Von Barbara Hennermann
Er hastet den Berg hinauf. Schnell, nur schnell! Und leise! Das Geröll unter seinen Stiefeln darf nicht bergabwärts rollen und ihn verraten … Das Wild ist scheu und hellhörig.
Der Rücken schmerzt ihn, wie all die Tage zuvor, und die Verletzung an der linken Schulter ist auch noch nicht völlig verheilt. Doch das Jagdfieber treibt ihn vorwärts …
Helene hüpft aus dem Bett und zieht mit einem Ruck die bunten Vorhänge zurück. Mein Gott, was für ein Panorama! Majestätisch grüßen die schneebedeckten Gipfel der Alpen zu ihr herüber.
Sie öffnet das Fenster und lässt die würzige Luft hereinfluten. Der Tag verspricht schön zu werden. Sonnig, aber nicht zu warm. Septemberwetter wie aus dem Reiseprospekt.
Sie grinst, als sich ihr Mann mit einem lauten Schnarcher im Bett herumdreht. Es war gar nicht so leicht gewesen, ihn zu dieser Reise zu überreden.
„Härbertla, schau, zur Feier unsrer Silberhochzi is des doch a feine Sach!
Des schaff mer doch no schbielend den Aufstiech.
Muss doch net an äm Daach sei.“
Ja, es war wirklich kein leichtes gewesen, Herbert zu überzeugen!
Vor fast dreißig Jahren hatten sie sich genau auf dieser Hütte in den Ötztaler Alpen kennengelernt. Beide waren mit einer Gruppe ihres örtlichen Alpenvereins unterwegs.
Zum Tisenjoch waren alle aufgestiegen und geblendet von der Gletschersonne und dem Schweigen des ewigen Eises hatten Helene und Herbert ihre gemeinsame Begeisterung für die Berge zur Basis einer Beziehung gemacht. Und es hatte funktioniert!
Der Schweiß rinnt ihm über die Stirn in die Augen, trübt seine Sicht. Doch er hört das Knacken. Er hebt den Kopf und lauscht. Ja, das müsste der Steinbock sein, den er vor einiger Zeit gesehen und dessentwegen er diesen Weg herauf genommen hat. Ein kapitales Tier, das komplett verwertet werden kann. Es würde für vieles taugen.
Unbedingt muss er es erlegen! Ist es nicht sein Jagdinstinkt, seine Umsicht und sein jagdliches Geschick, das ihm bei den Seinen so hohes Ansehen verschafft?
Ein schnaubender Schnarcher, rasselndes Stöhnen – o ja, ihr Herbert hat sich verändert …. Liebevoll blickt Helene auf den Schläfer.
Gar nicht lang hatte es gedauert, da war er von Würzburg zu ihr nach Nürnberg gezogen.
„Da mach mer doch glei Nächl mit Köpf!“, war sein Lieblingsspruch.
Anfangs hatten sie zwei Wohnungen gehabt, schließlich waren das noch andere Zeiten damals! In der Sechzigern wohnte man nicht unbehelligt als unverheiratetes Paar unter einem Dach. Im katholischen Würzburg sowieso nicht, aber auch im evangelischen Nürnberg wäre es schwierig gewesen, überhaupt eine Wohnung zu finden.
„Was ich net wess, machd mi a net hees.“
Noch so ein geflügeltes Wort von Herbert.
Denn natürlich „lief“ etwas zwischen ihnen. Selbst der Pastor um die Ecke war sich darüber im Klaren.
1966 dann die Hochzeit.
Im vierten Monat schwanger war sie gewesen. Aber das war in den Sechzigern sowieso eher Normalität als Ausnahme.
„Härbertla!“
Helene rüttelt ihren Schläfer unsanft an der Schulter.
„Härbertla, wemma heut no aufn Gibfl wolln, müss ma dann los!“
Die Antwort besteht in einem ungnädigen, rasselnden Schnarcher …
Das Knacken kommt näher.
Seltsam. War der Steinbock nicht vor ihm gewesen?
Er muss auf der Hut sein! Neid herrscht in seinem Clan. Er weiß das. Neid auf ihn. Auf sein Können, sein jagdliches Geschick, seine Stellung.
O ja! Er muss auf der Hut sein!
Was soll er tun?
Die Baumgrenze ist erreicht und auf dem anschließenden Gletschereis fehlt ihm der Schutz.
Er tastet nach den Pfeilen. Fühlt, sie sind vollzählig.
Verdammt! Warum hat er den Bogen nicht fertiggestellt? Gewiss, er würde taugen zum Erlegen des Wildes. Doch wenn …
Eng kauert er sich hinter eine Konifere und lauscht angespannt.
Nun ja … leider … Helene kann es auch nicht ändern ….
Schon schickt die Sonne die ersten warmen Strahlen zum Fenster herein.
Mit einem Ruck zieht sie ihrem Gatten die Bettdecke weg.
„Ja bis denn du narrisch worn?“
Zornig fährt Herbert in seinem Bett hoch. Aber er ist zumindest wach!
„Schätzle, dud mia echt leit, aber mer müssn los!“
Das Bergwandern behielten sie bei. Jeder Urlaub führte sie in die Berge. Ob es daran lag, dass ihre Tochter Mathilda immer ans Meer fuhr, seitdem sie nicht mehr mit den Eltern Urlaub machte?
Egal. Helene und Herbert waren sich einig.
Fast einig zumindest.
Herbert hatte, das war nicht zu leugnen, in den Ehejahren einiges an Gewicht zugelegt. Statt Bergtouren waren ihm gemütliche Spaziergänge lieber geworden.
„Schau, Helene, warum solln mer uns in unserm Alder noch schweißdreibente Durn andun? Gemüdlich geht’s doch aa und mer ham unsern Schbas.“
Das Tisenjoch hatten sie seit damals nicht mehr besucht.
Aber nun … aus Anlass ihrer Silberhochzeit ….
„Bäck tu se ruhts, Härbert!“
Und so waren sie wieder hier angelangt auf der Hütte …
Der Pfeil trifft ihn dennoch unerwartet.
Aus seiner Brust ringt sich der Schrei.
Er springt hoch, rennt. Rennt um sein Leben.
Hinaus auf den Gletscher.
Rutscht, fällt, steht auf. Rennt weiter.
Sein keuchender Atem mischt sich mit der eisigen Luft.
Das Krachen ist hinter ihm.
Er verliert den Bogen, die Pfeile, sein Werkzeug. Alles, was lebenswichtig ist.
Nichts hält ihn mehr, nur Angst und Schmerz.
Das Krachen hat ihn erreicht.
Er spürt den Schlag. Taumelt.
Fällt auf das Eis.
„Is des net schö hia?“
Helene breitet die Arme aus, als wolle sie das Panorama umarmen.
Gletschersonne. Gletschereis. Natur pur.
Raumgreifende Stille.
Fast …
Hinter ihr keucht Herbert den Berg herauf.
„Ich sach dia, Schätzla, des is mei letzde Gledschertur!
Es is aba heua aach a echd warms Jahr …“
Herbert wischt sich den Schweiß von der Stirn, sein Kopf ist puterrot.
„Füa sowas hab ich efach net mea die Nervn!“
Helene küsst ihren Angetrauten liebevoll auf die schweißnasse Stirn und meint:
„Noja, zua goldnen Hochzi gehn mer dann halt aufn Schwanberch!“
Fröhlich lachend beginnt sie den Anstieg über den Gletscher.
Plötzlich stockt ihr Schritt.
Das Lachen bleibt ihr im Hals stecken. Sie beugt sich nach vorne, tritt näher heran.
Schaut …. ungläubig …. erschrocken …. entsetzt ….
„Allmächt …“
Fällt in die Ewigkeit.
Herbert schreckt hoch, als er ihren Schrei hört:
„Allmächt!
Härbert, da liecht enner!
A Doader!“
hb 03/2018 V2
Nachwort: Am 19. September 1991 fand ein Ehepaar aus Nürnberg beim Bergwandern am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen eine männliche Leiche.
Es stellte sich später heraus, dass die Gletschermumie über 5000 Jahre alt sein muss. Bekannt wurde sie als „Ötzi“.