Von Kornelia Wulf

Der scharfe Wind schneidet in Ilanas Glieder. Und ihre lediglich von einem zarten Netzstrumpfgewebe verhüllten Schenkel fühlen sich zwischen den Schaftkanten der silbernen Overknees und den Beinausschnitten der schwarzen Lederhotpants schon fast taub an. Seit Stunden stiefelt Ilana auf dem Parkplatz am Waldrand hin und her, starrt in die Rückspiegel der Autos, die in Kolonnen über die Bundesstrasse rauschen. Doch nur ein einziger Kunde fand bisher den Weg zu ihr. Kein großer Auftrag. Für dessen Abwicklung sie gefühlt nur ein paar Minuten das Höschen hinunter ließ und zwei abgegriffene Zwanzigeuroscheine in Empfang nahm. „Fjodor wird mich in der Luft zerreißen, wenn das so weitergeht“, denkt Ilana, während eine stürmische Böe aus Nordost Fahrt aufnimmt, ihr in die Seite stößt und Schneeflocken in das Gesicht bläst. Ilana wickelt sich in den neuen Teddyblouson. Ein Geschenk von Fjodor. Gestern öffnete sich die Seitentür seines candyroten Ferraris und er warf ihr dieses Fellungetüm mit einer Geste vor die Füße, als handele es sich um einen Goldklumpen.

 

Die Zeit verharrt in trügerischer Stille wie eine träge Spinne, die Ilana einzufangen versucht mit klebrigem Faden. Und um dem Schlaf ein Schnippchen zu schlagen, zieht sie Striche und Kreise in den Schnee. Dreht und biegt den Fuß, versucht der Overkneesonne Strahlen zu verleihen. Dieser gelb glühenden Kugel, die Wärme durch ihren Körper geflutet hatte bis in die Fußspitzen. Und Ilana spürt es noch einmal mit jeder Faser, als geschehe es in diesem Moment. Sie hüpft durch den heißen Sand an Mamas Hand. Streift eine Strähne aus ihrem Gesicht. Schüttelt das dichte, schwarze Haar, bis es die Hüfte streichelt wie ein Schleier. Jeden Bissen hatte Mama sich vom Mund abgespart. Wochenlang, Monatelang. Die letzten Stotinki und Lewa zusammen geklaubt, um mit Ilana an den bulgarischen Strand zu reisen. Nur für ein paar Stunden. Und wenn Ilana die Augen fest zusammen kneift, hört sie noch einmal das Brausen des lauen Seewindes. Schmeckt noch einmal den Saft der Honigmelone, der über ihre roten Lippen in den Sand tropfte.

 

Plötzlich landet eine Pranke auf ihrer Schulter, zerschlägt den Erinnerungsrausch. Ilana schreit leise auf. Ihre Finger zittern in der Seitentasche des Fellblousons, wühlen zwischen Tempotuch, Tampon und Kaugummi nach dem Pfefferspray. Ebenfalls ein Geschenk von Fjodor, das er seinen Mädchen letzte Woche in die Hände drückte. Nach diesem Vorfall mit Tatjanas Kunden. Das Blaulicht blinkte, als sie in die Klinik transportiert werden musste mit einem Gesicht, das Ilana an Auberginenmus erinnerte. „Meine Püppchen, ich beschütze euch“, rief Fjodor, „weil ich euch liebe!“ Und Ilana spuckte einen Tropfen Gift vor seine Füße, der wie bitterer Magensaft über ihre Zunge spritzte. „Wohl eher die Kröten, die du aus uns herausquetscht.“, dachte sie. „Mit denen wir dich füttern.“

 

„Diese Verrückten“, die Furcht drückt wie ein Kropf in ihrer Kehle, „vermehren sich wie Kakerlaken.“ Und während die Faust das Pfefferspray umschlingt, und noch bevor ihr Daumen den Knopf drückt, drängt Fjodors Wange sich eng an ihr Gesicht. So dicht, dass die von Narbenwülsten verwüstete Haut auf ihrer Schläfe schabt. „Was für ein Wetter“, stöhnt er. Die Kanonenkugelmuskeln unter den Lederärmeln rollen, drohen die Nähte seiner Jacke zu zerreißen, während sein Rücken sich gegen einen Windstoß stemmt. „Da friert jedem Kunden der Hosenschlitz zu.“ Fjodor reibt Daumen und Zeigefinger aneinander und Ilana gehorcht blind. Verabschiedet sich von den beiden Geldscheinen. „Scheiß Sturm“, er spuckt aus, und Ilana bewundert den schleimigen Wutfladen auf ihrem Overknee, der einem gelbgrünen Kleeblatt täuschend ähnelt. Sie spürt den Ekel in seinem Blick, der an seiner Oberlippe zieht. „Mann, siehst du grottig aus. Dawai, dawai! Ich fahre dich nach Haus. Du musst endlich etwas Vernünftiges essen.“ Fjodors Finger sticht in ihre Rippen, doch Ilana verzieht keine Miene, versucht den scharfkantigen Schrei zu verschlucken, der in ihre Kehle schneidet. „Nicht immer Kaugummi oder Salat. Kauf dir Döner oder Pizza.“, und stopft einen der Zwanziger in ihre Jacke. „Wenn du so weitermachst, platzt bald die Haut von deinen Knochen. Und dein Gesicht“, er zwickt in den eingefallenen Hautlappen, der ihren Kiefer umspannt. „Pack endlich Farbe drauf. Kein Kunde will mit Gespenstern ficken.“

 

Und dann ist es wieder soweit.

 

Ilana versucht ein Gähnen zu unterdrücken, als Fjodor sie heraufbeschwört und sieht schon die matka vom Himmel herabschweben. Auf einer Wolke, auf der ihr fetter Hintern thront, das feiste Gesicht gerahmt von einem Heiligenschein. Und dann spult er sie wieder  ab. Die Geschichte von diesem Jahrtausendsommer, in dem die Klaräpfel an den Zweigen und die Körner an den Ähren verdorrten, die Kühe umkippten wie die Fliegen. Die Mittagshitze dampfte, doch matka rannte mit einem Fleischermesser in den Wald, stach tollkühn einen Frischling ab. Und während sie um Haaresbreite dem Hauer eines Keilers entwischte, der danach lechzte, ihren Bauch aufzuschlitzen, kochte sie eine kräftige Brühe aus Lunge und Leber. Um ihre sieben Kinder (oder waren es siebzehn?) vor dem Hungertod zu retten.

 

***

 

Die Schlussleuchten des roten Ferraris scheinen sich im Schneeflockenwirbel aufzulösen, als Ilana das düstere Einraumkabuff betritt, das sich vornehm Souterrainappartement nennt. Sie versucht sich an dem Spiegel im Flur vorbei zu drücken, doch er zieht sie ganz nah an sich heran. Als verfüge er über geheimnisvolle Kräfte. „Wo Fjodor Recht hat, hat er Recht“, murmelt Ilana, während ihr mikroskopischer Blick Zentimeter für Zentimeter die ehemals karamellfarbene Haut inspiziert. Kalkweiß sieht sie aus wie eine Wand. Grob. Rissig. An einigen Stellen schon abgeblättert. Als sie das T-Shirt über ihren Kopf streift, trudeln schuppige Fetzen auf die von undefinierbaren Placken besiedelte Auslegeware. Und der Spiegel antwortet in unmissverständlicher Sprache, wirft die dunklen Flecken zu ihr zurück, die wie Stempel auf den spindeldürren Rippen prangen.

 

„Manchmal liebt Fjodor seine Püppchen.“ Ilana nickt. Doch wenn er sie hasst, knallt er sie an die Wand. Trampelt auf ihren Körpern herum, als bestünden sie aus Plastik.

 

Er hatte sie mit ihrem neuen Stammkunden erwischt, der seit ein paar Wochen seinen LKW auf den Parkplatz lenkte. „Spedition Prinz“ stand auf der Plane. Er nannte sich Fritz. „Was für ein schräger Vogel“, dachte Ilana und musste sich auf die Lippen beißen. Um nicht schallend heraus zu prusten, wenn er sich vor ihr verbeugte und seine  schwammnassen Lippen wie ein Feudel über ihren Handrücken wischte. Dann legte er sie auf das Laken in seiner Schlafkoje. Mit behutsamen Händen, als habe Ilana sich in ein rohes Ei verwandelt. Und wenn er sich in ihre schwarzen Strähnen wickelte, bis sein knorriger Körper aufseufzend erbebte, atmete sie ganz still. Durfte keinen Muskel regen, als stecke eine Narkosenadel in ihrer Vene. Dabei brabbelte er pausenlos. Etwas von einem Schneewittchen… das er mehr als sein Leben liebe… das ganz bald auferstehen werde… krankes Zeug eben, das an Ilana abperlte wie Tropfen an einer Gummihaut, wenn er die gerollten Grünen in ihren Ausschnitt steckte.

 

Nur noch zwei Scheine hatten für das Flugticket gefehlt. Um endlich abzuhauen. Zurück in die Freiheit. Zurück zu Mama.

 

Als Fjodor mit ihr fertig war, schleifte er sie am Schopf über den Parkplatz. Und während ihre Haarbüschel mit Bananenschalen und Babywindeln um den Platz im Mülleimer stritten, fühlte sie sich für einen Moment skalpiert und versuchte die Haut zurück auf den Kopf zu drücken.

 

***

 

Ilana tastet nach dem Röhrchen mit ihren neuen Freunden in der Hotpantstasche. Noch ein Geschenk von Fjodor. Er stopfte es zwischen ihre Lippen, als der dünne Schrei über den Parkplatz schwirrte, sich wie ein klirrender Faden um seine Ohrmuschel schnürte und den Ohrfeigen und Mineralwassergüssen standhaft widersetzte. Sie rollt die Wodkaflasche unter der Schlafcouch hervor, schüttelt die rosafarbene Pillen in ihren Mund. Vielleicht vier oder fünf, sie weiß es nicht so genau. Spült sie hinab mit tiefen Schlucken, die ein sanft knisterndes Feuer in ihren Eingeweiden anzünden.

 

Und dann ist es wieder soweit.

 

Dieses seltsame Gel tropft auf ihren Scheitel. Rinnt zäh wie Kleister über Schultern, Hüften, bis unter die Fußspitzen. Härtet dann ab. Kristallklar. Und sie wiegt sich in seiner unzerbrechlichen Hülle. Wie in einem Kokon aus biegsamen Glas, in dem ihre Gedanken ein Zwitschern anstimmen und die Zacken der Angst rund geschliffen schweben. Plötzlich fließt ein Gelfaden zwischen Ilanas Lippen, haftet fest wie Klebstoff in ihrem Schlund und Ilanas Lungen betteln um Luft. Ihre Beine scheinen sich in Gummi zu verwandeln, als sie nach Atem ringend durch die Haustür tritt und eingekreist von dem Dröhnen protestierender Hupen, das in ihren Glasohren wie das dumpfe Muhen eine Kuhherde klingt, über die  Fahrbahn wankt.  Auf den letzten Metern verweigern die Füße ihren Dienst. Knicken einfach ein, wie geköpfte Streichhölzer. Und während ihr Kopf auf den Bordstein knallt, graben sich die Zähne in ihre hechelnde Zunge.

 

Die Schneeflocken fallen wie Federn vom Himmel herab.

 

Bedecken Ilana mit ihrem weichen Flaum. Noch einmal hört sie seine Stimme. Ein rauer Hauch, der an ihrem Ohr vorbei zu fliegen scheint. „Immer nur eine Pille. Ist starke Medizin. Haut rein wie Bullenschwanz.“

 

„Wo Fjodor Recht hat, hat er Recht.“, flüstert Ilana.

 

Als ihr Kopf zur Seite sackt, quellen ein paar Bluttropfen über die Lippen. Und der Mond beglänzt das Rot, das ein wunderschönes Muster malt in den frisch gefallenen, weißen Schnee.