Von Florian Ehrhardt

„Todeszeitpunkt?“

 

„Guten Morgen, Herr Müller!“

 

Ich nuschele ein müdes „Moyjen“. „Ich hab‘ nach dem Todeszeitpunkt gefragt!“

 

„Ähm, Herr Müller, seit wann grüßen wir uns eigentlich nicht mehr?“

 

„Mir doch egal.“

 

Schweigen.

 

„Also. Todeszeitpunkt?“

 

Sie schüttelt missbilligend ihren Kopf, der blonde Pferdeschwanz wippt auf und ab. „Wir sind noch nicht ganz sicher, aber wahrscheinlich ist sie irgendwann zwischen drei und vier Uhr gestorben. Vier Messerstiche in die Brust.“

 

„Ich hasse Montage.“ Mein Mund fühlt sich schon wieder verdammt trocken an. Ich werfe einen schnellen Blick in das Zimmer. „Sarah?!“

Mein Magen rebelliert. Ich muss hier raus. Mit schnellen Schritten gleite ich die Treppe wieder nach unten, doch der Weg vom zweiten Stock nach unten scheint länger zu sein, als es der Weg nach oben war.

 

Sabine kommt mir hinterhergerannt.

 

Ich frage mich, wie groß die Schweißperlen auf meiner Stirn momentan sind. Und ob sie Sabine auffallen. Wenn sie ihr aufgefallen sind, lässt Sie es sich nicht anmerken.

 

„Sie kennen das Opfer?“

 

Schweigen.

 

„Herr Müller, Sie sind vielleicht mein Vorgesetzter, aber Sie sind ganz sicher nicht der Polizeipräsident, also hören Sie auf, mich zu behandeln als wären Sie es!“

 

„Alex.“

 

„Was?“

 

„Alex. Nenn mich Alex.“

 

Meine Gedanken schweifen ab. Das Wochenende war mal wieder eine Katastrophe. Dass mein Telefon kaputt ist und den ganzen Morgen gebimmelt hat, ohne dass jemand am anderen Ende der Leitung war, als ich endlich abgenommen hatte, ist mein geringstes Problem. Nicole ist endgültig weg. Bei ihrer Mutter. Sie hat Timo mitgenommen. Schlampe. Samstagabend hat sie das Haus verlassen. Schluss, Aus, Vorbei. Heute Morgen lag eine leere Flasche Whiskey in der Spüle. Kurz gesagt: Ich bin am Ende. Ein verdammtes Wrack. Hätte sicher nicht mit dem Auto hierher kommen dürfen. Als Zivilist nicht. Ich brauche einen Drink. Meine Hände zittern. Mein Schädel brummt. Ich bin völlig am Ende. Warum? Der Hauptgrund dafür liegt verblutet gute zwanzig Meter von mir entfernt.

 

„Ähm, also, ähhh, Alex? Geht’s dir gut?“ Sabine reißt mich wieder aus meinen Gedanken.

 

„War schon besser. War schon deutlich besser.“ Zum Beispiel vor 48 Stunden noch, fährt es mir durch den Kopf, aber das sage ich besser nicht.

 

Sabine scheint immer noch überrascht, dass ich ihr das „Du“ angeboten habe.

 

„Also-“ -Denkpause- „du kennst das Opfer?“

 

Ich frage mich, wie viel Wahrheit sie wohl verträgt. Ein Blick in ihre funkelnden, blauen Augen verrät mir die Antwort. „Ich hatte eine Affäre mit ihr. Seit zwei Jahren. Bis vor zwei Wochen. Dann ist meine Frau dahinter gekommen.“

Schon wieder dieser missbilligende Blick.

 

Sie scheint nicht wirklich zu wissen, was sie antworten soll. „Oh.“ Mehr bringt sie nicht heraus. Ist wohl auch besser so.

 

„Ja.“

 

„Deshalb geht es ihnen so …“ auch sie überlegt nun, wie offen sie mit mir sprechen kann. Sie trifft ähnliche Entscheidungen wie ich. „ …scheiße?“

 

„Ja.“

 

Sie überlegt. „Meiner hat mich vor zwei Jahren verlassen. Zum Glück hatten wir noch keine Kinder. Zigarette?“

 

„Wir sollten ermitteln.“ Ich frage mich wie ich in der Lage sein soll, sie von etwas zu überzeugen, was ich selbst nicht glaube.

 

„Alex.“ Sie blickt mir tief in die Augen. „Zigarette?“

 

Wie könnte ich ablehnen? Wir sitzen schweigend auf der Treppe vor dem Mehrfamilienhaus in der Beethovenstraße.

 

Dann bricht sie wieder das Schweigen. Mir fällt auf, dass ich Sabine Köllner nie nach ihrem Privatleben gefragt habe. Die junge, lebensfrohe Beamtin, die ich nun seit fast sechs Monaten täglich sehe, ist für mich immer noch eine völlig fremde Person. Sollte das nicht anders sein? Schuldgefühle machen sich in mir breit.

 

„Hast du eigentlich kein schlechtes Gefühl gehabt, als du hierher gefahren bist? Du hast sie doch gekannt?“

 

„Ich wusste ja nicht einmal, wo sie wohnt. Haben uns immer nur im Hotel getroffen.“

 

„Wie ist dann deine Frau dahinter gekommen?“

 

„Petzender Portier. Er war der Mann der Cousine der besten Freundin meiner Frau. Irgendwie kennt auf dem Land halt jeder jeden. Selbst diesem Einfaltspinsel ist irgendwann aufgefallen, dass ich zum F*cken nicht ins Hotel gehen müsste, wenn ich keine zehn Kilometer weiter wohne. Also ist er neugierig geworden und hat genauer hingeschaut. Sogar seinem Erbsenhirn ist dann aufgefallen, dass ich auch noch die falsche Frau dabei hatte. Scheiße.“

 

Sie bläst Rauch in Ringen durch die Luft. Passanten starren auf die Szenerie. „Das Leben ist nicht fair. Bestraft immer nur die Guten. Sie will die Scheidung?“

 

„Wenn ich mir danach noch ein sauberes Hemd leisten kann, lade ich dich auf einen Kaffee ein.“ Ich verbrenne mir fast die Finger am langen letzten Zug. Atme tief durch.

 

„Dürfen Sie…äh Sorry…darfst du überhaupt ermitteln, wenn du das Opfer kennst?“

 

„Bist du von der Vorschriften-Polizei? N Scheiß darf ich. Aber ich bin der einzige Kommissar im Umkreis von zwanzig Kilometern. Dreckslandleben. Nach der Scheidung lass ich mich pensionieren und zieh wieder in die Stadt.“

 

„Pension mit 57? Träum weiter!“

 

„Vorsicht Kleine! Noch bin ich erst 56!“ Ich drohe ihr scherzhaft mit dem Finger.

 

„Ich weiß. Aber du sagtest gerade eben doch, du willst erst nach der Scheidung zurück in die Stadt.“

 

Zum ersten Mal seit Samstagmorgen kann ich herzhaft lachen.

 

Obwohl meine Ex-Geliebte tot auf dem Boden eines abgedunkelten Apartments liegt hat sich meine Laune stark verbessert. Setzt jetzt etwa schon der Wahnsinn ein? Wahrscheinlich. Egal. Das bringt sie mir auch nicht mehr zurück. Und doch starre ich mit offenem Mund auf den kalten Körper, den ich noch vor kurzem mehr als alles andere auf dieser Welt liebte.

 

Ich tippe einem Typ von der Spurensicherung auf die Schulter. „Wer hat sie entdeckt?“

 

„Die Vermieterin. Sitzt immer noch mit einem ziemlichen Schock in Wagen 3. Wird befragt. Ist aber nicht verdächtig. Wasserdichtes Alibi. Das Opfer wurde auf der Arbeit vermisst, also hat man erst bei einem „guten Freund von ihr“ später dann bei ihrer Vermieterin angerufen. Und die kam dann her.

 

„Schichtbeginn im Johnnys um acht Uhr“, murmele ich vor mich hin.

 

„Was?“

 

„Nichts. Gute Arbeit! Verdammt gute Arbeit.“ Ich bringe ein müdes Lächeln zustande. „Sonst irgendwelche Verdächtigen?“

 

„Nein, aber das wird wohl ein leichtes Spiel. Der Mörder hat überall Fingerabdrücke hinterlassen. Und wir haben Spuren von einem Damenschuh in Größe 41 gefunden. Vom Opfer ist der nicht, die trug nämlich Größe 38. So viele Spuren hinterlassen die wenigsten. Entweder man will uns eine falsche Fährte legen, oder der Täter – also die Täterin, wie es nach dem Schuhabdruck aussieht – war wirklich unvorsichtig.“

 

„Wirklich gute Arbeit. Ist die Mordwaffe sichergestellt? Ich würde sie mir gerne mal ansehen.“

 

„Leider nicht. Aber es sieht fast so aus, als ob das Opfer mit einem herkömmlichen Brotmesser der Garaus gemacht wurde.“ Er schüttelt den Kopf. „Kranke Welt.“

 

Wieder rebelliert mein Magen. Mein leerer Magen. Der nur so leer ist, weil ich heute nichts gefrühstückt habe. Ich wollte mir ein Erdnussbutterbrot machen. Aber das Brotmesser war verschwunden.

Zum zweiten Mal an diesem Morgen renne ich vom Tatort weg und finde mich schon wieder auf der Vortreppe wieder, auf der ich gefühlt den halben Tag verbracht habe. Das ist mir wirklich noch nie passiert. Aber wenn das Leben in der Nacht von Freitag auf Montag zum Scherbenhaufen wird ist das auch egal. Ich will zurück in mein Bett. Und ich dachte heute Morgen, dass es mir scheiße geht. „Siehste, kann immer schlimmer werden.“ Die schlauen Sprüche meiner toten Großmutter helfen jetzt auch nicht mehr weiter.

 

Wieder sitzt Sabine neben mir auf den Stufen. Sie muss mir nur kurz in die Augen schauen, um alles zu wissen.

 

Emotionslos stellt sie die Frage, die ich doch irgendwie schon erahnt habe. „Also, wo wohnt deine Schwiegermutter?“

 

Eine halbe Stunde später sind wir da. Anneliese öffnet die Tür.

 

„Ah, der Ehebrecher vom Dienst? Verschwinde! Ich wusste ja gleich, dass das mit euch nichts wird. Aber das es so schlimm ausgeht? Mit so einem jungen Ding? Schäm dich.“

 

Sie will mir die Tür vor der Nase zuschlagen, doch ich bekomme den Fuß noch dazwischen. „Ich bin dienstlich hier.“ Wie in Zeitlupe baumelt mein Dienstausweis vor ihrer dicken Nase hin und her. Die ganze Situation ist einfach viel zu skurril, um wahr zu sein.

 

Annelieses Gesichtsfarbe verändert sich im Eiltempo. „Wenn das ein schlechter Scherz ist, sorge ich dafür, dass du degradiert wirst! Eigenhändig“

 

Ich bin beeindruckt von mir selbst. Wie ruhig ich doch bleibe. „Sag Nicole, sie kann mit erhobenen Händen rauskommen. Widerstand ist zwecklos. Wenn sie versucht zu flüchten, geben wir ‘ne Fahndung raus. Sie braucht es gar nicht erst versuchen. Und sag ihr, sie soll Timo aus der Sache rauslassen.“

 

Anneliese versteht die Welt nicht mehr. Wieder schlägt sie die Tür zu. Diesmal mit Erfolg.

 

Sabine sieht mich verwundert an. „Wollen wir das Haus nicht stürmen?“

 

„Nicole ist vielleicht ein kleines bisschen verrückt, und sicher auch ein kleines bisschen verrückter, als ich gestern Abend noch dachte, aber dumm ist sie trotzdem nicht.“

 

Wie Recht ich doch habe.

 

Nur zwei Montage später sitzen wir zu Dritt im Café an der Weiherbrücke. Offiziell ist es natürlich Timos achter Geburtstag. Inoffiziell?  Unser zweites Date. Sabine schlürft an ihrem Eiskaffee, der unten so dunkel ist, wie ich mir meine Zukunft vor zwei Wochen noch vorgestellt habe und oben so hell, wie ich sie mir jetzt ausmale. Und zwar in den buntesten, strahlendsten Farben der Welt. Auf mich selbst bin ich mal wieder stolz, denn ich konnte dem Drang widerstehen meinen Kaffee irisch zu bestellen. Trocken seit vierzehn Tagen. Timo löffelt sich genüsslich durch seinen Eisbecher. Ihm ist aufgefallen, dass Sabine und ich Händchen halten, das merkt man ihm an.

 

Schweigen.

 

Nein. Eine wunderbare Stille. Nur durch das Zwitschern der Vögel durchbrochen.

 

Naja, fast nur dadurch.

 

„Du Papa, die Sabine hat viel weniger graue Haare als Mama!“

 

Notiz an mich: Nicht mehr versuchen mein Leben in den Griff zu bekommen. Kann ja doch immer nur werden. Danke Oma. Aber momentan sieht es gut aus.  

 

Version 2