Von Jasmin Fürbach

Bäume um Bäume säumten den Weg, als sie den Wald betraten. Sie waren früh am Morgen zu viert aufgebrochen, Verpflegung im Gepäck und Wanderschuhe an den Füßen. Noch hatte es nicht geschneit. Der Nebel hing tief und nahm ihnen stellenweise die Sicht. Trotzdem tasteten sie sich weiter durchs Unterholz, ohne Eile, aber mit einem unwohlen Gefühl im Bauch. Sie konnten sich nicht erklären, woher es gekommen war und doch war es ein konstanter Begleiter, war es einmal da, war es beinahe unmöglich es wieder abzuschütteln.

 

An einer Lichtung hielten sie an, beschlossen bei einem kleinen Feuer Pause zu halten. Einer von ihnen entfernte sich, um Feuerholz zu sammeln, während die anderen das Essen aufteilten. Die Zeit verging, doch er kehrte nicht zurück. Die Übriggebliebenen machten sich auf die Suche, riefen seinen Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Das unangenehme Gefühl wurde stärker, je länger sie suchten. Am späten Nachmittag brachen sie ab, setzten sich zusammen und dachten nach. Der jüngste von ihnen hob seine Hand, als wolle er um die Erlaubnis zu sprechen bitten. Gespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus, während er zu einer Geschichte ansetzte.

 

Wisst ihr, man sagt, ein Mädchen lebt in diesem Wald. Sie war einst die Tochter eines Königs und seiner Frau, wunderschön anzusehen. Als ihre Mutter starb, heiratete der König erneut, doch die Ehe war von Problemen gebeutelt. Das Mädchen wuchs heran zu einer Schönheit, die ihresgleichen suchte, was die Stiefmutter eifersüchtig machte.

Eines Tages lief sie davon, versteckte sich in diesem Wald und traf eine Gruppe Männer, bei denen sie wohnen blieb. Doch nach einiger Zeit, änderte sich ihre frohe Art zu etwas Anderem. Der Wald schien sie wahnsinnig zu machen, an jeder Ecke, hinter jedem Baum sah sie ihre Stiefmutter ihr auflauern. Sie verfiel in ein Fieber, phantasierte von verwunschenen Gürteln und vergifteten Äpfeln.

Die Männer machten sich auf zum Schloss, um den König zu sprechen, doch als dieser in der Hütte im Wald ankam, war das Mädchen verschwunden. Überall suchten sie nach ihr, doch konnten sie sie nicht finden.

Sie hatten die Suche bald aufgegeben. Dann bemerkten sie eine Veränderung im Wald. Ein seltsamer Nebel hatte sich um die Bäume gelegt und schien nicht mehr zu weichen, die Sonne drang nicht mehr durch die Baumwipfel, um den Boden zu nähren. Eine Unruhe breitet sich zwischen ihnen aus, ließ sie misstrauisch werden.

Als einer von ihnen die Hütte verließ und nicht zurückkam, entbrannte Panik. Sie liefen umher, laut rufend, doch erhielten keine Antwort. Schließlich stolperte einer von ihnen über etwas verborgen im Laub. Der fehlende Mann lag tot vor ihnen, Würgemale an seinem Hals und die Augen vor Schreck weit aufgerissen.

Von da an streiften sie in Zweiergruppen umher. Es dauerte nicht lange, bis der nächste Angriff erfolgte, bis der nächste Mann fiel. Diesmal jedoch hatte es einen Zeugen gegeben. Und er hatte geschworen, das vermisste Mädchen erkannt zu haben. Unverwechselbar war sie gewesen, mit weißer Haut wie heller Schnee, Lippen rot wie frisches Blut und Haaren schwarz wie Ebenholz. Des Nachts machten sich die übrigen Männer auf den Weg, stellten ihr eine Falle, doch als sie sie beinahe ergriffen hatten, riss sie sich los und lief davon.

Von diesem Tag an, so sagt man, irrt sie im Wald umher, immer auf der Suche nach der bösen Stiefmutter und ihren Helfern.

 

Als er verstummte, fand er zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Keiner sagte etwas, stattdessen fühlten sie alle eine tiefe Unruhe aufkommen. Warum hatten sie ihn diese Geschichte erzählen lassen, wenn doch einer von ihnen im Wald verschwunden war?

 

Die Nacht war längst hereingebrochen und ließ sie aufhorchen, auf Geräusche lauern, die vielleicht nur ihrer von Angst befallenen Phantasie entstammten.

Plötzlich schien alles um sie herum lauter, die Schreie der Vögel gefährlich, die Nacht dunkler. Sie sahen sich um, formten ohne es zu beabsichtigen einen Kreis, Rücken an Rücken, so dass jeder von ihnen Deckung hatte. All ihre Sinne richteten sich auf die Ränder des Waldes, als würde im nächsten Momente etwas daraus hervorspringen und sie angreifen.

Dann, mit einem Mal, ertönte ein Schrei um Hilfe, so durchdringend, so markerschütternd, wie sie ihn zuvor nie gehört hatten . Für eine Sekunde überlegten sie, trafen dann einstimmig die Entscheidung der Stimme nachzueilen, ohne auch nur ein Wort miteinander gesprochen zu haben. Sie rannten in Richtung der Lärmquelle, ließen die Lichtung rasch hinter sich.

 

Nach einer Weile stoppten sie, außer Atem, Schweiß auf den Gliedern. Als sie sich umsahen, um sie herum nichts als dunkle Nacht, wurde ihnen bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatten. Zweifel machte sich in ihren Gedanken breit, Zweifel ob es wirklich ein Schrei um Hilfe gewesen war, wie sie vermutet hatten.

 

Etwas raschelte zu ihrer Rechten, sie schnellten herum und fanden sich mit einer Kreatur konfrontiert. Sie stand zwischen zwei Bäumen, in einen abgetragenen roten Umhang gehüllt. Trotz der Kälte schien sie nicht zu frieren. Ihre Haut schimmerte im schwachen Mondlicht, ließ sie strahlen, beinahe übernatürlich. Dunkles, wildes Haar umrahmte ihr Gesicht mit tiefem Schwarz und gespickt mit Zweigen. Sie konnten die ehemals glänzenden Locken gerade noch erkennen. Im Lauf der Zeit hatten sie sich jedoch in ein verfilztes Gebilde aus Haar und Wald verwandelt. Ihr Gesicht musste einmal sehr schön gewesen sein. Sie konnten die sanften Gesichtszüge erahnen, eine schmale Nase, herzförmige Konturen.

Ihre Lippen waren mit Sicherheit einmal voll gewesen, doch nun waren sie vertrocknet und rissig. Das Schlimmste jedoch waren die Augen. Nie hatten sie in derartiges Schwarz geblickt, eine Tiefe die sie zu verschlingen drohte. Sie waren eingefallen in ihren Höhlen, wirkten müde. Die Gruppe erschauderte als sie die Leere in ihnen erkannte, das Nichts hinter dem Obsidian.

 

Sie wussten nicht, wer zuerst reagierte, ob sie einen Schritt vor oder einer von ihnen einen Schritt zurück tat. Was sie wussten war, dass sie plötzlich die Flucht ergriffen hatten, blindlings weiter in den Wald hinein. Sie hörten sie näherkommen, als machte es ihr keine Mühe, nicht einmal als kostete es sie große Anstrengung.

Ein Gedanke manifestierte sich zwischen ihnen. Die Erkenntnis, dass sie die Beute waren. Dass die Kreatur die Jagd genoss, ließ sie noch schneller laufen. Der Wald schien vor ihnen dichter zu werden, sie konnten fast nichts sehen.

Einer von ihnen stolperte, rief ihnen zu, ihm zu helfen, doch sie drehten sich nicht um. Ab hier war jeder für sich selbst. Sie hörten ihn schreien, dann plötzlich verstummen, rannten schneller und schneller, tiefer in den Wald.

Zu zweit erreichten sie die Lichtung, Schulter an Schulter, Blick auf das Gebüsch. Die Herzen pochten ihnen schwer in den Brustkörben, jedes Geräusch ließ sie aufschrecken. Sie wussten nicht, wie lange es dauerte bis sich ihr Atem beruhigt hatte. In grimmigem Einverständnis verabredeten sie abwechselnde Wache. Einer legte sich schlafen, der andere wachte über ihn, schützend und bereit zu kämpfen.

 

Er erwachte, als die Wärme des Körpers neben ihm verschwunden war. Mit einem Ruck setzte er sich auf, erkannte die Lichtung, den Wald vor sich. Und er erkannte auch, dass er völlig alleine war. Es herrschte kein Zweifel darüber, was geschehen war und er schwor sich, nicht kampflos unterzugehen.

 

Das Rascheln von letzter Nacht ertönte direkt vor ihm.

 

Er griff nach seinem Taschenmesser, hielt den Atem an.

 

Schritte. Zwei, drei, vier. Dann noch einer.

 

Das Gebüsch teilte sich.

 

Schwarze Augen blickten ihn an. Eine Zunge leckte über gesprungene Lippen. Weiße Haut strahlte im Licht. Dunkles Rot tropfte von ihren Händen.

 

Er schrie…