Von Ingo Pietsch

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“

„Geh mal zur Seite, ich kann nichts sehen!“, war nicht die Antwort, die sich Regina erhofft hatte.

Das schemenhafte Gesicht eines jungen Mannes blickte schelmisch aus der verspiegelten Oberfläche.

„Ich, ich …“, versuchte Regina ihre Wut in Worte zu fassen und suchte den Raum nach etwas Greifbarem ab, mit dem sie den Spiegel zertrümmern konnte.

„Ich hasse dich!“, fauchte sie und holte mit einem Flakon in der Hand aus, um den Spiegel mundtot zu machen.

Der Spiegel flehte sie an: „Ja, bitte erlöse mich!“

Regina hielt inne.

Das Bild grinste immer noch. Ein Finger wackelte mahnend vor seinem Gesicht. „Das tust du nicht. Nein, nein, nein.“

Regina fand ihre Beherrschung wieder: „Du hast Recht. Ich werde es nicht tun.“ Sie brachte das Flakon an ihren makellosen Hals und sprühte sich von zwei Seiten ein.

„Wie ich das vermisse.“ Sehnte sich der Spiegel.

„Nach dem Duft?“, wollte die Königin wissen.

„Nein, wie meine Lippen deine Haut liebkosten.“

„Schweig!“, schrie sie den Spiegel an. „Es wird wieder so sein, wenn ich habe, was ich will.“

„Aber du wirst niemals genug haben und ich werde auf ewig hier drin gefangen bleiben.“ Die Hände tasteten den Rahmen von innerhalb der Oberfläche ab.

„Das ist die Sehnsucht, dass ich zu etwas Größerem berufen bin.“ Regina tanzte mit ihrem Flakon durch den Raum.

„Ich glaube“, das Bildnis kratzte sich am Kinn, „du verwechselst Sehnsucht mit Gier.“

Regina war stehengeblieben. Dann schrie sie: „Wie redest du mit deiner Königin?“

Die Kerzen im Raum flackerten.

„Als du mich kennenlernt hast, war dir Geld und Macht egal. Du hast selbst gesagt, dass ich deine wahre und große Liebe bin. Du hast dich von deiner wohlhabenden Familie losgesagt, um mit mir ein neues Leben anzufangen.“ Der junge Mann blickte traurig nach unten.

Regina ging zum Spiegel, streichelte den goldenen Rahmen und hauchte auf die Oberfläche, wo der Mann seinen Mund hatte.

„Ferdinand, ich liebe dich immer noch. Deswegen habe ich dich unsterblich gemacht.“

„Irgendwie fühle ich mich nicht besonders lebendig.“ Seine Augen wanderten von einem Rahmenrand zum anderen.

Regina war ganz euphorisch. „Aber so können wir unser gemeinsames Ziel erreichen. Wenn der König erst einmal tot ist, herrsche ich über das gesamte Königreich und dann gebe ich dir deinen Körper zurück.“

„Der König wird noch lange leben, dass weiß ich. Deswegen hast du mich ja in dieses Gefängnis gesperrt. Und vergiss seine Tochter nicht. Sie wird bald volljährig sein und er wird sie als seine rechtmäßige Erbin einsetzen.“

Regina wanderte durch den runden Raum des Turmzimmers, dass die schweren Vorhänge, mit denen die Fenster verhangen waren, sich leicht zur Seite bewegten.

Niemand außer der Königin durfte dieses Zimmer betreten, denn der Spiegel war ihr größter Schatz.

„Ich konnte dir nur meine Liebe bieten. Ich war nur ein einfacher Hufschmied. Mein Ziel war es dich glücklich zu machen“, sagte Ferdinand traurig.

Die Königin stürzte wieder auf den Spiegel zu und küsste Ferdinands Ebenbild auf den Mund.

Ferdinand schielte auf den Kussmund, den der Lippenstift von Regina hinterlassen hatte.

„Aber du hast mich doch glücklich gemacht. Du siehst alles für mich und hilfst mir damit.“

Ferdinand kam ganz dicht an die Oberfläche heran: „Bist du wirklich glücklich?“

Regina nahm die Krone aus ihrem kunstvoll geflochtenem Haar und besah sich die funkelnden Diamanten im Kerzenschein.

Dann schaute sie in die erwartungsvoll blickenden Augen von Ferdinand.

„Du weißt es selbst nicht“, antwortete er für sie.

Tränen rannen über ihre Wangen.

„Du hast mich mit einem Zauber in diesen Spiegel gezwungen und den König für dich gewinnen können. Ist es das, was du willst? Andere beherrschen?“

Regina setzte sich die Krone wieder auf, wischte die Tränen vorsichtig weg, damit ihre Schminke nicht verschmierte und räusperte sich: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“

„Noch seid ihr es, meine Königin. Aber das wisst ihr schon.“

„Das genügt mir völlig. Du kannst gehen.“

Ferdinand wurde durchsichtig und verschwand. Er konnte in jeden Spiegel und jede spiegelnde Oberfläche wandern und sehen und hören, was um ihn herum geschah. Dies berichtete er dann der Königin.

 

Der junge Prinz blickte in seinen Spiegel und sah ein anderes Gesicht.

„Hört mich an, Prinz. Ich weiß, ihr liebt Schneewittchen, obwohl ihr sie kaum kennt und nur einmal gesehen habt. Die Königin will sie töten, damit sie nicht als rechtmäßige Erbin eingesetzt werden kann. Ihr seid der Einzige, der sie retten kann. Ich werde der Königin raten, Schneewittchen in den Wald zu führen, unbewacht. Dort habt ihr die Möglichkeit, sie in Sicherheit zu bringen. Den Rest müsst ihr selbst erledigen.“

Der Prinz dachte nach. „Wenn ich sie hier verstecke und sie es herausfindet, wird es Krieg geben. Ich könnte sie bei den …“

„Nein, sprecht nicht weiter. Ich bin der Königin zur Ehrlichkeit verpflichtet. Je weniger ich weiß, desto besser. Ich werde zurückkehren und ihr Rat erteilen.“

Als der Spiegel wieder das war, was er eigentlich sein sollte, stürzte der Vater des Prinzen in sein Gemach.

„Sohn, du wirst eine lange Reise antreten. Es geht um bedeutende politische Entscheidungen.“

„Vater ich kann jetzt nicht weg. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Du tust, was ich sage! Und keine Widerrede!“

 

Ferdinand tauchte wieder im Spiegel der Königin auf.

„Ich schlage vor, Schneewittchen in den Wald zu bringen und sie vom Jägersmann töten zu lassen. Alle werden glauben, sie sei weggelaufen. Sie hasst euch ohnehin.“

„Oh, du bist zurück!“, sagte Regina zuckersüß

Sie stand direkt vor ihm hielt ihr Flakon vor die Oberfläche. Sie sprühte dagegen und polierte den Spiegel mit einem Taschentuch blank.

Der Kussmund war verschwunden.

Ferdinand wurde schwindelig. „Mir ist so komisch.“

„Mit Zaubertränken kenne ich mich aus! Du wirst alles vergessen, was du bisher gewusst hast und nur noch mir dienen und mir nicht mehr widersprechen!“ Sie lachte grauenhaft böse.

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“

„Ihr, meine Königin, seid die Schönste im ganzen Land!“, antwortete der Spiegel.

„Danke, Spiegel. Und danke, für die Weisheit, die du mir schenkst“, sagte Regina mit einem diabolischen Lächeln.

„Stets zu Diensten“, antwortete der Spiegel, der sich nicht erinnern konnte, was sie gemeint hatte.