kauerte sie im Sessel, konzentrierte sich auf Marks Atem, sandte stille Gebete gen Himmel. Es half ihr, ihre Angst um ihn zu kontrollieren, derweil die Erinnerungen sie überfluteten.

 

Mark hatte sie jederzeit respektvoll behandelt. Ihre Beziehung basierte auf einer wortlosen Übereinkunft. Sie bot ihm, wonach er gesucht hatte, eine grazile, reizvolle Begleiterin zum Repräsentieren und eine fesselnde Gespielin zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und Wünsche. Im Gegenzug hatte er sie großzügig entlohnt und ihr das Leben einer wohlhabenden, angesehenen Gefährtin ermöglicht. Den Luxus und das unkomplizierte Dasein hatte sie genossen. Von Liebe oder sonstigen Gefühlen war nie die Rede gewesen. Nachdem ihm das Geld ausgegangen war, hatte sie das Agreement beendet und war zu Sascha gewechselt.

 

Anna versuchte, die bedrückenden Gedanken abzuschütteln. Sie erhob sich und bewegte sich behutsam durch das Krankenzimmer, blieb am Waschbecken stehen und wusch sich die Hände. Der Waschzwang, diese ständige Empfindung, beschmutzt zu sein. Sie schaute in den Spiegel über dem Waschtisch, strich sich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und starrte sich an.

 

„Wer bist du, Anna? Wie bist du geworden, was du bist?“, fragte sie sich. Ihre Gefühle waren tot, schon lange tot.

 

***

 

Im Alter von elf Jahren entdeckte der Freund ihrer Mutter ihre körperlichen Vorzüge. Abends, wenn diese das Haus verlies, um ihrer Tätigkeit in einem Restaurant nachzugehen, war sie ihm ausgeliefert. Er machte sie gefügig, erst subtil.

 

„Hast du Lust, mit mir zu spielen?“ Anna brachte Karten- und Brettspiele herbei.

 

Ja, das klappte ausgezeichnet. Auch er hatte Spielideen. Pfänderspiele. Als sie sich weigerte, die Hüllen fallen zu lassen, half er nach – Gewalt gegen Vertrauen! Sie begriff die Welt nicht mehr.

 

„Das bleibt unser kleines Geheimnis“, flüsterte er ihr verschwörerisch zu.

 

„Mama“, versuchte, Anna Hilfe zu erhalten, „bitte …, er fasst mich an und, und …“ – Wie sollte sie Unaussprechliches in Worte fassen?

 

„Willst du mir sagen, er belästigt dich?“, ihre Mutter lachte schallend auf, „was bildest du dir ein?“

 

„Jaja“, stotterte Anna.

 

„Du bist ja nicht gescheit. Lass mich mit deinen pubertären Fantasien in Ruhe.“

 

Anna schwieg.

 

„Du willst doch deiner Mutter keine Sorgen bereiten?“, vernahm sie von ihm drohend. „Zier dich nicht so, es gefällt dir ja auch“, hörte sie seine schleimige Stimme an ihrem Ohr.

 

Sie biß, spuckte, schlug ihn – er lachte.

 

Wenn sich ihre Angst in Gefühllosigkeit verwandelte, ihre Selbstzweifel und Anspannung ins Unerträgliche wuchsen, ritzte sie sich.

 

„Was ist mit dir los?“, reagierte ihre Mutter mit Unverständnis, „von Tag zu Tag wirst du dünner, iss mehr!“

 

Anna träumte sich in eine andere, bessere Welt. „Eine Träumerin“, meinte die Lehrerin und ließ Annas Mutter kommen.

 

„Kind, warum passt du in der Schule nicht auf? Mit deinen miserablen Zeugnissen findest du keinen Ausbildungsplatz.“

 

„Mama“, bat sie flehend um Gehör, „er macht komische Sachen mit mir, bitte …“

 

„Was funktioniert in deinem Kopf nicht mehr?“, unterbrach ihre Mutter sie barsch, „Du siehst zu viele Filme.“ Sie war empört.

 

Alleingelassen, verdichtete sich ihre innere Qual zum blanken Entsetzen, einem Grauen, das ihre Sinne spaltete. Sie trug langärmelige Oberteile, um die blutig geritzten Unterarme zu verdecken. Eines Tages stürzte sie sich mit dem Messer auf ihn. Sie verletzte ihn – ihn zu töten, dafür hatte ihre Kraft nicht gereicht.

 

„Deine Tochter ist verrückt, durchgeknallt. Was findet sie an mir? Ständig verfolgt sie mich mit ihren Avancen“, beschwerte er sich bei ihrer Mutter, „dieses frühreife Blag macht bloß Ärger, vor ihr bin ich nicht sicher. Entweder sie oder ich!“

 

„Warum gönnst du mir das Glück mit meinem Freund nicht?“, klagte ihre Mutter sie an, „du zerstörst alles, unsere Familie.“

 

Sie ritzte nicht. – Sie schnitt sich die Pulsader auf.

 

Anna kam in die Psychiatrie. Ein tiefgreifendes Ereignis. Für sie war es die Freiheit in geschlossenen Räumen. Nach einem Jahr wechselte sie in eine Wohngruppe. Therapeuten und Sozialarbeiter halfen ihr, wieder den Weg ins Leben zu finden. Die äußeren Wunden verheilten, die unsichtbaren ihrer Seele blieben.

 

Männer verachtete sie, sie fuhren auf ihre sichtbaren Reize ab, derer sie sich bewusst war. Anna gab es nicht umsonst! Nie mehr, schwor sie sich, würde ein Kerl sie dominieren. Sie bot ihre Dienste einem Escort Service an, begleitete Geschäftsreisende, feierte im prachtvollen, verschwenderischen Ambiente, blieb bei dem einen oder anderen Herrn länger.

 

Es war Marks siebenunddreißigster Geburtstag, hier entstieg sie einem Karton. Sie trat, als ein Geburtstagsgeschenk, in sein Leben. Er verfügte über ausreichende Mittel, um ihre Ansprüche zu befriedigen. – Sie blieb bei ihm, bis zu seinem finanziellen Ruin, seinen Depressionen und dem Verlust seines Jobs.

 

***

 

Innere Anspannung ließ sie erzittern. Aufmerksam lauschte sie Marks friedlichen Atemzügen. Scheu berührte sie seine Hand, streichelte zärtlich über sein Gesicht, um sich sofort wieder erschrocken zurückzuziehen.

 

Schuld – sie fühlte Schuld – Scham, verachtete sich für die Geschehnisse der Vergangenheit. Sie hatte ihrer Mutter Unglück beschert – und nun Mark. Anna lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe und schaute auf das Treiben der Straße. Erinnerungen – immer wieder die gleichen Bilder.

 

Sie betrachtete Mark, zeichnete mit ihren Augen jede Linie seines Gesichts nach. Er war ihr so vertraut und doch erschien es ihr, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Erregung, eine Ahnung, die sie nicht einzuordnen vermochte, erfasste ihre Sinne. Sie setzte sich auf sein Bett.

 

„Mark“, flüsterte sie, „haben wir noch eine Chance?“, sie schaute ihn an, „ich… ich würde … ich würde dir vertrauen – vielleicht – ich würde es versuchen.“ Tränen rannen ihr über die Wangen, während sie diese Worte stockend hervorbrachte. Nach langer Zeit erlaubte sie sich, zu weinen.

 

Still saß Anna an seinem Bett. Es dämmerte, die Bettlampe verbreitete einen kargen Lichtschein im Raum. Sie wartete, nickte ein.

 

„Anna?“, hörte sie Marks Stimme, „was machst du hier?“

 

„Mark …“, – und es erging ihr wie früher, sie fand keine Worte für ein Gefühl, das sie zuvor nicht erlebt hatte.

 

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