Von Heike Weidlich

Es war einmal ein König, der regierte sein Land mit Herz und Verstand. Und eine Königin, die war klug, voller Wärme und so schön, dass es kaum zu beschreiben war. Mit ihren reizenden Kindern lebten sie glücklich und zufrieden in einem schönen Schloss.

So, oder so ähnlich beginnen viele Märchen. So auch dieses. Und so glücklich hätte es bis in alle Zeiten weitergehen können, wenn – ja, wenn nicht an jenem Tag alles ganz anders gekommen wäre:

 

„Ist dir nicht kalt mein Liebling?“

„Es wird wahrlich frisch auf dem Turm. Aber ich kann mich nicht von diesem Anblick losreißen.“ Die Königin deutete auf die bunte Blumenwiese, auf der der Prinz und die  Prinzessin mit ihrem kleinen Hund umhertollten.

„Herrlich, dass sie sich noch so vergessen können.“ Der König legte seinen Arm um die Schultern seiner Frau und gemeinsam genossen sie das ausgelassene Spiel der Kinder.

„Lass uns hineingehen.“ Der König ging auf die kleine, in den Turm eingelassene, Holztür zu.

„Ich möchte noch einen Augenblick die Aussicht genießen. Ich komme bald nach.“ Als sie kurze Zeit später ebenfalls hinabgestiegen war, beschloss sie jedoch, noch einen kleinen Spaziergang zu machen.

Nach einer Weile wurde sie müde, und um nicht mehr um das Schloss herumlaufen zu müssen, schlüpfte sie durch ein kleines, unscheinbares Tor, welches sie zuvor noch nie bemerkt hatte.

Kaum hatte sie es hinter sich zugezogen, fühlte sie, wie eine Vorahnung sich ihrer bemächtigte und sie versuchte, den düsteren Gang wieder zu verlassen, und den längeren Weg in Kauf zu nehmen. Doch das Tor ließ sich nicht mehr öffnen, so sehr sie auch an der Klinke zog und rüttelte.

Sie lief den Flur entlang, aber jede Tür an der sie vorbeikam war verschlossen. Die Sonne würde bald vollständig untergegangen sein und sie befürchtete bald ganz im Dunkeln zu stehen.

Als endlich eine Tür nachgab, betrat sie das dahinterliegende Zimmer. In der Mitte stand ein herrliches Himmelbett und der ganze Raum war überaus kostbar ausgestattet. Das Augenfälligste war jedoch ein Frisiertischchen mit einem herrlichen, goldenen Spiegel. Neugierig trat sie ein, um ihn genauer zu betrachten.

Als sie davor stand wurde ihr eigentümlich zumute. Sie griff sich die Haarbürste aus Ebenholz und begann ihr langes, dunkles Haar zu bürsten. Wie schön ich doch bin, schoss es ihr durch den Kopf.

`Ihr seid die Schönste im ganzen Land`.

Die Königin schaute sich um, doch außer ihr war niemand im Raum. „Wer ist die Schönste hier?“ fragte sie daher laut.

„Frau Königin, ihr seid die Schönste hier.“

Die Königin starrte in den Spiegel. „Ja!“, sagte sie plötzlich laut. „Da hast du völlig recht. Ich bin die Schönste hier.“ Versonnen betrachtete sie noch eine Weile ihr Spiegelbild. „Morgen komme ich wieder. Und übermorgen auch, und von jetzt an alle Tage.“

 

Von diesem Tag an war die Königin wie verwandelt. Am Hof führte sie nun ein strenges Regiment. Nachlässigkeiten ließ sie nicht gelten und ahndete sie unbarmherzig. Unvollkommenes oder Hässlichkeit duldete sie nicht. Alles, das ihren Ansprüchen nicht gerecht wurde, musste weichen. Ohne Ausnahme. Sie war von einer wilden Macht erfüllt die sie unablässig anzutreiben schien und der niemand etwas entgegenzusetzen hatte.

Doch nichts und niemand durfte schöner sein als sie selbst. Sie war die Schönste, und das musste für alle Zeiten so bleiben.

Der König verstand nicht, was in seiner Frau vorging. Aber da er sie nach wie vor sehr liebte,  ließ er sie gewähren.

Die alte Königin, des Königs Mutter, bemerkte die Veränderungen bei Hofe mit großer Sorge und sie beschlich ein furchtbarer Verdacht. So fasste sie sich ein Herz und suchte die Königin auf, was sich als schrecklicher Fehler herausstellte.

Die Königin ließ die alte Frau in ein ehemaliges Jägerhaus im Wald bringen. Eine alte Dienerin musste sich um sie kümmern, ein Jäger dafür sorgen, dass keiner das Häuschen verließ oder betrat. Dem König und ihren Kindern erzählte sie, dass die Großmutter an einer schweren, ansteckenden Krankheit litt und keiner sie besuchen dürfe.

Auch die Anwesenheit der Kinder konnte die Königin nicht länger ertragen.

Prinzessin Isabella war ein schönes Mädchen, hochgewachsen und von schlanker Gestalt. Sie hatte die dunklen Haare ihrer Mutter und ebenso deren strahlend blaue Augen. Wenn sie lächelte war es, als ginge die Sonne auf und alle Menschen um sie herum lächelten ebenfalls. Beim Anblick ihrer Tochter brannte, ob deren jugendlicher Schönheit, der Neid in der Königin, so dass sie es kaum aushalten konnte.

Prinz Philipp war von eher kleinem Wuchs und schmächtig. Zudem schien seine Nase nicht recht zu seinem Gesicht zu passen. Sie war etwas zu lang geraten und leicht gebogen. Seine Augen jedoch hatten die gleiche Farbe wie die seiner Schwester. Und auch er hatte ein so freundliches Wesen, dass er jedermann mühelos für sich einnehmen konnte. Die Menschen spürten, dass er ein weiches, mitfühlendes Herz  besaß, und fühlten sich zu ihm hingezogen. Doch die Königin war von seinem Äußeren abgestoßen und konnte ihn kaum noch ansehen.

Obwohl der König sich sträubte schickte sie die Kinder in eine weit entfernte Stadt, um ihnen die bestmögliche Ausbildung angedeihen zu lassen, wie sie dem König sagte.

Jeden Morgen und jeden Abend, saß die Königin nun vor dem Spiegel und bürstete ihr langes Haar. Sie  betrachtete ihr Gesicht mit der makellosen Haut. Obwohl sie mittlerweile an die vierzig Jahre alt war, fand sich kein Fältchen in ihrem Antlitz. Ihre Augen waren jetzt von einem kalten Blau, welche von einem Lächeln nicht mehr erreicht wurden. Kalt wie ihre Augen, war auch ihr Herz geworden.

 

Kurz vor Weihnachten schickte der König einen Gesandten, um seine Kinder für einige Tage nach Hause zu holen.

Am dritten Tag hielt es den Prinzen jedoch nicht mehr im Schloss.  Er war traurig, da er die angewiderten Blicke seiner Mutter bemerkte. So ritt er mit seinem Schimmel in strengem Galopp in den Wald hinein, bis er zu einem Häuschen kam, welches ihm seither nie aufgefallen war.

„Halt!“ Ein Jäger, stellte sich ihm in den Weg. „Hier geht’s nicht weiter.“

„Wer wohnt in dem Häuschen?“

„Das kann ich euch nicht sagen.“

„Was soll das heißen? Ich bin der Prinz, erkennt ihr mich denn nicht? Ihr sagt mir jetzt auf der Stelle wer hier wohnt.“

Der Jäger wurde unsicher und so verriet er dem Prinzen, dass hier die alte Königin zuhause sei.

„Ist sie noch immer so krank?“

„Krank? Davon weiß ich nichts.“

Durch den ungewohnten Lärm angelockt, öffnete die alte Dienerin die Haustür ein Stückchen um nachzusehen, was hier los sei.

Der Prinz sprang vom Pferd. „Aus dem Weg, ich will zu meiner Großmutter.“

Als diese ihren Enkel erkannte strahlte sie. „Du kannst ruhig hereinkommen, Phillip. Ich habe keine ansteckende Krankheit.“

Der Prinz durchquerte mit zwei Schritten den Raum und nahm seine Großmutter in die Arme.

Dann erzählte er ihr, dass sich bei Hofe alles verändert habe. Alle Dienstboten lebten in  Angst vor der Königin und der König sei, ob dieser Situation, nahe daran schwermütig zu werden. Keiner könne sich erklären, was die schreckliche Verwandlung der Königin ausgelöst habe. Ratlos sah Phillip seine Großmutter an, woraufhin diese anhob zu erzählen:

„In einer Zeit, lange vor der unsrigen, lebte in diesem Schloss eine wunderschöne Königin. Meine Großmutter hat mir davon erzählt. Diese Königin besaß einen Spiegel, der sie täglich ihrer Schönheit versicherte. Sie war besessen davon, was sie letztendlich mit dem Leben bezahlte.

Als ich als junges Mädchen wieder einmal durch das Schloss wanderte, stieß ich auf einen außergewöhnlichen Spiegel. Mir konnte er nichts anhaben, da ich nie die unvergleichliche Schönheit deiner Mutter besaß. Sowieso hielt ich das Ganze für ein Märchen und vergaß die Sache bald wieder. Nachdem ich die Verwandlung deiner Mutter sah, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich wollte sie warnen, doch es war bereits zu spät. Der Spiegel hatte sie bereits in seinen Bann gezogen.

„Können wir denn gar nichts tun?“

„Doch“ Die alte Königin sah ihn ernst an. „Ich bin zu alt, aber du kannst etwas tun. Sobald deine Mutter den geheimen Raum aufsucht musst du ihr folgen und dich verstecken. Wenn sie das Zimmer verlassen hat, holst du den Spiegel. Du kannst ihn nicht zerstören, du musst ihn vergraben. Hebe im Wald ein tiefes Loch aus, mindestens acht Fuß tief. Leg den Spiegel hinein und schütte das Loch zu. Darauf pflanzt du eine Eiche.“

„Aber Philipp.“ Sie hielt kurz inne: „ Es ist gefährlich. Wenn deine Mutter dein Vorhaben bemerkt, wird sie alles tun, um es zu verhindern. Sie wird vor nichts zurückschrecken. Traust du dir das zu?“

Der junge Prinz straffte die Schultern. „Ja, Großmutter, wenn es der einzige Weg ist,  werde ich ihn gehen. Dann komme ich wieder und hole ich dich ins Schloss zurück.

 

Noch am selben Abend folgte er seiner Mutter zu dem geheimen Zimmer. Sobald sie es wieder verlassen hatte, ging Phillip hinein, schlug den Spiegel in ein Tuch ein und verließ, so schnell es ging,  das Schloss. Im Wald legte er den Spiegel in das vorbereitete Loch und schaufelte es zu. Zum Schluss pflanzte er, wie von seiner Großmutter geheißen, eine kleine Eiche in den noch lockeren Erdboden.

 

Als er am nächsten Morgen das Speisezimmer betrat, saß die Familie bereits beim Frühstück und als sein Blick den der Königin traf, bemerkte er die Veränderung sofort.

Das Gesicht der Königin wirkte älter als am Tag zuvor. Feine Fältchen um die Augen und den Mund verrieten nun ihr wahres Alter. Trotzdem war sie schöner als je zuvor. Ihre Augen strahlten als sie Phillip erblickte. „Guten Morgen mein lieber Sohn! Hast du gut geschlafen?“

„Ja“ erwiderte dieser, einigermaßen verwirrt ob der augenfälligen Verwandlung seiner Mutter. „Und wie geht es dir?“

„Etwas seltsam – es ist, als sei ich aus einem bösen Traum erwacht. Trotzdem fühle mich so gut wie lange nicht mehr.“

Damit erhob sie sich, schenkte allen ein strahlendes Lächeln und fragte: „Wollen wir heute ein Picknick veranstalten? Isabella, spring schnell zur Großmutter und frag, ob sie mitkommt. Es würde mich sehr freuen.“