Von Florian Ehrhardt

„Na, gut geschlafen?“

Ich schlage die Augen auf. Der Typ, der in mein Blickfeld gerät, blickt mich erwartungsvoll an. Also gut. Irgendwas muss ich jetzt sagen. „Wo bin ich?“ Falsche Antwort.

„Du liegst in einem Glassarg. Also genauer gesagt im Wald. Also um ganz genau zu sein, warst du sogar tot, du bist vergiftet worden, also von der Königin, aber…äh…eigentlich ist das ja ‘ne böse Hexe, aber zum Glück haben dich die Zwerge in diesem Glassarg halbwegs konservieren können, also zumindest bis ich gekommen bin und dann konnte ich dich ja – in meiner Funktion als Prinz – durch meinen Kuss wieder zum Leben erwecken…“

„Stopp! Langsamer! Bitte…wer auch immer du bist…ich verstehe kein Wort! Ich war tot?“

Seine blauen Augen blicken mich verständnislos an. „Äh…ja, natürlich warst du tot!“

Ich muss weniger saufen.

Der „Prinz“ fährt fort: “Naja, aber die Zwerge haben dich dann ja doch noch gerettet.“

Und weniger kiffen.

Jetzt hält der Prinz endlich inne: „Naja, wobei, wirklich gerettet haben sie dich nicht. Das war schon ich. Also durch meinen Kuss.“

Ich schlucke. Was habe ich gestern Abend um Himmels Willen alles eingeworfen?

Aber der Typ erlaubt mir nicht einmal eine Denkpause und sprudelt weiter: „Also ich finde, ich habe das echt gut gemacht. Diese Hochzeit habe ich mir wirklich verdient!“

Ich blicke ihn erschrocken an: „Welche Hochzeit?!“

„Äh, Hallo? Unsere natürlich!“

„Äh…was?!“

„Unsere Hochzeit!“

„Ich glaube…ich glaube ich verstehe dich nicht ganz.“ Mir stockt der Atem. „Denkst…denkst du ernsthaft, du kannst hier durch den Wald rennen und Mädchen küssen, damit sie dich heiraten? Denkst du wirklich, dass das reicht?“

„Japsolut!“

„Spinnst du?!“

„Nein! Natürlich nicht? Oder sehe ich aus wie die Goldmarie?“ Er streicht sich etwas unsicher durch sein gelocktes, braunes Haar.

Toll, Ironie versteht mein Prinz also auch nicht. „Ich meine, du hast einen an der Klatsche!“ Das letzte Wort schleudere ich ihm entgegen.

„Da verwechselst du mich mit meinem enterbten Cousin. Der Depp ist doch tatsächlich Schneider geworden. Kaum vorstellbar! Und außerdem, die Fliegen hat er nicht mit der Klatsche drangekriegt, sondern mit seinem Brot. Schade um das Pflaumenmus. Aber er war eben ein Depp.“ Mein Prinz sinniert weiter. „Er würde eigentlich viel besser zu dir passen. Aus deinem Gesprächsverhalten schließe ich nämlich, dass du auch eher eine hohle Nuss bist. Aber mir soll’s recht sein. Dumm fickt gut.“

Mir bleibt der Mund offen stehen. „Äh…was?!“, bringe ich durch meine heruntergeklappte Kinnlade heraus.

„Na, ich meine, wer so dumm ist wie du und solche Mördertitten hat, ist bestimmt eine Granate im Bett! Muss ich dir wirklich alles erklären?“

„Fahr doch zur Hölle!“

„Oh nein, sag bitte nicht, dass dein Vater auch so ein Verrückter ist, der seine Tochter nur für die drei goldenen Haare des Teufels vermählt!“

Von was redet Prinz Doof da nur? „Ich…äh…ich habe ehrlich gesagt gar keine Ahnung, wovon du redest. Ich bin keine Prinzessin! Und ich werde dich sicher nicht heiraten! Was ist daran denn nicht zu verstehen?“

Der Prinz sieht mich verdutzt an. „Eigentlich so ziemlich alles.“

„Wie, alles?“

„Naja, weißt du nicht, wie die Welt funktioniert? Dumme, schöne Mädchen wie du taumeln blind von einer Gefahr in die nächste bis sie sterben und von Zwergen aufgebahrt werden. Dann muss ein tapferer Prinz wie ich kommen, nur so kann eine wie du gerettet werden!“

„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass eine wie ich nicht gerettet werden will?“

„Das kommt jetzt zu spät. Ohne mich würdest du schließlich immer noch in deinem Glassarg liegen.“

Ich schaue mich um. „Naja, momentan sitze ich immer noch hier drin, also wenn du wirklich mal eine Hilfe sein willst, könntest du mir ja hier raushelfen!“

Der Prinz reicht mir seine Hand, ich schwinge meine Füße aus dem seltsamen Glassarg und komme – etwas unsanft – auf dem Waldboden auf.

„Gern geschehen!“

„Ja ja, das hätte ich zur Not auch noch selbst geschafft. Also jetzt nochmal: Warum willst du mich denn unbedingt heiraten?“

„Ganz einfach: Du bist Schneewittchen!“

„Ich bin nicht Schneewittchen! Ich bin…“ Wer bin ich überhaupt? Na toll. Ich stehe im Wald, habe den ersten und verpeiltesten Heiratsantrag meines Lebens bekommen und kenne meinen Namen nicht mehr. „Also…ähm…ich bin…“

„Schneewittchen!“

„Meinetwegen.“ Jetzt meldet sich auch mein Kater-Schädel. Der Sprung auf den Waldboden muss ihn aufgeweckt haben.

„Na siehst du! Außerdem passt die Beschreibung einfach perfekt! Haar wie Ebenholz, Lippen so rot wie Blut und so eine weiße Haut habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!“

Ich bin offensichtlich in einer Welt gelandet, in der die Männer erst einen Antrag machen und dann anfangen zu flirten. „Na gut, dann bin ich eben Schneewittchen.“ Zugegeben, momentan würde ich sogar gestehen, die Queen zu sein, wenn dafür diese Kopfschmerzen aufhören würden. Sind die Queen und Schneewittchen eigentlich verwandt? Dem Prinz ist das bestimmt egal.

„Na also, dann fahren wir jetzt mit der Kutsche zu meinem Schloss! Freut mich, dass ich dein Herz erobern konnte!“

„Wie bitte? Du hast mein Herz kein bisschen erobert! Und selbst wenn: Was würdest du denn damit machen? Machst du das immer so mit Herzen? Packst du so ein Herz in deinen Rucksack und machst dich zackig aus dem Staub oder was planst du?“

Der Prinz ignoriert meine Frage und läuft los. „Erklär ich dir auf dem Weg zur Kutsche.“ Er führt mich in Richtung einer Lichtung und brabbelt weiter: „Also, erstens, das was zu beschrieben hast hatte nicht ich mit deinem Herz vor, sondern die böse Königin! Und zweitens“ – seine Stimme wird zu einem Flüsterton – „ist Herz nur eine Umschreibung für Jungfräulichkeit. Das solltest du wissen.“

Ich werfe meinen Kopf in den Nacken und beginne zu lachen. Offensichtlich so laut, dass einige Vögel von den Bäumen auffliegen. „Jungfrau? Ich?! Mein Lieber, da hättest du aber ein paar Jahre früher kommen müssen!“

Der Prinz bleibt wie angewurzelt stehen. „Aber…ich…ich dachte du wärst Schneewittchen…du hattest immer nur Kontakt zu den Tieren im Wald und den Zwergen…die haben doch nicht etwa…?“

„Welche Zwerge denn?! Ich habe dir doch gesagt, dass ich die Zwerge nicht kenne und nicht Schneewittchen heiße!“

„Wohl eher Schneeflittchen!“

„Ist mir doch egal, wie du mich nennst!“

„Dann fahr doch zur Hölle du Hure!“ Das Gesicht des Prinzen ist zu einer wütenden Grimasse geworden.

Plötzlich hat er ein Schwert in der Hand. Er schwingt es über seinem Kopf hin und her. Noch einmal sehe ich es aufblitzen, will schreien, doch kein Ton kommt aus meinem Mund. Mir wird schwarz vor Augen.

 

***

 

Mein Schrei weckt mich auf. Es ist dunkel und nicht so schön hell wie in dem Wald, dafür aber kuschelig warm. Ich bin endlich zurück in meinem Bett. Ich greife nach meinem Handy auf dem Nachttisch und checke die Uhrzeit. 3:49 Uhr. Das sind noch mindestens zwei Stunden Schlaf. Ich taste nach Marcels Haaren auf der anderen Seite der Matratze. Er gibt einen zufriedenen Grunzlaut von sich und ist verarbeitet meine Berührung wohl in seinen Träumen.

„Stephen King ist keine gute Bettlektüre Sophie! Am Ende jagt dieser Pennywise dich noch in deinen Träumen, Sophie! Les doch lieber was Klassisches! Wie wäre es denn mit Grimms Märchen?“

„Schönen Dank auch, Arschloch!“, murmele ich, bevor ich dem Arschloch einen Kuss auf die Wange gebe und mich neben ihm einrolle. Mal sehen ob ich im nächsten Traum mit Hänsel durch den Wald laufe oder mit sehr langen Haaren in einen Turm gesperrt werde. Scheiß Märchen!