Von Janna Lehmann

Kaja knurrt. Ein Knacken im Unterholz. Mir schießt das Adrenalin in die Adern. Ein Wildschwein? Der Wald ist hier voll damit. Unter Umständen sogar eine Bache mit ihren Frischlingen? Die sind ja besonders gefährlich! Ängstlich und angestrengt sehe ich in den kleinen, zugewachsenen Seitenpfad, von wo das Geräusch herkommt.

Aus dem stapft jetzt ein dunkelgrün gekleideter Herr mit Forstamtsticker, der höchstens wegen seines grauen struppigen Haarschopfes, der unter der Mütze hervorquillt, Ähnlichkeit mit einem Wildschwein hat. Er grinst. „Na, junge Dame, da habe ich Sie aber erschreckt. Das tut mir leid!“, grinst er mich freundlich an. Ich lächele erleichtert zurück. Während er weiter auf dem breiten Weg neben mir hergeht, erkläre ich ihm, dass ich doch etwas Muffe vor Wildschweinen hätte.

Er nickt verständnisvoll: „Jaja, es gibt tatsächlich Unmengen hier, sie ernähren sich in den Maisfeldern, werfen inzwischen so wohlgenährt zwei- bis dreimal im Jahr anstatt einmal. Sie werden langsam zu einer Plage.“

„Kann man sie denn nicht einfach dezimieren? Ich meine. Sie schmecken ja hervorragend. Noch gestern Abend habe ich mit Freunden ein Wildbrett im ‚Zum schlafenden Schneewittchen‘ gegessen“, werfe ich ein.

„Wenn das so einfach wäre! Sie sind sehr schlau, viel schlauer als Rotwild oder Rehe! Auch schlauer als Ihr kleiner Chihuahua!“, und zeigt belustigt auf Kaja.

„Das ist eine Dackelmischung, kein Chihuahua“, entgegne ich etwas beleidigt.

„Viel Mischung, wenig Dackel!“ lacht er und redet weiter: „Wir veranstalten regelmäßig Treibjagden auf Wildschweine, aber die Biester sind so raffiniert! Die begreifen sofort, wenn hier andere als der gewohnte Försterjeep oder die Waldarbeiter durchfahren. Vielleicht erkennen sie auch die Geräusche des Abladens der Gewehre und Treiberstöcke, das wieder Zuklappen der Kofferräume, einer nach dem anderen.“ Der Förster schnalzt rhythmisch: “Klack! … Klack!… Klack! Wir denken, wir seien lautlos, wenn wir uns dann in zwei Gruppen, Treiber und Jäger, in jeweils andere Richtungen verteilen.“

Ich sehe sofort die Szenen aus Bambi, wo Treiber mit viel Lärm durch lautes “Hussa!” und “Heja” Rufen, Schlagen von Stöcken und Pfeifen die fliehenden Tiere auf die auf der anderen Seite versteckten Jäger zutreiben.

„Das erfahrene Schwarzwild spürt genau die Anwesenheit viel zu vieler Menschen im Wald“, fährt er fort, „und die Frischlinge merkten die Unruhe ihrer Mutter, werden auch aufmerksam, beobachten und lauschen. Ein Quieken der Bache reicht, sofort scharren sich die Frischlinge, oft bis zu sieben an der Zahl, um ihre Mutter.“

„Von so einem prompten Gehorsam können Menschenmamas nur träumen!“, lache ich auf!

Der Förster, einmal im Redefluß – er erzählte gern, das merkte man, aber auch spannend – fährt unbeirrt fort: “Und was glauben Sie, was die Bache tut? Vor den Treibern flüchten? Weit gefehlt, im Gegenteil sie rennt dann direkt auf die Treiber zu, mit den Kleinen, die hinterherschießen, den unbewaffneten Treibern vorbei! Und weg sind sie! Ein Wildschwein, dass einmal einer Treibjagd entkommen ist, fällt nie wieder drauf rein!“ Er schnauft.

„Dass die Viecher so intelligent sind“, wundere ich mich, „Kein Wunder, dass sie sich so vermehren. Ich habe heute Morgen eine Schlagzeile im Kurier gesehen, da war auch was mit Wildschweinen, aber im Kaufhaus?“

Der Förster lacht schallend. „Ja, das war was! Das hätten Sie sehen sollen. Die aufgebrachte Wildsau, gefolgt von einer stattlichen Horde aus sieben kleinen quiekenden Frischlingen war durch den an den Wald grenzenden Park in die Einkaufsstraße gerannt, hatten dort erst die Gemüse- und Obststände niedergerast. Eine große Kiste mit rotbackigen Cox-Orange-Äpfel hatte sich über die Straße ergossen und brachte die flüchtende Menschenmenge zu Fall. Dann war die Bache auf ein entgegenkommendes wild hupendes Auto gestoßen und bog sofort in Panik ab, die sieben Frischlinge hinter ihr her, wie mit einem unsichtbaren Faden an sie gebunden, durch die offenen Türen eines großen Kaufhauses, in die Abteilung Unterwäsche und Parfums.

Ein furchtbares Tohuwabohu, alle schienen zu quieken, nicht nur die durchgedrehte Wildschweinfamilie. Die Frauen, die gerade in der Unterwäsche auf dem Grabbeltisch gewühlt hatten, warfen vor Schreck BHs und Slips in die Luft. Die Kinder kletterten entsetzt auf Podeste, zwischen halb nackte Schaufensterpuppen, die als Einzige unbeteiligt in die Gegend starrten. Die entrückten Blicke in die Ferne der Plastikpuppen muss in dem Gewühl aus Panik, Aufruhr und Geschrei umso gespenstischer gewirkt haben. Die männlichen Kunden wussten offenbar nicht, ob sie den Helden spielen sollten, oder sich besser in Sicherheit bringen. Eingegriffen hat jedenfalls keiner! Die Bache war ein Mordsbrocken, sie hatte gut ihre 80 Kilo und sie brachte Tische und Regale krachend zu Fall und hinter ihr zog sich eine Spur der Verwüstung. Die Wildschweine rasten immer panischer durch die Gänge des Kaufhauses, zwischen den Wühltischen und Ständern hindurch, warfen immer mehr um und rissen alles mit sich. Ein rosa Spitzen-BH der Marke Herzog & Bräuer soll sich um die plüschigen Ohren der Wildschweinmama gewickelt haben und wie eine Fahne der Infanterie beim Sturmangriff geweht haben. Ein Frischling verirrte sich offenbar in die Erotik-Slipabteilung, verhedderte sich in einem schwarzen Tanga mit durchsichtigem Spitzeneinsatz und Strassteinchen, es muss erbärmlich gequickt haben und ist im Zickzack um die Ständer gesaust, bis es wieder auf dem Hauptgang angekommen ist und in einem Affentempo seine Mutter und die Geschwister einholte.

Die waren inzwischen in der Parfumabteilung angekommen, und nun zog die Horde ein Geruch von Chanel n°5, Armani und Christian Dior hinter sich, vermischt mit einer Menge an billigem Eau-de-Cologne. Man wunderte sich, dass die Schweine von dem Gestank nicht ohnmächtig wurden. Aber Schweine sind eben eine Menge gewohnt. Als sie schon fast eine gesamte Runde durchs Erdgeschosses gedreht hatten, liefen sie auf die große Tür der Umkleidekabinen zu, wo ihre wilde Hatz ein Ende nahm: Eine mutige Kaufhausangestellte schob geistesgegenwärtig ein Pult und einen großen Wühltisch auf Rollen vor den Eingang, so dass die Wildscheinfamilie in den Umkleidekabinen gefangen war und ich mit ein paar Leuten nur noch zu kommen brauchte und die Tiere bequem mitnehmen“, endet der Förster seine mitreißende Erzählung.

„Was haben Sie dann mit den Tieren gemacht?“, frage ich vorsichtig. Mir kommt ein furchtbarer Verdacht: hatte mein Wildbrett gestern im ‚Zum schlafenden Schneewittchen‘, gefüllt mit Cox-Orange-Äpfeln, nicht einen leichten Duft nach Christian Dior ausströmt?