Von Ramona Großmüller

Anno 1582

Wenn man Elian gestern Abend noch gefragt hätte, ob er an Geister glaubt, dann hätte er das mit Sicherheit vehement abgestritten.

Natürlich kannte er all die Schauergeschichten, die Eltern ihren Kindern erzählten, um sie von dunklen Gassen fern zu halten oder die in den Wirthäusern zum Besten gegeben wurden, um ein bisschen aufregenden Gesprächsstoff in die einsamen Gegenden Englands zu bringen. Nicht selten war der ein oder andere Dorfbewohner tatsächlich davon überzeugt, im dichten Nebel des Vorabends ein geisterhaftes Wesen beobachtet zu haben – allerdings war das meistens auf maßlosen Alkoholkonsum zurückzuführen und keinesfalls ernst zu nehmen.

Aber Elian wurde nicht gefragt. Er fand generell kaum Beachtung in den Straßen und Dörfern, in denen er sich rumtrieb. Und wenn die Leute Notiz von ihm nahmen, dann höchstens, weil sie ihn auf frischer Tat beim Stehlen ertappen. Einen rot leuchtenden Apfel vom Markt, einen etwas streng riechenden aber dennoch genießbaren Fisch aus einem der Fischerboote oder ein herrlich duftendes und noch warmes Brötchen von einem der Bäcker. Für einen Jungen von gerade einmal zwölf Jahren war es nicht gerade einfach, sich Tag für Tag auf der Straße herumzuschlagen. Die meisten hatten mit ihm und generell mit seinesgleichen nur wenig Mitleid – wie auch, sie mussten schließlich selbst hart arbeiten, um sich und ihre Familien über die Runden zu bringen.

Jetzt saß Elian zusammengekauert in seinem Unterschlupf im Wald und starrte vorsichtig durch die Äste des Unterholzes. Es war eine sternenklare Winternacht. Der Waldboden vor ihm war mit einer frischen Schneeschicht bedeckt, deren Eiskristalle im hellen Mondlicht um die Wette glitzerten.

Vor wenigen Augenblicken hatte er noch vor seinem Versteck gestanden und ein paar Zweige zurechtgerückt, als er im Augenwinkel plötzlich eine Bewegung in einiger Entfernung ausgemacht hatte. Er hatte angenommen, dass es vielleicht ein Straßenräuber ist, der sich nachts durch den Wald treibt oder ein Bauer aus dem Dorf, der volltrunken umherirrt. Und da er in all den Jahren gelernt hatte, stets auf der Hut zu sein, hatte es nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, bis er in seinem Unterschlupf verschwunden war. Er wollte unter keinen Umständen, dass man sein Lager und die wenigen Habseligkeiten, die er besaß, entdeckte.

Doch jetzt musste er feststellen, dass er sich geirrt hatte. Nur wenige Meter von ihm entfernt glitt eine durch und durch merkwürdig aussehende Gestalt durch den Wald. Einen Mann wie diesen hatte Elian noch nie zuvor gesehen. Er war von beeindruckender Größe, stämmig gebaut und mit breiten Schultern. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sehr kräftig sein musste und seinen Gegnern im Kampf weitaus überlegen war. Sein markantes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den eisblauen Augen wurde von einem dichten Bart umrahmt. Seine langen Haare waren in ordentlichen Zöpfen nach hinten gebunden und ragten über das groß, runde Schild, das er auf dem Rücken trug. Eine Art Brustpanzer mit reicher Verzierung trug er über einem ledernen Wams. Dazu eine Tuchhose und lange Lederstiefel. Ein Pelzumhang umhüllte seine Schultern und wurde vorne von einer silbernen Brosche zusammengehalten. Seine Arme und Finger zierten Reife und Ringe aus Gold. In seinem ledernen Gürtel mit der großen, glänzenden Schnalle steckte eine Axt und in der Hand trug er ein Breitschwert.

Er war ein wahrhaft vollendeter Krieger. Ein Wikinger!

Diese Erkenntnis lies Elian mehrmals verwirrt auf blinzeln und machte ihn nervös und neugierig zu gleich. Nicht, dass er schon mal einem Wikinger begegnet wäre, denn das war zu dieser Zeit ausgesprochen unmöglich – schließlich gab es sie seit ein paar hundert Jahren nicht mehr. Aber er war sich dennoch einigermaßen sicher, dass gerade in diesem Augenblick ein Wikinger vor seinem Versteck durch den Schnee stapfte. Die Geschichten aus alten Zeiten, als die Wikinger mit ihren Langbooten die Küsten Englands überfielen und reiche Beute mit nach Hause brachten wurden schließlich noch heute erzählt. Und all die überlieferten Erzählungen trafen auf diesen Mann mehr als nur zu.

Aber wie konnte das sein? Ein echter Wikinger, in England, 1582? Das war schlicht unmöglich. Elian war sich dieser Tatsache bewusst, aber welche Erklärung konnte es sonst noch geben?

Fasziniert blickte er dem Mann nach, der soeben zwischen den dichten Nadelbäumen in den Tiefen des dunklen Waldes verschwand. Und erst da wurde ihm ein werkwürdiges Detail bewusst. Es war die ganze Zeit über still gewesen. Zu still. Der Wikinger hatte beim Gehen keinerlei Geräusche gemacht. Und das war doch sehr ungewöhnlich. Natürlich dämpfte der Schnee die meisten Laute aber das leise Knirschen, das man hört, wenn man sich über frischen Schnee bewegt, hatte eindeutig gefehlt.

Das brachte Elian auf einen ganz neuen Gedanken. Was, wenn das gar kein richtiger Mensch war – zumindest kein lebendiger? Wenn er gerade den Geist eines Nordländerkriegers aus längst vergangener Zeit gesehen hatte? Diese Erklärung war immerhin genauso gut oder unglaublich wie jede andere auch.

Elian zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann gewann seine Neugier die Oberhand. Mit nur einem Satz stand er vor seinem Unterschlupf und betrachtete die Fußspuren im Schnee. Sie waren wirklich da, es war keine Einbildung gewesen. Also setzte er sich in Bewegung. Er wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen und herausfinden, was vor sich ging. Glücklicherweise spendete der Vollmond genügend Licht, sodass er der Spur mühelos folgen konnte. Immer tiefer drang er in den Wald vor, bis plötzlich eine massive Felswand den Weg versperrte. Er kam zu einer Felsspalte, die gerade breit genug war, dass ein Mann hindurchgehen konnte. Vorsichtig trat Elian einen Schritt näher und lauschte angestrengt in die undurchdringliche Dunkelheit vor ihm. Aber es war nichts zu hören.

Er atmete einmal tief ein und wieder aus und wagte dann den ersten Schritt in die Höhle hinein. Jetzt war es sowieso zu spät, um noch umzukehren. Schon nach ein paar Schritten war er von völliger Dunkelheit umhüllt. Mit einer Hand berührte er sachte die Wand neben ihm. Der Stein fühlte sich eiskalt unter seinen Fingern an aber so konnte er sich wenigstens besser orientieren.
Da er sich praktisch blind vorwärts tasten musste, dauerte der Weg länger, als er vermutlich war. Elian schätze, dass er wohl fünfzig Meter zurückgelegt hatte, als er endlich ein schwaches Licht vor sich ausmachte. Die Steinmauer rechts und links von ihm nahm allmählich eine blasse Kontur an und nach ein paar weiteren Schritten hatte er den Sternenhimmel wieder über sich. Er war auf eine freie, felsige Fläche hinausgetreten, die in etwa so groß war, wie der Schankraum eines größeren Wirthauses. Sie war von hohen Felswänden umschlossen und oben, wo normalerweise die Decke der Höhle gewesen wäre, war ein breites, rundes Loch.

Vor Staunen stand Elians Mund weit offen. Er wusste zwar selbst nicht so recht, was er erwartet hatte aber so etwas mit Sicherheit nicht. Durch die Öffnung in der Felsendecke drang das helle Licht des Mondes und ließ direkt vor ihm zahlreiche kleine und große Gegenstände um die Wette funkeln. Münzen und Barren, Armreifen und Ringe, Becher, Schnallen, Schwerter und Äxte. Alle aus Gold und Silber und mit Edelsteinen besetzt.

Aufgeregt trat Elian näher und betrachtete die einzelnen Gegenstände eingehend. Es waren so viele und sie alle waren von einzigartiger Schönheit. Er nahm einen Armreif in die Hand, der an beiden Enden mit zwei Schlangenköpfen verziert war, deren Augen aus grünen Edelsteinen bestanden. Etwas derartig Wertvolles hatte Elian in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Er hatte keinen Zweifel, er war soeben auf einen echten Schatz gestoßen. Vermutlich war es ein altes Wikingerversteck, das so verborgen lag, dass es über all die Jahrhunderte noch niemand gefunden hat. Nur er. Und das alles, weil er eine seltsame Begegnung im Wald gehabt hatte, von der er selbst nicht wusste, wie er sie zu deuten hatte.

Und erst da fiel ihm der Wikinger wieder ein. Obwohl dessen Spuren eindeutig in den Tunnel geführt hatten, war hier keine Spur von ihm auszumachen. Elian drehte sich mehrmals um die eigene Achse aber er war allein. Und soweit er sehen konnte, gab es keinen anderen Weg hinaus oder hinein, außer dem Tunnel, aus dem er gekommen war. Es war, als sei der Wikinger vom Erdboden verschluckt worden.

Elian wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Als er sich einige Zeit später wieder auf den Rückweg machte, kreisten in seinem Kopf immer noch hunderte Fragen umher. Woher war der Wikinger gekommen, wer war er und wohin ist er verschwunden? War er echt oder nicht? Elian war sich nur in einem sicher, dass er da gewesen war und ihn zu diesem wunderbaren Ort geführt hatte. Er hat sich noch nicht entschieden, was er mit dem Wissen um diesen Ort und all den darin verborgenen Kostbarkeiten anfangen sollte. Für den Moment war das Einzige, das blieb, der Schlangenarmreif in seiner Tasche, den er mit seiner Hand fest umschloss und der ihm die Gewissheit gab, dass er nicht geträumt hatte. Und natürlich die Spuren des Wikingers im Schnee.