Von Beate Fischer

Die Treppe war schmal und steil wie eine Leiter. Cornelius rüttelte am Geländer. Es schien zu halten. Vorsichtig stieg er hinauf zum Dachboden. Wann mochte dieser Raum wohl zuletzt betreten worden sein? Seine Großmutter konnte die letzten Monate sicher nicht mehr hier herauf.

Doch dann sah er die Spuren im Staub. Fünf Zehen, der Ballen, die Ferse. Jemand musste vor nicht allzu langer Zeit barfuß den Raum durchquert haben.

Cornelius ging in die Hocke und zeichnete einen Abdruck nach. Schmale Füße, dachte er. Der große Zeh des linken Fußes stand in einem breiten Winkel ab. Wie bei seiner Oma. Wie bei ihm.

Er schlüpfte aus Schuhen und Socken, machte ein paar Schritte und legte so eine zweite Bahn von Spuren an, die der ersten wie ein großer Bruder glich.

 

Sein Blick glitt über die Truhen, Kisten und Koffer. Es schien ihm, als hätten sie sich an die Wände gedrückt, um dem Licht der trüben Glühbirne zu entfliehen. Ganz hinten an der Giebelseite warf plötzlich die Sonne ein paar Strahlen durch das winzige Fenster und erwischte eine Maus, die sich schnell in einem umgefallenen Stiefel verkroch.

 

Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Alles sah aus, wie in seiner Kindheit, als er hier oben viele regnerische Nachmittage verbracht hatte. Doch nein, in der Tür der verbotenen Kommode steckte ein Schlüssel. Cornelius schluckte. Er sah wieder seine Großmutter vor sich, bebend, das Gesicht verzerrt, mit erhobener Hand, bereit ihm die erste Ohrfeige seines Lebens zu verpassen, nur weil er gewagt hatte, mit einem Schraubenzieher im Schloss der Kommode zu stochern.

 

Jetzt war sie tot. Ohne ein Abschiedswort von ihnen gegangen, bevor die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren. Die Beine wollten schon eine ganze Weile nicht mehr so richtig, jede Stufe war eine Qual, offene Stellen weigerten sich, zu verheilen.

„Wenn ich anfange, euch zur Last zu fallen, ziehe ich den Stecker“, hatte sie immer wie im Scherz gesagt. Doch Cornelius hatte den Ernst in ihren Augen gesehen.

 

Überall in ihrem Häuschen spürte er noch ihre Gegenwart. In der Küche schwebte der Duft der vielen Apfelkuchen, die sie hier gebacken hatte. Ihr Ausgehkostüm hing am Kleiderhaken im Schlafzimmer: der Rock aus moosgrünem Wollstoff, die Jacke mit leuchtend gelben Sonnenblumen bedruckt. Auf dem Wohnzimmertisch türmten sich ihre aktuellen Lieblingsbücher: Gedichte von Else Lasker-Schüler, Tolstois Anna Karenina, das neueste Buch von Alice Schwarzer und Pippi Langstrumpf. An der Wand ein Selbstporträt von Paula Modersohn-Becker neben einem Südseebild von Gauguin, auf dem alten Plattenspieler „The Dark Side of the Moon“. Seine Oma hatte ihren ganz eigenen Geschmack.

 

Cornelius näherte sich der verbotenen Kommode. Schweiß rann seinen Nacken hinab, als er sich bückte und über das lackierte Kiefernholz strich. Er ließ sich im Schneidersitz nieder und starrte auf ein Astloch. Ob seine Oma gewollt hatte, dass er den Inhalt des Schränkchens sah? War sie in ihren letzten Lebenstagen hier oben gewesen und hatte den Schlüssel für ihn stecken lassen? Hatte sie alles beiseite geschafft oder war sie nur nicht mehr dazu gekommen, ihr Geheimnis weiter zu wahren? Denn dass sie etwas vor ihm und allen anderen verheimlichte, das war Cornelius schon seit einigen Jahren klar.

„Du wirst es früh genug erfahren“, hatte sie ihm ein paar Mal verschwörerisch zugeraunt, „aber erst, nachdem ich in die ewigen Jagdgründe eingegangen bin. Bitte sei mir deshalb nicht böse.“

„Sie hat mir ihr Haus vermacht, sie wollte, dass ich die Wahrheit finde“, murmelte Cornelius vor sich hin.

Seine Mutter war froh gewesen, dass sie sich um nichts kümmern musste. Zeit war bei ihr Mangelware. Als Auslandskorrespondentin einer großen Wochenzeitung war sie nur zu kurzen Zwischenstopps zu Hause. Auch zur Beerdigung war sie nur vorbeigeschneit. Fremde Menschen interessierten sie weit mehr, als ihre eigene Familie.

„Und überhaupt studierst du doch Geschichte, mein Sohn“, hatte sie zu Cornelius gesagt. „Dann kannst du jetzt mal ausführlich in deiner Familiengeschichte graben.“

 

Der Schlüssel drehte sich geräuschlos im Schloss. Die Tür schwang auf. Cornelius‘ Blick fiel auf mehrere Ordner und einen Schuhkarton.

„Wichtige Unterlagen von Martha Meister“, stand mit dickem, rotem Filzstift geschrieben auf einem schmalen Ordner. Die Worte sprangen Cornelius geradezu an. Er streichelte die Buchstaben und versuchte, ruhig zu atmen.

 

„Ich kann nicht“, stöhnte er plötzlich und sprang auf. Seine Stirn knallte gegen einen Dachbalken. Er tastete nach einer Beule, die rasch anschwoll.

„Zum Glück kein Blut“, murmelte er, als er seine Finger betrachtete. „Oma kann kein Blut sehen.“

 

Er erinnerte sich an einen Sommertag vor gut fünfzehn Jahren. Vom Spielen erhitzt, hüpfte er durch die Hintertür direkt in die Küche. Ein Fruchteis würde ihn abkühlen. Da sah er seine Großmutter auf dem Fliesenboden sitzen, blass wie eins der Leintücher, die draußen in der lauen Luft wehten. Von ihrem Zeigefinger tropfte Blut. Dunkel und schwer landete es auf einem Geschirrtuch, das über ihre Beine gebreitet war, bildete bizarre Muster. Er erkannte einen Wetterhahn, einen Hund, der nach einer Wurst schnappte und eine explodierende Schüssel mit Kirschgrütze.

„Das ist nicht mein Blut“, flüsterte seine Oma immer wieder. „Ich brauche es nicht. Es ist mir fremd.“

Sie machte keine Anstalten, die Blutung zu stillen, schloss nur die Augen und streckte ihre Hand weit von sich. Cornelius kannte sich als Pfadfinder in erster Hilfe aus und verarztete sie geschickt mit sterilen Tupfern und einer Mullbinde. Sie ließ es mit sich geschehen, folgte seinen Anweisungen, doch von da an verursachte jeder sichtbare Tropfen Blut ihr Schwindelgefühle bis zur Ohnmacht.

 

Cornelius kniete sich vor die Kommode und zog den Ordner heraus. Auf der Vorderseite klebte ein Foto: In der Mitte seine Urgroßmutter Hilde Meister, den Blick nach links in die Ferne gerichtet, auf Armeslänge entfernt von ihr seine Oma, die auf ihre Schuhe starrte, dazwischen Leere.

„So viel Distanz“, dachte er. „So wenig Nähe.“

Er suchte nach Gemeinsamkeiten und fand ein Muttermal über den linken Augen, sanft geschwungene Oberlippen, lange, fast elegante Finger. Sonst nur Unterschiede: Das Haar, die Nase, die Augen. Wie Tag und Nacht, wie Himmel und Hölle, wie weit entfernte Bekannte.

 

Er blätterte weiter. Eine Geburtsurkunde vom 15. Dezember 1945 für Martha Meister, seine Oma. Der Taufspruch aus dem Römerbrief: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Eine Vermisstenmeldung des Urgroßvaters vom Herbst 1944.

 

Cornelius stutzte. Zur früh. Diese Meldung kam zu früh.

 

Auf der nächsten Seite eine Bestätigung des Roten Kreuzes von 1946, dass Georg Meister, der Vater seiner Oma seit Ende 1944 in russischer Gefangenschaft war.

 

Cornelius schnappte nach Luft.

 

Dann eine Postkarte vom Juni 1945:

„Liebe Elisabeth, nachdem die Soldaten abgezogen sind, geht es mir besser. Ich habe wieder Luft zum Atmen. Wir mussten uns zu viert ein winziges Zimmer teilen, damit die Offiziere genügend Platz hatten. Zum Glück waren sie meist freundlich, wenn sie nicht betrunken waren. Doch ihre Anwesenheit hat unangenehme Folgen. Du weißt, was ich meine. Ich werde aufs Land gehen, bis alles vorbei ist. Bete für mich.

Deine Hilde“

 

Cornelius begann zu zittern.

 

Georgs Totenschein vom März 1947. Aus einem Lager weit im Osten.

 

Cornelius verlor alle Gewissheit. Mühsam hatte er sich daran gewöhnt, der Urenkel eines Mannes zu sein, der für die Nationalsozialisten ins Feld gezogen war. Er hatte akzeptiert, dass er seine Herkunft nicht ändern konnte, studierte Geschichte, um zu lernen, zu verstehen, um andere zu lehren und die Zukunft zu gestalten. Und jetzt das. Seine Biografie war auf einer Lüge aufgebaut, auf Scham und Verletzungen.

 

„Bin ich deshalb nicht mehr ich?“, fragte sich Cornelius. „Bin ich jetzt ein anderer Mensch?“

 

Er kaute auf seinen Fingerkuppen bis er einen metallischen Geschmack auf seiner Zunge spürte. War das fremdes Blut? Lebte er ein falsches Leben? Hatte sein anderes Leben auf diesem verstaubten Dachboden auf ihn gewartet? Konnte er es hierlassen und wieder verschwinden?

 

Er wusste es nicht.

 

Version 2