Von Carina Heinreichsberger

Oh… Das war‘s dann wohl?, dachte Schneewittchen. Die Dunkelheit vor ihren Augen zog sich immer weiter zu. Die trauernden Stimmen der Zwerge hörte sie wie durch Watte hindurch.

So hatte sie sich ihr Ende nicht vorgestellt. Vergiftet von einem Apfel, durch ihre Stiefmutter – der Königin.

Aus dem letzten Funken Licht formte sich die Gestalt einer jungen Frau. Sie wirkte vertraut und fremd zugleich. Als ob sie bereits ihr ganzes Leben über sie gewacht hätte. Die Frau nagte an ihrem Stift. Dann flüsterte sie: „… aus.“

Angestrengt beobachtete Schneewittchen die Bewegung der Lippen.

„…el aus!“

Es war unmöglich die Worte genau zu hören.

Plötzlich verdrehte die Frau die Augen, seufzte genervt und brüllte: „Jetzt spuck den verdammten Apfel aus!“

In derselben Sekunde reckte sich Schneewittchens ganzer Körper. Sie hustete aus Leibeskraft und der Apfelbrocken schoss ihr wie eine Kanonenkugel aus dem Rachen heraus.

 

***

 

Vor etwa einer Woche hatte Prinz Charming – nein, dies war kein Beiname, der ihm von den verliebten Damen am Hof gegeben worden war, sondern sein tatsächlicher Name – eine sonderbare Unruhe in seinem Bauch verspürt.

Dann plötzlich war in ihm ein einzelner Gedanke aufgeploppt: Such die Königstochter!

Dabei hatte er eigentlich gar kein Interesse an irgendwelchen Töchtern. Warum auch? Frauen waren laut, nervig und quengelten den lieben langen Tag. Das kannte er von seinen fünf Schwestern und den drei Cousinen, mit denen er im Schloss leben musste.

Und dennoch war er aufgebrochen.

Der einzige Gedanke, der seine Reise etwas attraktiver gestaltet hatte, waren die Geschichten um die sieben Begleiter, die Schneewittchen behüteten. Vielleicht war er ja deshalb losgeritten.

Die Erleichterung, die er beim Anblick des tiefschlafenden Schneewittchens empfunden hatte, war nicht in Worte zu fassen. Die kann man ja gar nicht heiraten!, hatte Charming freudig festgestellt.

Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen stellten außerdem die sieben Männer dar, die Schneewittchen in ihrer Zeit in den Wäldern behütet hatten. Jene Männer, die ihm den Glassarg ausgehändigt hatten, welchen seine Männer nun trugen. Und jene Männer die er seither musterte. Von oben bis unten. Ausgiebig.

Schicke Bärte, kräftige Oberarme und gut bestückt. Das offenbarten zumindest die enganliegenden Hosen.

Dem Prinzen schlug das Herz bis in den Hals und ein feuriges Verlangen stieg in ihm auf. Er musste sich beherrschen. Im Schloss würde er noch genügend Gelegenheiten bekommen, über die Zwerge herzufallen.

Mit einem lauten Krachen zerplatzte seine Traumblase. Einer der Männer quietschte entsetzt auf, als hätte man ihm zwischen die Beine getreten.

Der gläserne Sarg war zu Boden gefallen.

„Seid ihr wahnsinnig?!“, brüllte Charming. „Ihr könnt sie doch nicht einfach fallen lassen!“

„Aber… aber sie hat sich bewegt!“, stotterte derselbe Mann. Der Blick des Blondschopfs wanderte zu Schneewittchen.

Diese saß wie eine ägyptische Königin halb liegend halb sitzend im Sarg und rieb sich den Kopf. Bei dem wuchtigen Aufprall hatte sie sich scheinbar den Kopf gestoßen.

Doch nicht nur das.

Auch diverse Essensreste hatten sich aus den Fängen des Magens befreit. Angewidert starrte der Prinz auf den ausgekotzten Apfelrest, der in der Mitte ihres Rockes klebte.

Man konnte eindeutig erkennen, dass Schneewittchens letzte Mahlzeit aus Erdnüssen und irgendeinem Grünzeug bestanden hatte. Kauen hat man der wohl auch nicht beigebracht…

Der Prinz rümpfte die Nase und wandte sich ab.

Was sollte er denn nun tun?

Gerade eben hatte er noch geglaubt, sich von seinem auferlegten Schicksal befreit zu haben.

Doch nun sah es beinahe so aus, als plante diese furchteinflößende Kreatur, die er gerne als Autorin bezeichnete, ihn tatsächlich mit einer Frau zu verkuppeln!

Jenes Wesen, dass in ihm seltsame Wünsche und Eingebungen pflanzte, ohne, dass er danach verlangte!

Verstohlen blickte er über die Schulter zu den sieben Zwergen. Sie waren etwas zurückgefallen und hatten noch nichts von Schneewittchens Erwachen mitbekommen.

Dann wandte er sich wieder seufzend dem jungen Mädchen zu. Er würde sich ja doch nicht gegen den Willen der Autorin auflehnen können.

Sein Blick fiel immer wieder auf den halbverdauten Klumpen. Ekelerregend.

 

***

 

Schneewittchen bemerkte den Blick des Prinzen und ihr eigener wanderte an sich herab. Sofort entdeckte sie den Apfelklumpen – und diverse andere Essensreste – auf ihrem Kleid und rümpfte die Nase.

Kein Wunder, dass er sich von ihr abgewandt hatte. Mit zwei Fingern und der Mine eines Latrinenputzers versuchte sie das Mus von ihrem Kleid zu schaben. Doch dadurch wurde der gelbbraune Fleck nur noch größer. Schneewittchens Mundwinkel gruben sich tiefer nach unten.

Na toll…

Der Prinz sprang von seinem weißenbrauen Ross und verharrte in heroischer Pose. Als ob eine magische Kraft diesen Moment vollkommen unter Kontrolle hätte, formten die Sonnenstrahlen plötzlich einen hell leuchtenden Lichtkegel, der direkt auf den Edelmann und sein Pferd gerichtet war.

Sein blondes Haar schimmerte glanzvoll und seine Augen standen dem Blau des tiefen Meeres um nichts nach. Die Mähne seines Pferdes wehte in einer sanften Briese, und sein Fell funkelte, als ob es aus tausenden Kristallen bestünde.

Doch beim zweiten Blick durchschaute Schneewittchen diesen malerischen Anblick. Da hatte die Autorin ihr wohl wieder etwas einreden wollen! Jene überlegene Macht, die ihr Leben zu bestimmen schien.

Nicht mit mir!, dachte Schneewittchen – und der Lichtkegel verschwand.

Sofort stach das matte Braun auf der Hose des Prinzen und den Beinen des Pferdes hervor. Schlamm. Erde. Und Grashalme. Wenn man genau hinsah erkannte man auch vereinzelte braune Kotkugeln, die ohne Zweifel von Hasen stammten.

Auch nicht viel besser als mein Apfelklumpen, dachte Schneewittchen schadenfroh.

Plötzlich gestikulierte der Prinz in schwungvolle Handbewegungen. Die Glaskuppel hob sich und wurde am Boden abgestellt. Die Gesichter aller Männer liefen bei der Anstrengung knallrot an.

Außer einem.

Sein Gesicht war bleich. Er hatte sich die Zehe unter dem Sarg eingeklemmt.

Panisch eilte einer seiner Kollegen zu ihm, um ihm aus dem gläsernen Griff des Sargs zu befreien.

„Oh, mein liebes Schneewittchen“, begann der Blondschopf plötzlich mit übertrieben lauter Stimme, als ob er auch das Land hinter den sieben Bergen mit seinen Worten bereichern wollte. „Welch‘ Glück, dass ihr erwacht seid!“

Schneewittchens Blick war noch immer auf die umherwuselnden Männer gerichtet. Das arme Bleichgesicht steckte noch immer unter dem Glasdach fest. Ob sein Fuß das wohl überlebte?

„Tag und Nacht habe ich nach euch gesucht, nur um euch in diesem Todesschlaf vorzufinden. Ich bin ja so glücklich, dass ihr wieder erwacht seid!“

Endlich schafften es die Männer, den Sarg wieder zu heben. Vorsichtshalber entfernten sie sich einige Schritte von dem Glassarg, so als ob er ein altbekannter Bösewicht war, der sich wieder auf sie stürzen würde, sobald er die Gelegenheit dazu bekam.

Der Prinz räusperte sich. Sein Gesicht war nur eine handbreite von ihrem entfernt.

„Jetzt spiel gefälligst mit, ich kann das hier nicht alleine machen“, zischte er und blickte nervös über die Schultern.

Schneewittchen strengte sich – gegen den Willen der Autorin – an, dem Prinzen einen gelangweilten Blick zuzuwerfen. Sie war es leid, diese Rolle als arme Prinzessin zu spielen, die nur darauf wartete von ihrem Prinzen gerettet zu werden. Sie hatte es ja versucht. Und das hatte ihr einen vergifteten Apfelklumpen im Rachen beschert!

Also drückte sie die Schultern durch, hob das Kinn und nickte zu dem Mann, der nun vermutlich nur noch neun statt zehn Zehen besaß.

„Tut mir leid, dass ich von dem Leid deines Mannes dort drüben abgelenkt war.“ Schneewittchen war sich sicher gewesen, Sarkasmus in ihre Stimme gelegt zu haben. Doch nichts davon war zu hören. Stattdessen schwang in ihren Worten der Klang von Blumen und Regenbögen mit.

Genervt starrte sie in den Himmel. Ich werde diese Singstimme schon noch los, ich sags dir!, drohte sie in Gedanken. Doch das war der Autorin herzlich egal.

Der Prinz indes schien durch den bloßen Anblick seines armen Mannes zu Stein erstarrt zu sein. Dann färbte sich sein Gesicht weiß. Langsam – so als ob seine Zeit und die einer Schnecke sich aufeinander abgestimmt hatten – wandte er sich wieder ihr zu. Der Mund stand ihm halb offen.

In seinen Augen stand schieres Entsetzen.

Als der Prinz wenige Augenblicke später noch immer kein Wort von sich gab, lehnte sich Schneewittchen in seine Richtung.

„Was ist passiert?“, fragte sie und schluckte die Angst herunter, die sich auch in ihr breitmachte.

Einige weitere Sekunden vergingen. Dann sprach er abgehackt: „Jetzt… muss ich dich… ja wirklich heiraten!“

Schneewittchen riss die Augen auf.

„WAS?!“, sang sie in lieblichen Tönen. Sie ignorierte die ungewollte Tonlage.

„Ich kann nichts dafür!“, jammerte der Prinz. „Es ist wie ein Zwang! Ich habe gar keine Wahl!“

Schneewittchen kniff skeptisch die Augen zusammen. Sie sah nach links. Und dann nach rechts. Machte sicher, dass auch niemand lauschte.

Dann näherte sie sich dem Prinzen, formte mit den Händen einen Tunnel um sein Ohr und flüsterte: „Hörst du sie auch?“

Erschrocken blickte der Prinz das junge Mädchen an. Auch er sah sich wachsam um. Dann flüsterte er ebenso vorsichtig wie Schneewittchen: „Die Autorin?“

Schneewittchen nickte hastig.

Die beiden starrten einander eine Weile an.

„Sie zwingt mich dazu eine Prinzessin zu heiraten!“, hauchte Charming empört.

„Und mich hat sie dazu gezwungen einen giftigen Apfel zu essen!“, zischte Schneewittchen.

Im Versuch herauszufinden, wer von den beiden es denn schlimmer getroffen hatte, diskutierten die beiden Königskinder eine Weile.

Dann plötzlich verstummten sie. Ein hinterhältiges Grinsen umspielte ihre Lippen. Dann starrten sie beide in den Himmel.

Das gefiel der Autorin gar nicht.

 

~ Version 2 ~