Von Ursula Riedinger

Denjenigen, die Lilly kannten, fiel nichts besonderes auf. Die schlanke junge Frau – oder war sie gar nicht so jung? – war zurückhaltend, aber immer freundlich. Und doch, eigentlich kannten sie sie nicht. Niemand wusste, was Lilly neben der Arbeit sonst machte, wofür die sich interessierte, ob sie alleine lebte. Lilly hatte diese etwas traurige Ausstrahlung, so dass man sie oft einfach übersah. Selten wurde sie gefragt, wie es ihr ging. Auch Männer wagten sich nicht so recht an Lilly heran. Sie war irgendwie anders, man wusste nicht, woran man mit dieser Frau war. Sie war hübsch, schlank und kleidete sich adrett. Ihre langen, welligen dunklen Haare trug sie meist zusammengebunden. Erste graue Strähnen zeigten sich darin, seit sie ihre Haare nicht mehr nachfärbte. Trotzdem liess sich ihr Alter schlecht schätzen. Um die 40 sagten die Jüngeren, wenn unter den Kolleginnen das Gespräch zufällig auf Lilly kam, nein, eher 50 meinten die Älteren.  

Sie fragten sie auch nur selten, ob sie mit ihnen zum Mittagessen käme. War sie ihnen zu langweilig, zu unnahbar oder zu traurig? Sie verstand es nicht.

Wenn Lilly alleine zuhause sass, fühlte sie sich manchmal sehr einsam. Sie lebte schon lange alleine und hatte kaum Freunde. Wenn sie darüber nachdachte, empfand sie ihr Leben oft als eintönig. Nichts passierte in ihrem Leben und sie tat nicht viel, damit etwas Neues passierte. Manchmal störte es sie, aber sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte. Ob ihre extreme Zurückhaltung und ihre Ängste etwas mit ihrer Kindheit in einem Elternhaus zu tun hatte, in dem die Eltern keine Zeit für sie hatten, wusste sie nicht. Aber sie war auch damals schon oft alleine gewesen, besonders seit sich ihre Eltern scheiden liessen. Ihre ältere Schwester war einfach abgehauen. Sie hatte darunter gelitten. Die Spuren trug sie immer noch mit sich herum. Nur vermeintlich eine Rettung war der Mann gewesen, den sie aus einer Verliebtheit heraus geheiratet hatte. Er hatte sie nicht ernst genommen und hatte sie wie ein hübsches Püppchen behandelt, dem man aber keine eigene Meinung zugestand. Er hatte sie betrogen und die Verletzungen heilten nur langsam. Erst Jahre später gestand Lilly sich halbherzig ein, dass die Ehe schlecht für sie gewesen war. Aber alleine wagte sie sich erst recht nicht in neue Welten vor. Es war nicht so, dass sie sich keine Gedanken über ihr Leben gemacht hätte. Aber es fehlte ihr an Unterstützung.

Eines Tages traf sie im Fitnesscenter, für das sie sich ab und zu aufraffte, eine Bekannte aus einem Malkurs. Sie unterhielten sich richtig gut, und schliesslich gab sie Lilly die Adresse einer Maltherapeutin. Hundert Mal hatte sie die Therapeutin schon gegooglet, aber es vergingen Monate, bis sie dort anrief. Nach dem ersten Gespräch, bei dem sie Marianne bereits vieles anvertraut hatte, fühlte sie sich richtig entlastet. Die Therapeutin verstand es zu fragen und zuzuhören. Jedes Mal sollte sie dann zum Abschluss der Stunde sich selbst malen. Beim nächsten Mal sprachen sie dann darüber. Oft waren die Bilder dunkel, mit wenig Farben.

«Ich habe das Gefühl, dass du in deinem Körper gefangen bist. Ich möchte dir helfen, dass du deinen Körper besser wahrnimmst und lernst, dich mit ihm auszudrücken. Du wirst sehen, dann nehmen dich die Leute auch wahr. Eine Möglichkeit wäre ein Tanzkurs.»

Das war nichts Neues, aber es traf ins Schwarze. Aber Tanzkurs? Nichts lag ihr ferner als ein Tanzkurs. Lange drehte sie den Gedanken im Kopf herum. Was Marianne ihr auch immer wieder gesagt hatte, war:

«Du kannst nichts dabei verlieren, nur gewinnen.»

Ihr Vertrauen in Marianne war gross. Darum wagte sie den Schritt. Der Grundkurs Paartanz begann am 1. März. Nun gab es kein Zurück mehr. Was sollte sie anziehen, welche Schuhe?

Voller Panik stand Lilly am 1. März um 17.45 im Tanzlokal. Viel zu früh. Zeit um sich Sorgen zu machen.

Aber der Tanzlehrer Jorge kombinierte die Paare mit viel Geschick, so dass Lilly einen sympathisch aussehenden Mann zugeteilt bekam, der sich mit Martin vorstellte. Lilly schätzte ihn auf Ende 30, aber als sie ihn sich während der ersten gemeinsamen Schritte genauer anschaute, sah sie, dass er deutlich älter war. Martin war ein Jokertänzer, er sprang ein, wenn es im Tanzkurs zu wenig Männer gab. Dadurch war er schon etwas geübt und half der unsicheren Lilly durch den Abend. Als sie sich von Martin verabschiedete, merkte sie, dass sie sich gut fühlte.

«Ich freue mich auf nächstes Mal.»

Woche für Woche ging Lilly nun in den Kurs und lernte, auf die Musik zu hören, den Bewegungen ihres Tänzers zu folgen. Der Grundkurs ging zu Ende. Lilly meldete sich gleich wieder für den Aufbaukurs an. Sie musste aber erfahren, dass Martin nicht mehr dabei sein konnte. Sie hatte sich so auf ihn eingestellt und sich mit ihm wirklich gut verstanden. Wirklich schade.

Im nächsten Kurs wurde Thomas ihr Tanzpartner. Er war ein ruhiger, unauffälliger Typ mit schönen grünen Augen. Er hatte viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Es war nicht gerade ihr Traummann, was das Aussehen anging, aber mit ihm zu tanzen war wunderschön. Sie tanzte am liebsten mit Thomas, auch wenn manchmal die Partner getauscht wurden.

«Nur so könnt ihr spüren, wie ein Mensch ist. Ihr müsst mit ihm tanzen.»

Nach ein paar Abenden, nahm Lilly ihren ganzen Mut zusammen und fragte Thomas, ob er mit ihr einen Kaffee trinken käme. Thomas sagte ja.

Im Geschäft tuschelten die Kolleginnen.

«Lilly, was machst du, dass du so gut aussiehst?»

«Ich besuche einen Tanzkurs, macht richtig Spass.»

«Aha, und das sicher mit einem tollen Mann. Komm doch mit zum Mittagessen, dann kannst du ja erzählen.»

Lilly lächelte geheimnisvoll.

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