Von Siggi Hallensleben
Eigentlich hätte ich es spätestens seit der Sache mit dem Apfel wissen müssen, doch hinterher ist man schlauer…
Über mich wurde eine Menge geschrieben und erzählt. Das meiste davon ist falsch. Allerdings hätte der übriggebliebene, wahre Rest meiner Geschichte genug Potential gehabt, diverse Jugendämter auf den Plan zu rufen. Leider gab es damals noch keine taffen Sozialarbeiterinnen, die eine Inobhutnahme veranlasst hätten. So nahm meine Kindheit ihren unseligen Lauf. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum mein Leben das Zeug zu einem Märchen haben soll.
Doch fangen wir ganz von vorne an. Wer nennt sein Kind schon Schneewittchen? Andere Kinder hießen Marie, Gretel, Cinderella oder Elsa. Den Grund muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein paar Blutstropfen im Schnee und ein Rahmen aus Ebenholz, in dem meine Mutter gerade herumstickte…. Jeder Psychiater hätte ihr eine infantile Persönlichkeit bescheinigt. Na gut, man soll über Verstorbene nicht schlecht reden und meine Mutter hat meine Geburt nun mal nicht lange überlebt.
Mein Königs-Vater war, wie die meisten Männer, visuell veranlagt und hatte als frisch gebackener Witwer nichts Besseres zu tun, als sich eine Psychopathin ins Schloss zu holen. Hoffentlich machte sie sich wenigstens im Bett gut, denn als Stiefmutter war sie die volle Niete. Mehr gibt es über meinen Erzeuger nicht zu berichten. Er hielt sich aus meiner Erziehung heraus, obwohl die neue Frau an seiner Seite immer skurrilere Wesenszüge entwickelte. Zum Beispiel sprach sie regelmäßig mit ihrem Spiegel und glaubte, dass dieser sie für die schönste Person auf der ganzen Welt hielt.
Bis zu meinem achten Lebensjahr gibt es ansonsten wenig zu berichten. Wenn man mal von meiner bleichen Haut – klassischer Fall für Lichtschutzfaktor 50 – absah, war ich eigentlich ganz hübsch: schwarzes, volles Haar – wir erinnern uns an den Ebenholzrahmen meiner Mutter – und rote Lippen.
Doch dann kam der Tag, der mein Leben für immer veränderte. Ich wurde vom königlichen Jäger in den Wald gebracht. Der verkündete mir, dass er mich im Auftrag der Königin nun umbringen werde, weil sie eifersüchtig auf mich sei. Als Beweis müsse er ihr mein Herz und meine Leber bringen. Echt jetzt…. Und ich hatte immer gedacht, meine Mutter wäre psychisch angeknackst gewesen…. Was besaß mein Vater bloß für einen Frauengeschmack?
Der Jäger hatte am Ende Mitleid mit mir und ließ mich laufen.
Zwei Tage allein im Wald – ein hilfloses, achtjähriges Mädchen… Es war der totale Horror… Und niemand dachte anschließend an eine Traumatherapie. Ich habe bis heute noch Albträume davon.
Zum Glück entdeckte ich am Ende meiner Kräfte eine bewohnte Behausung. Dort begegnete ich sieben Zwergen und kam vom Regen in die Traufe. Was die nächsten Jahre folgte, kann man nur als gnadenlose Ausbeutung einer Minderjährigen bezeichnen. Mindestlohn? Fehlanzeige. Den Zwergen war es zudem vollkommen egal, dass Kinderarbeit verboten ist. Ich musste gegen Kost und Logis für sie kochen, putzen und ihre vor Dreck starrende Wäsche säubern, ohne einen adäquaten finanziellen Ausgleich zu erhalten. Arbeitsrechtlich war das ein Unding.
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Irgendwann stellte meine böse Stiefmutter fest, dass der königliche Jäger sie geleimt hatte und versuchte zu Ende zu führen, was er damals nicht übers Herz brachte. Okay, ich war zu diesem Zeitpunkt nicht gerade das hellste Licht am Horizont. Schließlich besaß ich seit Jahren keinerlei Zugang zu jedweder Bildung. Und Zwerge sind nun mal strohdumm. Sie graben nicht umsonst Tag für Tag in irgendwelchen Mienen nach Gold. Ihr intellektueller Anspruch grenzt an null. Man muss sich nur an die Sache mit dem „Wer hat mit meinem Löffelchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherlein getrunken und in meinem Bettchen geschlafen?“ erinnern.
Ich fiel auf jeden Fall gleich dreimal auf meine Ex-Erziehungsberechtigte rein. Zuerst verkleidete sie sich als Einzelhandelskauffrau aus der Textilbranche und wollte mir ein Korsett andrehen. Ich war modisch zu diesem Zeitpunkt ein totaler Niemand. Sie schnürte mich so lange, bis ich in Ohnmacht fiel. Die Zwerge fanden mich am Abend und holten mich rasch in die Wirklichkeit zurück. Eine billige Haushaltshilfe gibt man halt nicht so schnell auf.
Dann tauchte meine Stiefmutter in neuer Verkleidung auf und wollte mein ach so hübsches Haar frisieren. Es endete mit einer schweren Kopfverletzung und Gedächtnisverlust. Wieder retteten mich die Zwerge. Trotz zweier feiger Mordanschläge bekam ich allerdings auch künftig keinen Personenschutz, sondern nur die Warnung, ab jetzt besser aufzupassen…. So viel zum Thema zwergisches Verantwortungsgefühl und sie hätten mich geliebt.
Tja und zu schlechter Letzt passierte die Sache mit dem Apfel. Wie soll man auch darauf kommen, dass ein Apfel vergiftet sein könnte, wenn die Frau selbst davon abbeißt?
Das nächste, an das ich mich wieder erinnern konnte, war ein gläserner Sarg. Ich lag aufgebahrt darin. Ein junger Mann beugte sich über mich und gab mir einen Kuss.
Ich hätte es ahnen können: Prinzen, die sich in Leichen verlieben und diese von ein paar Zwergen abkaufen, sind nicht normal. Außerdem besaß er Mundgeruch. Aber meine Erfahrung, was Männer anbelangt, beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt auf meinen nie wirklich vorhandenen Vater und eben …. Zwerge.
Wir heirateten also.
Machen wir es kurz: Die Ehe wurde eine einzige Katastrophe. Mein Gatte wollte keine Frau mit eigener Meinung, sondern ein hübsches Weibchen zum Anschauen. Visuell veranlagte Männer pflastern wohl meinen Weg. Außerdem behauptete er ständig, ich hätte was mit einem der Zwerge gehabt. Du meine Güte!
Irgendwann fiel es dann auf: Ich wurde einfach nicht älter. Mein Ehemann bekam einen Hängebauch, Zahnfäule, Falten und eine Glatze und ich sah immer noch wie frisch aus dem Sarg gehüpft aus.
Er hat es übrigens bis zum Schluss nicht kapiert, sondern an meine guten Gene geglaubt. Ich aber begriff, dass man keineswegs rein zufällig drei Attentate überlebt. Von wegen, es kann nur einen geben…. Der Highlander war längst nicht so allein, wie er dachte.
Nach dem Tod meines Mannes tauchte ich ab. Von diesem Moment an nahm ich mein Leben selbst in die Hand. Als erstes suchte ich mir einen ordentlichen Namen aus, holte mit Abendkursen die Schule nach, jobbte und verbesserte meine Allgemeinbildung.
Durch Reisen kann man, beziehungsweise frau ihre Tarnung gut aufrechterhalten. Langfristige Beziehungen sind dabei natürlich kontraindiziert und eh nicht so mein Ding.
Im Lauf der Jahrhunderte begab ich mich rein interessehalber – Zeit hatte ich ja – auf die Suche nach weiteren „sogenannten“ Märchengestalten mit Nahtoderfahrung. Ich wollte nicht recht glauben, dass mein Schicksal einzigartig sei. Der Nachsatz „Und wenn sie nicht gestorben sind…“, hatte mich misstrauisch gemacht.
Die beiden Maries entpuppten sich jedoch als Sackgasse. Wenn man komplett mit Gold oder Pech überzogen wird, kann die Haut nicht mehr atmen und man stirbt allein schon daran unweigerlich. Aber bei Dornröschen wurde ich endlich fündig. Sie züchtet inzwischen Rosen. Allerdings leidet sie nach wie vor an Narkolepsie. Einige ihrer Ehen sind daran zerbrochen.
Außerdem habe ich bei ein paar Schauspielerinnen und Politikern, die seit Jahrzehnten immer gleich aussehen, den geheimen Verdacht, dass sie ebenfalls zu uns gehören, aber bisher streiten sie es hartnäckig ab.
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