Von Lea Naum

Ticktack … Ticktack … Arnold sitzt am Küchentisch. Er fixiert die Wanduhr über dem Kühlschrank. Noch zwei Sekunden! Ticktack! Arnold steht ächzend auf. Das Rheuma zwackt. Egal! Fünf vor Zwölf. Es geht los! Arnold schlurft in den Flur bis zur Haustür. Prüfend dreht er den Schlüssel im Schloss. Abgeschlossen! Alles in Ordnung. Er lässt er sich auf einen Schemel an der Tür fallen. So kann er bequem durch den Spion gucken. Er überblickt den Weg vom Haus bis zum Gartentor. Der erste Schnee des Jahres glitzert in der Sonne. Arnold freut sich. Perfekt! So sieht er genau, ob jemand in seinem Garten rumschleicht. Man kann ja nie wissen! Arnold schnappt sich das Klemmbrett von einem der Zeitungsstapel im Flur und schaut nach. Vorgestern kamen sie 14 Minuten zu spät, gestern acht Minuten und vor vier Tagen war es eine geschlagene Dreiviertelstunde! Arnold wirft einen Blick auf den Wecker, den er auf einem Umzugskarton postiert hat. Noch drei Minuten. Unerwartet Motorengeräusche! Eine Autotür klappt. Arnold lugt durch den Spion. Kaum zu glauben! Der Essenfahrer! Zwei Minuten zu früh! Die vom Lieferservice können sich einfach nicht an die Zeit halten! Arnold schaut wieder durch den Spion. Der Essenmann hastet den Gartenweg entlang. Arnold lauscht. Das schabende Geräusch Styroporbehälter auf Stein! Abwarten! Schnee knirscht, Gartentor quietscht, Autotür knallt, Motorgeräusch, weg ist er. Arnold schaut nochmal durch den Spion. Keiner mehr da. Nur Fußspuren im Schnee. Arnold erhebt sich ächzend und schließt die Haustür auf. Der Essenbehälter steht an seinem Platz. Er bückt sich. Autsch! Der Rücken! Arnold windet sich vor Schmerz um seine eigene Achse. Da sieht er sie! Spuren! Abdrücke von Pfoten! Ein Tier! Direkt hinter ihm war ein Tier! Schlimmer noch! Blutstropfen! Pfotenabdrücke und Blutflecke führen direkt in seinen Flur. Ein blutendes Viech ist in seinem Haus!

 

Um ein Haar wäre Napoleon zu spät gekommen. Ärger mit dem Erzrivalen! Der aufgetakelte Zugezogene aus dem Maulwurfshügelgarten hat ihn angepöbelt. Aufgestellte Ohren, Fell wie auftoupiert und dann eine frontale Attacke. Der Schnösel erwischte ihn voll am Ohr. Napoleon konnte sich losreißen. Gerade als er den Gegenangriff starten wollte, drang das Motorengeräusch an sein Ohr. So gern er es dem langhaarigen Fatzke gezeigt hätte, er musste von ihm ablassen. Napoleon wandte sich brüsk um, sprintete durch drei Gärten, über die Straße, durch das Gebüsch und den Zaun bis zur Hausecke.

Hier lauert er. Der Essenmann steigt in sein Auto. Motorgeräusch, das Auto rollt los. Napoleon spannt die Muskeln an. Die Haustür öffnet sich. Napoleon stiebt wie ein geölter Blitz um die Ecke und schießt in dem Moment ins Haus, in dem sich der lahme Mensch nach dem Behälter bückt.

 

Arnold stöhnt vor Schmerz. Bestimmt hat er einen Hexenschuss. Nebensache! Viel wichtiger ist das Viech! Er muss dieses verfluchte Mistvieh finden. Falls nicht, wird es alles im Haus anfressen, anpinkeln, voll kacken und noch Kumpane anschleppen. Eine Katastrophe! Auf sowas haben die da draußen nur gewartet! Es stinkt, werden sie sagen und es gibt Ungeziefer! Dann räumen sie sein Haus aus und stecken ihn ins Heim. Dort muss er Armgymnastik mit Gummibändern machen, im Takt zu Volksmusik klatschen und auf einer gummierten Pinkelunterlage schlafen. Niemals! Arnold braucht einen Plan. Als Erstes muss er rausfinden, was es überhaupt für ein Tier ist. Dann kann er sich eine Falle ausdenken. Die Pfotenabdrücke! Was kann das sein? Waschbär? Dachs? Frettchen? Biber? Wolf? Im Radio haben sie gesagt, die schleichen wieder da draußen rum. Arnold schaudert! Im Geist geht er sein Waffenarsenal durch. Er hat ein langes Brotmesser. Im Keller muss eine Forke liegen und dann gibt es irgendwo ein altes Fischernetz. Das könnte er über die Bestie werfen, wie die Tierfänger im Fernsehen. Na bitte! Wusste er es doch! Irgendwann würde er das Netz brauchen. Irgendwann braucht man immer alles! Jetzt muss er erstmal Brehms Tierleben suchen. Sicher sind da Bilder von Pfotenabdrücken drin. Der Brehm hat 13 Bände. Soviel weiß Arnold. Was er nicht weiß – wo die abgeblieben sind.

 

Napoleon hockt auf einem übermannshohen Zeitungsstapel im Flur. Sein linkes Ohr schmerzt höllisch. Er kann sich jetzt nicht darum kümmern, denn unten herrscht Unruhe. Statt wie immer die Kiste auf die Anrichte zu stellen, das Essen rauszuholen und sich an den Tisch zu setzen, tappt der Mensch komisch krumm herum. Was ist mit dem los? Der hat echt Schwein, dass er nicht jagen muss, sondern die Beute vor die Tür gelegt kriegt. Der verkrümmte Mensch schlurft in den Flur. Napoleon duckt sich. In letzter Sekunde hebt er seinen Schwanz, der eben noch verräterisch herunterhing. Napoleon kann direkt auf den kahlen Menschenschädel gucken. Komisch, dass dem selbst im Winter da kein Fell wächst. Der kahle Kopf verschwindet im Zimmer nebenan. Es klappert, rumpelt und raschelt. Napoleon springt auf einen Stapel alter Obstkisten gleich neben der Tür und späht ins Zimmer. Auch hier ist alles vollgestopft mit Regalen, Kisten und Papierstapeln. Das ganze Haus ist so eingerichtet. Einfach irre! Kein Vergleich zu Napoleons alter Wohnung. Da gab es polierte Böden, schwarze Hochglanzmöbel und kalte weiße Ledersessel. Nirgendwo konnte er sich verstecken. Hier muss er nicht mal eine Pfote auf den Boden setzen. Er kann von Stapel zu Regal springen, in alte Körbe abtauchen oder in rostigen Waschmaschinentrommeln verschwinden. Es gibt Kisten voller Klamotten, Decken, Planen und im Keller … frische Mäuse!!! Das Paradies! Napoleon hatte es im Frühling entdeckt, als er eine Maus verfolgte. Kurz darauf tauchte im schwarzweißen Hochglanzhaus ein kolossaler, farblich passender Sabberköter auf. Der gab den Ausschlag. Napoleon entschied sich für einen Umzug.

 

Arnold schwitzt vor Anstrengung. Seit Jahren war er nicht mehr im ersten Stock. Hier muss der Brehm sein. Zwischen den Kartonstapeln, Plastiksäcken und Metallregalen gibt es nur schmale Gänge. Arnold passt nicht durch. Verdammt! Dass er in letzter Zeit ein wenig zugelegt hat, schwante ihm. Aber so reichlich? Vielleicht klappt es seitwärts, mit eingezogenem Bauch? Arnold dreht sich, hebt die Arme an und schiebt sich Schritt für Schritt in den Gang. Seine rechte Hand streift irgendetwas Weiches, Haariges. Uuuaaaahh! Was ist das? Das Viech!!! Es ist hier! Arnold dreht sich vor Schreck, stößt an das Regal, kommt ins Wanken, hält sich mit einer Hand an einer Regalstrebe fest und greift mit der anderen den Rand eines Bottichs. Alles wackelt, knirscht, klappert und stürzt mit Getöse über Arnold zusammen.

 

Napoleon schreckt auf. Was ist das für ein Lärm? Mist. Gerade hatte er einen frischen Mäusesnack. Nun hat er es sich in einem Wäschekorb für ein Verdauungsschläfchen bequem gemacht. Napoleon rappelt sich hoch. Kellertreppe rauf, Umsehen im Erdgeschoss. Merkwürdig. Der Mensch ist nirgendwo zu sehen. Napoleon eilt die Gänge entlang. Er inspiziert alle Zimmer, springt auf Regale, auf Türme aus Zeitungen und Katalogen, wieder hinab. Nichts. Dann ein Stöhnen. Es kommt von oben. Potzblitz! Dort war bisher immer alles abgeschlossen! Geschmeidig spurtet Napoleon die Treppe rauf. Er flutscht durch die offene Tür und springt sofort auf einen alten Schrank gleich an der Wand. Da sieht er ihn. Aus allerlei Zeugs ragt das braune Hilfsfell. In dem steckt der Mensch, seine untere Hälfte jedenfalls. Gekeuche und Gestöhn. Dann taucht der kahle Schädel auf. Napoleon traut seinen Augen nicht. Auf dem kahlen Schädel klebt Blut. Ohhh! Es gab einen Kampf!!! Napoleon stellt sein Fell auf. Der Eindringling soll ihn kennenlernen! Geduckt schleicht er auf den Regalen entlang. Über seinem verletzten Menschen angekommen, späht Napoleon in die Runde. Da erblickt er ihn. Rabenschwarz! Versteckt sich im Regal gegenüber. Dem wird er es zeigen! Haare und Ohren aufgestellt, Sprung, Krallen raus, Biss! Bähhh! Ein Fell! Es ist nur ein Fell! Napoleon schüttelt es eine Sekunde, um sicher zu gehen, dass da nichts mehr lebt. Dann lässt er es fallen.      

 

Arnold sitzt auf dem Bettrand. Er reibt sich den schmerzenden Schädel. Der alte Espressokocher oben aus dem Regal hat ihm eine blutende Platzwunde auf dem Schädel eingebracht. Arnold pellt sich ächzend aus seiner braunen Kordhose. Das linke Bein ist auch lädiert. Der Rand des Bottichs hat einen tiefen Abdruck auf seinem Oberschenkel hinterlassen. Der färbt sich gerade blau. Den Brehm hat er nicht gefunden. Was für ein besch … Tag! Wenigstens ist das Katzenfell wieder da. Das hat er lange vermisst. Wie aus dem Nichts fiel es auf seinem Rücken, gerade als er sein Bein aus dem Zuber zog. Arnold inspiziert das Fell. Es ist pechschwarz und hat zum Umbinden graue Samtbänder an den Enden. Es wird garantiert gegen sein Rheuma helfen.       

 

Napoleon lugt vom Schlafzimmerschrank herunter. Der Mensch trägt den gestreiften dünnen Ersatzpelz, den er immer zum Schlafen benutzt. Um seine Mitte hat er das echte schwarze Fell gebunden. Das kann nur eins bedeuten! Er will ein echter Artgenosse sein! Napoleon klopft das Herz vor Glück, aber er ist besonnen. Abwarten! Nach einer Weile ertönen die ihm bekannten Sägegeräusche. Napoleon springt vom Schrank und schleicht zum Bett. Sprung auf den Bettpfosten, runter auf die Matratze und dann – Pfote für Pfote – hin zu Arnold. Sein Mensch atmet friedlich und fühlt sich warm an. Napoleon kuschelt sich an seinen Rücken. Das hatte er schon lange vor.

 

Als Arnold aufwacht, fühlt er sich seltsam ausgeruht und entspannt. Beim Aufrichten spürt er kaum Schmerzen. Das muss an dem Katzenfell liegen. Zeit, Brehms Tierleben zu suchen. Bestimmt steht da auch was über Katzen drin. Eine echte wäre sicher auch nicht schlecht. Schon wegen der Mäuse im Keller.

 

Napoleon wartet auf einem Bücherstapel im Flur. Gleich wird sein Mensch die Zeitung reinholen. Dann kann er rausschlüpfen und dem Langhaarschnösel eins überbraten! Hauptsache er ist pünktlich wieder zu Hause!

 

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