Von Mona Ullrich

Meine einzige Tochter, die Sandrine, hatte mir schon viele Sorgen gemacht. Als sie noch klein war, hatte sie häufig hohes Fieber. Und als meine Frau starb, wurde sie still und zog sich zurück. Sie war damals dreizehn Jahre alt und hatte eigentlich viele Freundinnen, aber sie ging dann nur noch aus dem Haus, wenn sie musste.

Sie war eine gute Schülerin und sehr hübsch, obwohl ihre Lebensweise sie dicklich gemacht hatte.

Ich lernte schließlich Agnes kennen, eine neue Mitarbeiterin in unserer Pharmafabrik, und die gefiel mir so gut, dass ich ihre Nähe suchte. Ich lud sie zum Essen ein. Danach waren wir befreundet.

Agnes war eine unternehmungslustige und immer gut gelaunte Blondine, aber sie konnte auch zuhören. Ihr vertraute ich meine Sorgen gerne an.

Allerdings war es nicht einfach, mit ihr über Sandrine zu sprechen. Sie meinte, ich sei zu ängstlich. Mädchen in Sandrines Alter seien eben manchmal sonderbar. Das wachse sich aus.

Ich schlug einen gemeinsamen Spaziergang vor, damit Agnes Sandrine kennenlernen  und sich selber einen Eindruck verschaffen konnte.

Wir trafen uns an einem Sonntagnachmittag im Botanischen Garten. Der Tag war hell und mild. Der Frühling hatte gerade angefangen.

Ich hatte den Botanischen Garten vorgeschlagen, weil Sandrine Blumen liebte. Sie hatte einen eigenen kleinen Blumenkasten vor ihrem Fenster. Irgendwie musste ich die Stubenhockerin ja aus der Wohnung locken.

Wir trafen uns im Café der Gartenanlage, Agnes, Sandrine und ich. Agnes war schon da, als wir kamen. Sie trug einen hübschen hellbraunen Trenchcoat und darunter einen karierten Rock. Sie winkte uns.

„Das ist also die Sandrine!“ sagte sie. „Komm her, Kind, und lass dich umarmen!“

Meine Tochter ließ mit angespannter Haltung die Umarmung über sich ergehen. Und als nach ihren Wünschen gefragt wurde, wollte sie nur ein stilles Wasser und keinen Kuchen.

„Ich glaube, du bist selber ein stilles Wasser!“ neckte sie Agnes. „In deinem Alter konnte ich keiner Kuchentheke widerstehen!“

„Ich mag Kuchen!“ antwortete Sandrine mit verfinstertem Gesicht. Sie verteidigte sich, ohne angegriffen worden zu sein.

Das entging mir nicht. Ich dachte: „Das ist kein guter Anfang!“

Wir besichtigten zuerst den Teich mit seiner Flora und Fauna. Sandrine ging vor uns her und blieb nirgends stehen und drehte sich nicht zu uns um.

Die Wiesen blühten. Überall waren die lila Schatten der Krokusse. Es gab bereits Primeln.

„Gut, dass wir hergekommen sind!“ meinte Agnes. „Bei mir in Neukölln krieg ich ja kaum was vom Frühling mit.“

So freute sich wenigstens eine von uns. und sie lachte nur, als ihr ein Vogel auf die Schulter schiss. „Wer bezahlt jetzt die Reinigung?“ fragte sie.

Ich wusste, dass die Frage nicht ernstgemeint war, bot aber trotzdem an, die Reinigung zu bezahlen.

Sandrine sah jetzt noch finsterer aus. Nahm sie Agnes die Beachtung übel, die sie bei mir fand?

Meine Tochter war eben schwierig. Das zeigte sich immer wieder. Sie hätte wohl lieber zuhause in ihrem Zimmer gesessen.

Auch Agnes hatte irgendwann genug. Als ich anbot, sie nach Hause zu fahren, lehnte sie ab: „Mit der Bahn bin ich schneller da!“

So verlief die erste Begegnung. Danach hatten Agnes und ich ein Gespräch über meine Tochter.

„Sie ist verwöhnt!“ meinte Agnes. „Du lässt ihr zu viel durchgehen.“

„Sie tut mir eben leid. Sie hat ja keine Mutter mehr.“

„Mit deiner Lässigkeit tust du dem Kind keinen Gefallen. Schick sie in einen Sportverein. Sie braucht Kontakt und Bewegung.“

Das nahm ich ernst. Ich drängte ein bisschen und konnte schließlich Sandrine zum Handball anmelden.

Nach der Schule war Training. Dann kam Sandrine müde nach Hause. Sie beklagte sich nicht, aber ihr hängender Kopf, ihre schlaffe Haltung beim Abendessen beunruhigten mich.

Vielleicht gehörte das nur zum Übergang in ein aktiveres Leben? Ich wollte ein gutes Beispiel geben und fing selber wieder mit dem Laufen an. Morgens gab es jetzt bei uns Müsli, damit wir Kraft genug hatten. Und zwei, drei Wochen war weiter nichts. Nur unser neuer Alltag.

Dann erschien Sandrine eines Morgens nicht zum Frühstück. Ich dachte, sie habe verschlafen, und klopfte bei ihr an, bevor ich zur Arbeit aufbrach.

„Papa, mir ist so elend!“ kam es von drinnen.

Ich trat in ihr Zimmer und fand sie im Bett vor, mit einem Berg Kissen auf ihrem Leib. „Hast du Bauchweh, Sandrine?“

„Ja.“

„Kannst du heute nicht zur Schule?“

„Nein. Und zum Handball auch nicht.“

„Hast du deine erste Menstruation?“ Die Frage war nicht leicht für mich, aber als alleinerziehender Vater einer Tochter verlangte ich dergleichen von mir.

„Ja.“

Ich hatte vorgesorgt und Tampons für sie gekauft. Die brachte ich ihr nun und warf das Handtuch in den Wäscheeimer, mit dem sie sich beholfen hatte.

Danach rief ich die Schule an. Ich brachte Sandrine Kaffee und Müsli ans Bett.

Ich musste mich verabschieden, aber ich versprach, an diesem Tag früher mit der Arbeit aufzuhören.

„Deine Tochter wird jetzt erwachsen!“ lächelte Agnes, als ich ihr von Sandrines Elend erzählte. „Warte nur ab- bald hat sie einen Freund!“

Einen Freund brachten uns die nächsten Wochen nicht, aber jedes Mal, wenn Sandrine ihre Menstruation bekam, war sie einige Tage lang krank. Sie konnte dann nichts machen. Sie sagte das, und ich glaubte ihr.

Ich besorgte eine Wärmflasche, die sie sich auf den Bauch legen konnte. Ich gab ihr Schmerztabletten.

Agnes war nicht einverstanden. „Deine Tochter braucht eine Frauenärztin!“ erklärte sie. „Mit der kann sie dann über Verhütung und andere Frauensachen sprechen. Du bist dafür nicht der Richtige. Vor dir geniert sie sich. Ich weiß das. Ich war auch einmal dreizehn.“ Und dann war Pfingsten. Wir besuchten das Berliner Pfingstfest, Sandrine, Agnes und ich. Agnes kaufte an einer großen bunten Bude Lose und gewann selber einen Plüschbären. Sandrine und ich hatten Nieten.

„Der ist für dich!“ sagte Agnes zu Sandrine und drückte ihr den Bären in den Arm. „Dem kannst du alles erzählen.“

Sandrine bedankte sich nicht und hielt den Bären, als sei er schmutzig. Am nächsten Tag entdeckte ich ihn oben auf dem Hausmüll, als ich unseren Müll hinausbrachte.

Da hatte ich genug. Bis dahin hatte ich mit meiner Tochter Geduld gehabt, und auch ich hatte gelitten, wenn sie ihre Menstruation hatte. Aber das? Ein Mensch tat ihr etwas Liebes, und sie reagierte so?

Etwas musste sich ändern. Ich ging zurück in unsere Wohnung und rief: „Sandrine! Du bist gemein!“ Denn vielleicht hatte ich sie wirklich zu sehr verwöhnt.

Meine Tochter saß noch am Frühstückstisch. Das Essen war unberührt, das ich für sie gerichtet hatte, und ich fragte mich, ob sie es sonst wegwarf, wenn ich nicht mehr da war.

Sie sah von ihrem Kaffee auf und lächelte. Ein kleines, belustigtes Lächeln. Dann nahm sie ein Stück Brot und biss hinein.

Und von da an hatte ich eine muntere und umtriebige Tochter, die zu jedem Ausflug mitkam und mit Agnes plauderte, als habe sie nie etwas gegen sie gehabt.

„Das ist kein Wunder!“ antwortete Agnes, als ich mit ihr über die Verwandlung sprach. „Deine Tochter erinnert mich an das Schneewittchen. Das wurde wieder munter, nachdem es den vergifteten Apfel ausgespuckt hatte. Deine Grobheit hat Sandrine geheilt. Sie hat aufgehört, über ihre Mutter zu trauern.“