Von Herbert Glaser
- Juli
Liebes Tagebuch, ich bin Corinna.
In wenigen Tagen werde ich 16 Jahre alt. Deshalb möchte ich dir ab und zu meine Gedanken anvertrauen. Es ist gut, zu wissen, dass ich vor dir nichts verbergen muss und niemand sonst etwas daraus erfährt. Außer Natalie, meine beste Freundin, die auch die Idee zu diesem Tagebuch hatte.
Ich kenne sie schon seit vielen Jahren und bin traurig, weil ich sie jetzt nicht mehr jeden Tag sehen kann. Aber in zwei Wochen beginnen die Ferien und da will sie mich besuchen kommen, das hat sie mir versprochen.
- Juli
Endlich Ferien!
Das Zeugnis ist nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte. Hauptsache bestanden.
Mama und Papa sind auch zufrieden, was bleibt ihnen auch anderes übrig. Von Oma habe ich die übliche Belohnung bekommen. Ich glaube, sie hat mein Zeugnis gar nicht angesehen.
Nächste Woche kommt Natalie, ich freue mich riesig.
- August
Gestern stundenlang mit Natalie auf der Couch gesessen und geplaudert. Erst um 4:00 Uhr ins Bett. Konnte trotzdem nicht einschlafen. Sie besteht auf der Wanderung, weil sie meint, es wird mir helfen.
Warum tue ich mir das an?
Natalie lässt nicht locker. Sie meint sogar, dass sie sofort wieder verschwindet, wenn ich es nicht wenigstens versuche.
Es ist die gleiche Strecke, auf der ich als Kind beinahe abgestürzt wäre und nun soll ich meinen Spuren von damals folgen.
Ich habe Angst, denn ich bin nicht schwindelfrei.
„Du schaffst das, ich weiß es und bin immer in deiner Nähe“, redet sie beruhigend auf mich ein und geht einige Schritte voran. „Siehst du, alles kein Problem, bleib einfach dicht hinter mir.“
Wir wandern einen breiten Weg entlang auf eine Schlucht zu. Weiter vorne macht er einen Bogen und nähert sich einer Felswand.
Ich versuche, immer zwei Schritte hinter Natalie zu bleiben, die zügig vorangeht, ohne sich umzudrehen.
Der Weg wird schmäler und schmiegt sich nun an die steil aufragende Wand.
Ich werde langsamer. Natalie bleibt stehen und dreht sich zu mir um.
„Schau.“ Mit ihrer linken Hand hält sie sich an dem angebrachten Metallseil fest und marschiert weiter. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, drehe mich zur Wand, packe mit beiden Händen das kalte Metall und folge ihr Schritt für Schritt mit dem Rücken zur immer tiefer werdenden Schlucht.
„Gut so!“, bestätigt mich Natalie.
Plötzlich höre ich entfernte Stimmen. Ein Paar kommt uns entgegen. Ein Liebespaar, eng umschlungen, turtelnd, kaum auf den Weg achtend. Natalie lässt die beiden passieren, die meine Freundin gar nicht zu bemerken scheinen. Ich presse mich gegen die Wand und rühre mich nicht. „Schön festhalten!“, kichert die junge Frau, und zieht ihren Partner an mir vorbei. Ich schließe die Augen, um eine Panikattacke zu unterdrücken.
Das Paar entfernt sich. Ich atme tief ein und aus, ein und aus, ein und aus, wie Natalie es mir heute Morgen gezeigt hat.
Ich sehe nach vorne, wo sie mir ermutigend zunickt.
Endlich wird der Weg wieder breiter, die Schlucht liegt hinter uns.
„Gratuliere, die Hälfte hast du schon geschafft.“
Meine Euphorie hält sich in Grenzen, denn der schlimmste Teil liegt noch vor mir.
Der Gebirgsbach ist schon von Weitem zu hören. Eine Holzhängebrücke führt den Weg fort auf die andere Seite.
Neben Natalie bleibe ich stehen und sehe das Wasser 15 Meter unter uns ins Tal rauschen. Unmöglich, das schaffe ich nicht!
Natalie scheint meine Gedanken zu lesen. „Du weißt, was passiert, wenn du jetzt umkehrst?“
Ohne meine Reaktion abzuwarten, überquert sie mit wenigen Schritten die freihängende Konstruktion und dreht sich auf der anderen Seite zu mir um.
„Nur noch ein paar Meter. Sieh einfach nicht nach unten.“
Mein Herz pocht wie verrückt und ein Kloß schnürt mir den Hals zu.
Ich lasse Natalie nicht aus den Augen, fasse die Sicherungsseile auf beiden Seiten und betrete den Holzsteg.
Meine Beine tasten sich zentimeterweise vor.
Meine Hände umklammern die Seile so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Eine Faust löst sich, schnellt ein kurzes Stück nach vorne und packt wieder zu … dann die andere Hand. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die Mitte erreicht. Das Rauschen des wilden Wassers frisst sich in mein Gehirn, alles um mich herum dreht sich.
Genau hier wäre ich als Kind fast abgestürzt, wenn mich mein Vater nicht gepackt und zur anderen Seite getragen hätte.
Etwas bringt mich aus dem Gleichgewicht, ein Windstoß vielleicht, ich falle auf die Knie.
Während ich mich mit einer Hand weiterhin krampfhaft festhalte, strecke ich die andere Natalie entgegen. „Bitte hilf mir, ich kann nicht mehr!“
„Du musst alleine weiter laufen, sonst erreichst du niemals dein Ziel. Komm zu mir.“
Tränen kullern über meine Wangen. Mit letzter Kraft stehe ich auf, lasse die Brücke hinter mir und sinke ins Gras.
Als ich endlich wieder zu mir komme, ist Natalie bereits vorausgegangen.
Ich rapple mich auf und folge ihr.
- August
Endlich habe ich meine Angst besiegt, das habe ich Natalie zu verdanken. Sie ist meine beste Freundin, mein Schutzengel.
Morgen werde ich sie zum ersten Mal besuchen.
Morgen gehe ich zu ihr und besuche ihr Grab.
ENDE
Version 3