Von Marie Schumann
Ich erinnere mich nicht, wie mein Leben begann. Ich weiß nur, dass ich eines Tages da war. Bis weit in die Ferne konnte ich schauen, ich war der schönste von allen und viele, die an mir vorüber gingen, betrachteten mich mit Neid und Bewunderung. Alle anderen sahen gleich aus, ähnelten sich, doch ich, ich war besonders.
Bis zu jenem Schicksalstag.
Ein grober, alter Mann kletterte an meinem Baum empor, riss mich aus meinem Heim und warf mich in einen Korb mit meinen Brüdern und Schwestern. Meine schöne weiße Schale bekam Druckstellen und ich zitterte vor Angst.
Was würde mit mir geschehen? Wo würde ich landen? War das mein Ende?
Man trug uns in eine Stadt, ein Ort der Menschen und ich konnte ihr Treiben wohl zu gut betrachten. Frauen, Kinder, Männer, alt, jung, dick, dünn, zart, schwer… Sie wunderten sich über meine Schale, sie gingen an mir vorbei, tuschelten und ab und zu wurden meine Geschwister in eine Tasche gesteckt und fortgetragen.
Wohin brachte man sie? Was passierte ihnen?
Dann jedoch geschah es auch mir. Der alte Mann stopfte mich in einen Stoffbeutel und ich ließ den Korb mit meiner Familie zurück. Als ich die Augen wieder öffnete, da war ich sprachlos. Ein Schloss. Man brachte mich in ein edles Zimmer, dessen Wände aus Gold, der Boden aus Marmor und die Möbel aus purem Silber waren. Eine Frau, die eine juwelenbesetzte Krone auf dem Kopf trug, saß vor einem großen, diamantenem Spiegel. Ihr Blick war auf ihr Bild darin gerichtet, als würde sie darauf warten, dass es sich veränderte. Hübsch sah sie aus, betörend, aber ich war schöner.
Eine schiere Ewigkeit schien sie sich selbst zu betrachten, aber dann, dann stand sie plötzlich über mir, ein dunkles Lächeln auf den Lippen. Sie hob mich auf, wog mich in der Hand. Da war sie wieder die pure Angst, das Kribbeln der Furcht.
„Der wird den Trick schon vollführen…“, murmelte sie und ihr gellendes Lachen erfüllte den Raum wie ein Donnerschlag. Ich zitterte. Langsam drehte sie sich um, nahm eine Schale mit Wasser und sprach Worte, die ich nicht verstand, doch sie klangen, als wären sie nicht von dieser Welt. Sie träufelte etwas hinein und mit einem Schlag färbte sich das Wasser rötlich. Dampf stieg davon auf, Dampf der tanzenden Schatten ähnelte, als würden Geister daraus empor steigen.
Was tat sie da? Was hatte sie vor? Was-was!
Schon tauchte sie mich in das Wasser. Es brannte! Es brannte! Die eine Hälfte meiner weißen Schale färbte sich feuerrot und so fühlte es sich auch an, wie pures, brennendes Feuer. Der Schmerz grub sich tief in mein Inneres, berührte meinen Kern. So etwas hatte ich nie zuvor erfahren. Solcher Schmerz…solche Qual! Als risse sie mir alles Glück aus dem Laib, eine dunkle Kraft durchfuhr mich wie ein harter, brennender Blitz!
Langsam…ganz langsam verebbte das Gefühl und ich konnte aufatmen, doch meine Schale… Oh, meine schöne Schale!
Rot war sie, die eine Hälfte weiß, die andere rot, ich sah lächerlich aus. Ich war hässlich…so hässlich. Keiner würde mich mehr bewundern, würde mich lieben. Abscheulich, grauenerregend war ich…
Sie lachte wieder, die Frau mit der Krone, die Königin lachte so böse und zufrieden. Ich wollte mich verkriechen, verstecken, ich war so widerlich, so hässlich. Ich fühlte mich erbärmlich. Warum nur, tat sie mir so etwas an?
Rauch stieg auf und Blitze krachten, ihr Lachen wurde plötzlich heiser, ihre Stimme änderte sich und so auch ihr Aussehen. Die feinen Hände, in denen sie mich hielt, wurden rau, ihre edle Gestalt wich der einer dicken Bäuerin. Sie lächelte arglistig und sah mich an, das mir mein Kern gefror. Ich erschauderte. Was plante sie nur?
Die Königin, die Bäuerin, steckte mich in einen Korb mit anderen fremden Äpfeln, breitete ein schäbiges Tuch auf uns aus und lief los. Es ruckelte und schaukelte und wackelte in dem Korb, wie ich es noch nie erlebt hatte. Nach einer Weile aber hörte ich sie reden, sprechen zu einer anderen Frau und es ruckelte nicht mehr. Sie hob den schweren Stoff auf unseren Köpfen an und nahm mich heraus.
Licht! Warmes Licht umfing mich, ich konnte Vögel hören, Waldluft atmen, Freiheit. Ich war in der Natur! Bäume standen um mich herum, oh so große, starke Bäume. Würde sie mich frei lassen? Würde sie mich erlösen?
Freudig sah ich zu ihr herüber und mir wurde eiskalt. Die Königin hielt ein eisernes Messer in der anderen Hand, dessen Klinge silbern in der Sonne blitzte.
Auf einmal durchfuhr mich ein Schmerz, den ich noch nie gespürt hatte. Es schmerzte, es brannte wie Feuer! Ich bekam keine Luft mehr, mein Kern war fort, der Schmerz, oh der Schmerz! Wer tat so etwas? Wer brachte es fertig einem armen Apfel solch ein Leid anzutun?
Mein Saft tropfte zu Boden, ich spürte die andere Hälfte meines Körpers nicht mehr, der Schmerz zerriss mir schier den Verstand. Mein Herz ächzte, mein Innerstes bebte und dann…dann erblickte ich sie.
Ein Mädchen mit Haar so dunkel wie Ebenholz, Haut so weiß, wie der Schnee und Lippen so rot wie Blut. Ihr Blick war freundlich, voller Neugierde und dann schlossen sich ihre zarten Finger um meinen Laib. Die Worte blieben in meinem Kern stecken, so ein schönes Wesen hatte ich noch nie gesehen.
Langsam näherten sich ihre Lippen meinem Körper. Da dämmerte es mir. Die Königin lächelte heimtückisch, es war eine Falle, ich war voller Gift! Das war ihr Plan!
Nein. Nein, Mädchen nicht! Nicht!
Doch es war zu spät. Sie biss ab, der Schmerz war wieder zurück, doch ich spürte ihn kaum. Entsetzen erfüllte mich, Angst! Was würde ihr geschehen? Oh, warum nur? Kaum hatte das schöne Mädchen heruntergeschluckt, taumelte sie, ihr Blick wurde leer, ihre Haut fahl und sie fiel zu Boden.
Auch ich krachte auf das harte Holz der Hütte und rief und rief nach ihr: „Wach auf! Mädchen! Wach auf!“, doch nichts half. Meine Stimme hörte man nicht, ich konnte nicht zu ihr laufen und langsam verlor auch ich das Bewusstsein.
Was hatte ich angerichtet? Wäre ich doch niemals geboren.
Ich konnte mich nicht erinnern, wie es geschehen war, aber ich erwachte erneut. Diesmal nicht als Apfel, sondern als stattlicher Baum mit vielen mächtigen Ästen und Blättern so grün wie Smaragde. In der Mitte eines Schlosses stand ich und zu meinen Füßen spielten Kinder mit Haar so schwarz wie Ebenholz und Haut so weiß wie Schnee.
Vielleicht…war mein Leben doch nicht so schlecht gewesen?