Von Raina Bodyk

„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, schreit Eva ihren Sohn, der gerade betont lässig zur Tür hereinkommt, wütend an. Chris, schlaksig und hochgewachsen, hat sich ganz offensichtlich geprügelt: ein blaues Auge, blutende Platzwunden im Gesicht, die Fingerknöchel aufgeschürft. „Kannst du mir eigentlich nur Probleme machen? Warum schlägst du immer um dich? Du hast dich schon letzte Woche geprügelt. Das Hemd ist auch kaputt. Denkst du, ich habe einen Goldesel, so dass ich dir dauernd neue Sachen kaufen kann?“

Der vierzehnjährige Chris kann es nicht mehr ertragen: „Immer schreist du mich an. Lass mich endlich in Ruhe. Warum fragst du nicht erst mal, was überhaupt passiert ist? Für dich bin ich immer schuld. Egal, ob ich was verbrochen habe oder nicht. Du kannst mich mal.“

Seine Mutter hebt unbeherrscht die Hand, hält sich aber in letzter Sekunde zurück. Nein, sie wird ihren Sohn nicht schlagen, egal, wie sehr er sie reizt.

„Wenn ich volljährig bin, haue ich ab, das verspreche ich dir. Dann bist du mich endlich los. Schade, dass ich meinen Vater nicht kenne, sonst würde ich zu ihm ziehen. Wahrscheinlich hast du ihn auch rausgeekelt und redest deshalb nie von ihm. Warum hast du mich denn überhaupt bekommen? Du liebst mich doch sowieso nicht.“, wirft Chris ihr heftig vor.

 

 

Bei diesen unbarmherzigen Worten schlägt Eva die Hände vor den Mund und flüchtet sich ins Schlafzimmer. Sie erinnert sich genau, wie lange und verzweifelt sie über eine Abtreibung nachgedacht hatte. Dieser wahnsinnige Schock, als sie merkte, dass sie von diesem widerlichen Schwein schwanger war. Die Erinnerung, wie er mit seiner linken Hand ihre Arme über ihrem Kopf festhielt und mit der anderen Hand und seinen Knien ihre Schenkel mit Gewalt auseinanderdrückte, hat sich in sie eingebrannt. Wie er sie zerriss und gewaltsam in sie eindrang. Ihre Schreie, ihre vergeblichen Versuche, sich zu wehren.  Sein widerliches Stöhnen hat sie heute noch im Ohr. Der „liebe Freund der Familie“, mit dem sie oft Ausflüge gemacht hatten. Die gegenseitigen Besuche. Er war immer so nett gewesen. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass er … Sie war damals doch nicht älter als ihr Sohn heute.

Letztlich hatte sie zu lange gezögert, sich zu entscheiden. Mit ihren Eltern konnte sie nicht darüber reden. Sie schämte sich zu sehr. Wie sagt man seinen Eltern, dass man vergewaltigt wurde? Vom befreundeten Nachbarn? Sie wussten es bis heute nicht und hatten immer noch Kontakt mit dem Schwein. Sie nannte ihn nur „das Schwein“. Sie war außerstande, seinen Namen auszusprechen. Sie hatte sich geweigert, ihm noch einmal zu begegnen. Sie war sich sicher, dass die Eltern ihr kein Wort geglaubt hätten. Sie wunderten sich zwar über ihr seltsames Verhalten, nahmen es aber ohne große Fragen hin. Für sie wäre es unvorstellbar gewesen, dass er ihrer Tochter so etwas hätte antun können.

Sie hatte das Kind schließlich ausgetragen. Aber würde sie es lieben können? Oder würde es sie immer an das Schwein erinnern? Nur ihrer älteren Schwester Greta hatte sie alles erzählt. Allein hätte sie es nie geschafft, weiter zu machen: Zur Schule gehen. Das Gekicher und die Blicke der Mitschüler. Das Getratsche und das falsche Mitgefühl der Nachbarn. In den Gesichtern ihrer Eltern die Enttäuschung über ihre Tochter. Das alles tat so weh.

Immer wieder weinte sie sich bei ihrer Schwester aus: „Ich packe das nicht. Ich hasse meinen dicken Bauch und wenn es sich bewegt.“ Sie sagte immer nur „es“. In ihrer Vorstellung war da kein in ihr wachsendes Leben. Nur ein Etwas, das nichts mit ihr zu tun hatte. Oft wünschte sie sich eine schlimme Krankheit oder einen bösen Sturz, die ihre Schwangerschaft beendet hätten.

Aber das passierte natürlich nicht. Und so hielt sie eines Tages dieses schreiende Etwas in den Armen. Ihren Sohn. Mühsam lernte sie, eine Mutter zu sein. Ja, sie gab sich wirklich Mühe. Liebte ihn – irgendwie.

Wenn da nicht immer wieder diese Momente wären. Wenn seine blaugrauen Augen sie bei irgendwelchen Streitereien so böse ansehen. Wie sein Vater, das Schwein. Dann fühlt sie die panische Angst wieder in sich hochkriechen. Fühlt sich ausgeliefert, verzweifelt, wütend. Bis heute wird sie nachts von Alpträumen gequält, aus denen sie schreiend und nass von Tränen erwacht.

Greta hat sie oft gemahnt. „Eva, dein Junge kann nichts dafür, dass er auf der Welt ist. Du hast dich entschieden, ihn zu bekommen. Jetzt sei ihm eine Mutter und besiege deine Ängste. Du kannst nicht dauernd nach Ähnlichkeiten mit dem Kerl suchen. Chris ist ganz anders. Sieh doch mal richtig hin. Er möchte nur deine Liebe. Aber du verunsicherst ihn völlig. Mal bist du nett zu ihm, dann schreist du ihn an oder er kriegt wieder lauter Verbote, weil du Angst hast, er könnte nach seinem Vater kommen. Er weiß doch gar nicht mehr, woran er ist.“

„Ich weiß, ich bemühe mich ja. Aber er sieht ihm so unheimlich ähnlich, das erkennst du doch auch. Da rollt bei mir innerlich ein Film ab. Dann kniet das Schwein wieder über mir und zwingt sich in mich rein.“ Sie schluchzt herzerweichend. „Jetzt kommt der Junge auch noch in die Pubertät. Meinst du, dass er wird wie …?“

„Eva, daran darfst du nicht einmal denken. Natürlich ist dein Sohn nicht so wie dieser Unmensch.“

 

 

Chris rauscht aus dem Haus und knallt laut die Tür zu. Er braucht echt nicht mehr seinen Mund aufzumachen. Es hat ja doch keinen Zweck. Seine Mutter hört ihm nie zu. Nie fragt sie, wie er sich fühlt oder was er denkt. So lange er sich erinnern kann, hat sie ihn nie in die Arme genommen oder geküsst.

„Als ob sie allergisch gegen mich ist“, denkt er oft. Dabei fängt er wirklich nicht mit den Schlägereien an. Sich zu wehren, wird ja wohl noch erlaubt sein!

Nicht einmal hat die Mutter seine sehr guten Schulleistungen gelobt. Als ob es selbstverständlich wäre, dass er sich so anstrengt. Dabei tut er es nur für sie. Sie soll stolz auf ihn sein. Stattdessen guckt sie ihn manchmal an, als ob er ein Verbrecher wäre. Dann wieder liegt sie depressiv auf dem Sofa, und er sieht ihr an, dass sie geweint hat. Sie geht schon seit Jahren wegen ihrer Stimmungsschwankungen zur Therapie. Scheint aber noch nicht geholfen zu haben.

 

Am Liebsten ist er bei seiner Tante. Manchmal wünscht er sich, sie wäre seine Mutter. Er schellt bei ihr. Vielleicht ist sie ja da.

„Hallo, Tante Greta. Zuhause ist wieder Stress total angesagt. Da bin ich abgehauen.“

„Komm rein, mein Junge.“ Sie führt ihn ins gemütliche Wohnzimmer und drückt ihn aufs Sofa. „Oh, haben sie dich wieder geschlagen?“ Sie weiß als einzige, wie seine Mitschüler ihn mobben. Ihr ist auch bewusst, dass er keine Freunde hat. Dazu ist er viel zu sehr in sich gekehrt. Seine Probleme zuhause haben ihn so zurückhaltend gemacht. Manchmal, wenn er nicht weiterweiß, tickt er neuerdings richtig aus und wütet gegen alles und jeden. „Ich würde ihm so gern helfen“, denkt sie.

„Weißt du, oft wünsche ich mir, ich wäre nie geboren. Keiner will mich.“ Chris weint und wischt sich ärgerlich die Tränen ab. Er hasst es zu weinen. Aber er kann nicht mehr.

„Das darfst du nicht sagen, Chris!“, unterbricht ihn seine Tante. „Du weißt genau, wie lieb ich dich habe.“ Sie sieht ihm an, dass er tatsächlich am Ende ist. Sie schweigt eine Weile und kommt dann zögernd zu einem Entschluss: „Ich muss dir etwas über deine Mutter erzählen, das du nicht weißt. Ich hoffe nur sehr, dass du alles richtig verstehst und nicht auf die Idee kommst, dich in irgendeiner Weise schuldig zu fühlen. Das bist du nämlich nicht.“ Halb zu sich selbst murmelt sie: „Hoffentlich tue ich das Richtige.“ Aber so konnte es auf keinen Fall weiter gehen.

Sie erzählt ihrem Neffen die ganze schreckliche Geschichte. „Jetzt habe ich dir das Geheimnis deiner Mutter verraten. Aber nur, weil ich hoffe, dass du jetzt besser verstehst, warum sie so ist, wie sie ist, und ihr verzeihst, wie sie dich manchmal behandelt. Sie kommt einfach nicht mit sich selbst zurecht. Sie liebt dich, das weiß ich. Auch wenn sie es dir nicht so zeigen kann und dich oft zu streng oder ungerecht behandelt.“

Chris hat stumm zugehört. Aus seinem Gesicht spricht das blanke Entsetzen. Zu seinem Ärger kommen ihn schon wieder die Tränen. „Arme Mama. Sie denkt, ich wäre wie mein perverser Vater, stimmt’s? Tante Greta – denkst du, ich bin auch so? Dann will ich nicht mehr leben.“

„Mit Sicherheit nicht, das schwöre ich dir! Ich kenne dich dein ganzes Leben lang, seitdem du sooo klein warst.“ Sie hält ihre Hand ungefähr zwanzig Zentimeter über den Boden und grinst ein bisschen, um ihn aufzumuntern. „Du bist viel zu nett. Das sage ich nicht nur, weil ich deine Tante bin! Denk das ja nicht. Weißt du nicht mehr, wie du all die verletzten Tiere nach Hause geschleppt und sie gepflegt hast? Oder denk an die Nachbarskinder, die am Liebsten von dir beaufsichtigt werden wollten. Geh jetzt heim zu deiner Mutter und drück sie mal ganz fest.“

 

 

Zuhause angekommen, sieht ihn seine Mutter prüfend an. Sie spürt, dass sich etwas verändert hat. Chris bemerkt, wie ihre Gesichtszüge verrutschen, als wolle sie anfangen zu weinen oder sogar zu schreien. Einen Moment scheint die Zeit still zu stehen.

„Greta hat dir alles gesagt, richtig?“

„Mama, das alles tut mir so leid. Ich verstehe jetzt, wie du dich fühlen musst. Wenn du willst, ziehe ich aus. Dann brauchst du nicht mehr an diesen Kerl zu denken, wenn du mich siehst. Ich will ihn nie kennen lernen. Ich hasse ihn für das, was er dir angetan hat. “

 

Eva sieht das unendlich tiefe Mitgefühl in den Augen ihres Sohnes. Sein Einfühlungsvermögen und sein Verstehen berühren sie tief drinnen. Sie fühlt auch sein Leid. Nicht nur sie muss mit der Vergangenheit leben. Auch er wird künftig immer an seinen unbekannten Vater als den Vergewaltiger seiner Mutter denken müssen. Sie sind beide seine Opfer.

Sie atmet tief durch. Sie nimmt Chris in die Arme. Sie will es. Es ist, als ob die Mauer, die sie all die Zeit wie eine Festung umgeben hat, endlich Risse bekommt. Sie fühlt. Tiefer als all die Jahre. Die Liebe zu ihrem Sohn.