Von Ingo Pietsch

Kommissar Gerhard Otto schlürfte seinen Milchshake zu Ende, den er beim letzten Stopp an der Autobahn in einem Fast-Food-Restaurant gekauft hatte.

Jetzt stand er an der Zapfsäule einer Tankstelle eines Ortes kurz vor Wien, dessen Name er schon wieder vergessen hatte.

Sein Wohnmobil war das einzige Fahrzeug weit und breit und würde es wahrscheinlich auf dieser einsamen Landstraße heute auch bleiben.

Otto beobachtete mal die Mücken, die um eine flackernde Laterne tanzten und dann wieder seinen Kollegen John Zinklär, der auf dem Beifahrersitz mit seinem Handy spielte, genauso wie der junge Mann an der Kasse der Tankstelle.

Otto war privat unterwegs und suchte zusammen mit Zinklär nach dessen Vater.

Außer dem Brummen der Zapfsäule und dem Zirpen einiger Grillen, war es relativ ruhig.

Dann fiel plötzlich ein Schuss, wie Otto aus Erfahrung hören konnte. So schnell, wie sein korpulenter Körper es zuließ, ging er hinter der Säule in Deckung.

Zinklär war vom Fenster verschwunden, hatte sich zu Boden geworfen und war zum Kommissar gerobbt.

Otto hatte schon seine Waffe gezogen, als die Tür des Tankstellenshops sich von unsichtbarer Hand öffnete und eine Pistole nach draußen schwebte.

Der Kommissar war völlig perplex und traute sich auch nicht, zwischen den Tanksäulen zu schießen.

Zinklär rief hinter ihm, obwohl er keine Waffe trug: „Stehen bleiben oder wir schießen!“

Die Pistole schwebte jetzt noch schneller und verschwand zwischen ein paar Büschen.

Ehe Otto sich aufgerappelt hatte, war Zinklär schon hinterher gespurtet. Allerdings vergebens.

Ein Wagen startete und der Unbekannte entkam.

Zinklär hatte nicht mal mehr Kennzeichen oder Automarke erkennen können.

Otto schrak auf, als Zinklär sich in seiner dunklen Lederkleidung vor dem Schaufenster auftauchte und mit den Achseln zuckte.

Der Kommissar hatte sich in der Zwischenzeit um den Verkäufer gekümmert, doch jede Hilfe kam zu spät. Otto wählte den Notruf.

 

Der junge Mann, der erschossen worden war, wurde mit einem Leichenwagen abtransportiert.

Anwesend waren nur noch drei örtliche Polizisten.

Einer sichtete die Überwachungsvideos, der zweite sicherte die Spuren und der dritte unterhielt sich mit Otto und Zinklär.

„Wenn ich nicht mit Ihrem Vorgesetzten in Hamburg gesprochen hätte, würde ich ihnen kein einziges Wort glauben“, meinte Kommissar Winkler.

„Wissen Sie, wir haben schon die merkwürdigsten Dinge erlebt, aber ein Unsichtbarer ist noch nicht dabeigewesen.“ Otto nuckelte an einem blauen Slush-Eis-Becher, den er sich in der Tankstelle selbst abgefüllt hatte. Zinklär sagte nichts dazu, da er wusste, dass der Kommissar sich besser konzentrieren konnte, wenn er aß oder trank.

Nur Winkler zog eine Braue hoch. „Das Opfer ist Niklas Bacher. Keine Angehörigen. Wohnt hier in der Stadt. Ein Überfall scheint es nicht gewesen zu sein – Die Kasse ist noch zu. Wissen Sie vielleicht mehr?“

„Chef, sehen Sie sich das an!“ Die Analyse der Videoüberwachung war fertig.

Eine Pistole schwebte lässig über das Gelände, die Tür zum Shop öffnete sich von alleine,  Niklas wurde bedroht und hatte die Hände gehoben.

Dann fuhr das Wohnmobil auf das Gelände.

Niklas hatte seine Hände wieder herunter genommen und unterhielt sich lebhaft mit der Pistole.

Dann fiel der Schuss und Niklas brach zusammen.

„Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben. Ist da ein Störsender im Spiel oder so?“ Winkler ging näher an den Monitor heran.

Ehe jemand antworten konnte, reichte die Spurensicherung ihr vorläufiges Ergebnis weiter.

„Nackte Fußabdrücke Größe 42 und Autoreifenspuren. Vom Typ her Geländewagen. Wahrscheinlich Landrover.“ Winkler überlegte. „Nackte Füße? Hm. Familie Wolf, da fahre ich jetzt zuerst hin. Sophie Wolf ist, war die Freundin des Opfers. Und die haben auch einen Landrover. Wollen die Herren mich eventuell begleiten?“

Otto nickte zustimmend und sog den letzen Rest aus dem Becher.

 

Winkler hielt mit seinem Dienstfahrzeug vor dem Anwesen der Wolfs. Während er den Wagen abstellte, sagte er: „Sophie Wolf hat erst vor ein paar Monaten ihren Zwillingsbruder Torben bei einem Unfall verloren. Die Wolfs besitzen eine Chemiefabrik. Die stellen da Lackentferner und Entfärbemittel her. Torben ist in einen Tank mit Säure oder Lauge gefallen. Hatte am ganzen Körper Verätzungen und Verbrennungen. War kein schöner Anblick. Das überlebt kaum einer. Also seien Sie ein bisschen zurückhaltend und überlassen mir das Reden.“

 

Otto und Zinklär nickten, dann stiegen sie gemeinsam aus.

Tatsächlich stand dort ein Landrover, quer vor der Garage geparkt.

Die Einfahrt war hell erleuchtet und man konnte Fußabdrücke erkennen, die zum Haus führten. Der Unsichtbare musste schmutzige Füße bekommen haben, ehe er das Auto erreicht hatte.

Die drei gingen zur Tür, wo sie klingelten.

Ein älterer Mann im legeren Anzug öffnete die Tür und fragte müde: „Ja, bitte?“

Kommissar Winkler nahm seine Mütze ab und stellte alle vor: „Guten Tag, Herr Wolf. Winkler mein Name. Wir kennen uns noch vom Unfall ihres Sohnes. Dies sind meine Kollegen Otto und Zinklär.“

Wolfs Gesichtsausdruck wandelte sich von fragend in leichte Trauer.

„Ich habe leider schlechte Nachrichten in Bezug auf den Freund ihrer Tochter. Dürfen wir rein kommen?“

Wolf sagte nichts und machte eine einladende Geste. Als die vier in der Diele standen, bat er sie ins Wohnzimmer.

„Setzen Sie sich bitte.“ Er machte einen gefassten, ruhigen Eindruck. „Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Brandy?“

„Wir sind im Dienst. Einen Kaffee, bitte.“ Winkler wollte dem Mann entgegenkommen, denn eine fertige Kanne stand schon auf dem Tisch. Otto und Zinklär schlossen sich an.

Wolf Senior nahm ein paar Tassen aus einer Anrichte und füllte sie mit dem Kaffee aus der Kanne.

„Sie werden sich sicher wundern, warum ich so gefasst und scheinbar unerschütterlich bin.“

Die drei sagten nichts und ließen ihn ausreden.

„Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich bin der festen Überzeugung, dass mein Sohn noch lebt. Ich kann mit ihm sprechen. Und meine Tochter auch!“

Winkler zog die Augenbrauen hoch. Otto und Zinklär sahen sich derweil im dem rustikalen Wohnzimmer mit den dunklen Holzmöbeln, den dicken Teppichen und zahllosen Hirschgeweihen um.

Winkler fragte ungläubig: „Ist er jetzt gerade hier im Raum?“

„Was? Nein. Aber von Zeit zu Zeit meldet er sich. Nachdem er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, haben die schweren Verletzungen dafür gesorgt, dass er auf eine höhere Existenzebene aufgestiegen ist. Er hat sich vor meinen Augen aufgelöst und war trotzdem noch da. Er ist draußen auf der Terrasse bei Sophie.“

Alle drei sprangen auf. Die Kommissare zückten ihre Waffen und Zinklär lief zur Haustür, um in den Garten zu gelangen.

In der Küche stand die Schiebetür offen und Winkler und Otto konnten das Gespräch mit anhören, das Sophie und ihr Bruder führten.

„Ich konnte nicht zulassen, dass du weiterhin mit diesem Versager zusammen bleibst. Du weißt, wie stark unsere mentale Verbindung ist. Ich fühle, was du fühlst. Und ich werde nie wieder lieben können. Nicht nachdem , was mit mir passiert ist.“

Sophie wurde traurig: „Ich habe deine Schmerzen bei dem Unfall auch gespürt und spüre sie immer noch. Aber musstest du ihn töten? Ich habe ihn geliebt. Wie konntest du mir das nur antun?“

Die Polizisten spähten durch die Tür.

Sophie saß alleine am Gartentisch. Darauf lag die Pistole, die die Beamten bei der Tankstelle gesehen hatten.

Zinklär pirschte sich von der Gartenseite heran.

Winkler trat auf die Terrasse und brüllte: „Polizei, niemand bewegt sich!“

Herr Wolf und Otto folgten ihm.

Der leere Gartenstuhl gegenüber von Sophie rückte vom Tisch weg.

Zinklär sprang ins Leere und kämpfte mit dem Unsichtbaren. Der schüttelte Zinklär ab.

Jetzt ergriff Sophie die Initiative: Sie schnappte sich die Waffe, entsicherte sie und schoss dorthin, wo sie ihren Bruder vermutete. Im gleichen Moment brach sie zusammen.

Im Lampenlicht der Gartenbeleuchtung sahen die Anwesenden, wie sich noch ein paar Äste und Büsche bewegten, dann wurde es still.

 

Winkler verzichtete darauf, seine Kollegen zu alarmieren.

Als Sophie aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht war, erzählte sie, dass der Kontakt zu ihrem Bruder abgerissen war. Ob er noch lebte, wusste sie nicht. Die Eifersucht, dass sie glücklich war und er nicht, hatte ihn am Leben gehalten. Wie er weitermachen wollte, wo ihr Freund jetzt tot war, konnte niemand sagen.

Winkler brachte Otto und Zinklär zurück zur Tankstelle.

„Wir werden den Fall einfach als gewöhnlichen Raubüberfall zu den Akten legen. Es gibt zu wenig Beweise und zu viele Spekulationen.“

Die drei verabschiedeten sich und Otto und Zinklär fuhren weiter.

„Zinklär, Sie haben seit vorhin bei den Wolfs nicht ein Wort gesagt. Was ist da im Garten passiert?“, hakte Otto nach. Er hatte Winkler von Zinklärs Fähigkeiten, Gedanken, Erinnerungen durch bloßes Berühren zu erfühlen, nichts erzählt.

„Nicht lachen, Kommissar, aber Torben Wolf war nackt und am ganzen Körper verunstaltet. Ein Wunder, dass er den Unfall überlebt hat. Das Entfärbemittel und die anderen Chemikalien haben bewirkt, dass sich die Farbpigmente in seinen Zellen aufgelöst haben. In einem kurzen Flashback konnte ich sehen, wie sein Spiegelbild verschwand. Ich hoffe, dass unsere weitere Reise etwas ruhiger verläuft.“

Im Radio lief im Nachtprogramm wie zufällig Michael Cretu mit dem Song „Invisible Man“.

Otto schaltete aus: „Ich denke, für heute reicht es.“

Zinklär nickte nur müde.