Eva Fischer

Ich habe keine Höhenangst. Wenn ich nach unten schaue in den dunklen Strom, der gurgelnd zu meinen Füßen vorbeizieht, dann möchte ich fliegen wie Ikarus. Nicht der Sonne entgegen, die längst untergegangen ist, sondern ich möchte eintauchen in das Loch unter mir.

Die Nacht hat die Stadt in eine Hure verwandelt. Überall blinken verführerisch ihre Lichter: am Fernsehturm, in den Wolkenkratzern, selbst die Kirchtürme lassen sich eitel bestrahlen. Die Autofahrer rauschen an mir vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken. Drogensüchtige, die nachts auf dem Brückengeländer balancieren, sind den Fahrern, die einen langen Arbeitstag hinter sich haben, keinen Blick wert. Sie gehören zum Alltag einer Großstadt.

Warum hat sie mir den schützenden Mantel der Anonymität geraubt?

 

Nach dem Abi habe ich nur einen Wunsch. Ich möchte Politikwissenschaften studieren. Es gibt so vieles an der Welt zu verändern. Die Agenda der Probleme ist praller als manches Portemonnaie. Ein Praktikum in der Staatskanzlei ist ein Hauptgewinn, dachte ich noch vor kurzem.

Drei Wochen, in denen meine ehemaligen Mitschüler um die Welt jetten, bevor sie ihr Studium beginnen.

Ich darf die heiligen Hallen der Macht betreten, darf die ruhmreichen Politiker von Angesicht zu Angesicht sehen, darf ihren Besprechungen beiwohnen, darf Kaffee kochen, darf die Gesetzesvorlagen updaten.

 

Es ist ruhig geworden auf dem Parkett, wo meine Schritte ihr Klick-Klack hinterlassen. Der Politikbetrieb bereitet sich langsam auf die Sommerpause vor.

 

„Julia, könnten Sie Herrn M. eine Tasse Tee bringen!“, lautet die Anweisung.

Ich werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel, ziehe mir die Lippen nach, zupfe mir mein Sommerkleidchen zurecht. Ein wohliger Schauer durchfährt meinen Körper. Endlich darf ich Zeus höchstpersönlich sehen. Ich bin auf dem Olymp angekommen.

 

Herr M. hebt kaum den Blick von seinem Laptop, als ich mit einem Tablett eintrete. Ich räuspere mich verlegen. „Wo darf ich den Tee hinstellen?“, frage ich und schaue mich neugierig in seinem Büro um. Ein schwarzes, kaltes Ledersofa mit einem protzigen Marmortisch davor. Ein Riesenschreibtisch, auf dem man Billard spielen könnte. Eine Palme, die dazu verdonnert ist, italienisches Ambiente zu simulieren.

Herr M. schaut angesichts dieser unprofessionellen Frage etwas unwillig über seine Lesebrille. Aber ich spüre die Wandlung in seinem Blick, als er meinen jugendlichen Körper mustert.

„Ich habe Sie noch nie hier gesehen.“ Es klingt freundlich, fast wie eine Entschuldigung.

„Ich bin nur vorübergehend als Praktikantin hier.“ Ich lächle ihn an. Zu gerne möchte ich diesen kostbaren Augenblick noch etwas hinauszögern.

„Und was praktizieren Sie so? Ich meine, für welches Studium wollen Sie hier Erfahrungen sammeln?“

Herr M. hat die Brille mittlerweile abgenommen. Ich fasse es nicht. Ich bekomme eine Chance.

„Ich möchte in die Politik wie Sie. Ich …“ Etwas schnürt mir die Kehle zu. Ich bekomme kein Wort mehr heraus.

„Soo, sooo!“

Herr M. setzt sich wieder die Lesebrille auf. Die Audienz ist beendet. Ich habe es vermasselt.

„Stellen Sie den Tee auf meinen Schreibtisch“, sagt er, ohne aufzusehen.

Als ich an der Tür bin, fragt er mich nach meinem Namen. So eine Niete wie mich sollte man sich merken, bevor man sie in die Tonne kloppt.

 

Zwei Tage später bekomme ich erneut die Anweisung, Herrn M. Tee zu servieren. Mir schlottern die Knie. Ich habe Angst, den kostbaren Darjeeling zu verschütten. Diesmal weiß ich Bescheid. Ich stelle das Tablett in gebührendem Abstand neben ihn auf seinen Schreibtisch.

„Und Julia? Haben Sie schon etwas dazugelernt für Ihre zukünftige Karriere?“

Herr M. greift nach der Tasse und berührt wie zufällig meinen Arm.

„Ich hoffe doch, dass Sie mal für meine Partei arbeiten werden“, zwinkert er mir zu.

 

Von nun an darf ich ihm täglich den Tee bringen. Diese wenigen Minuten sind für mich das absolute Highlight des Tages. Ich ziehe mich immer besonders schick an, habe mir sogar ein neues Kleid gekauft. Herr M. fängt an, mit mir zu plaudern. Während ich mich genau über die politischen Ereignisse auf unserem Globus informiere, interessiert er sich eher dafür, was ich in meiner Freizeit mache, ob ich einen Freund habe. „Im Augenblick nicht“, sage ich wahrheitsgemäß. Jens ist nach dem Abi für drei Monate nach Brasilien geflogen. Er beteiligt sich dort an einem Projekt für arme Straßenkinder.

 

Mein letzter Tag ist gekommen. Vor der Sommerpause gibt es noch einen kleinen Umtrunk, zu dem außer den Politikern auch die Angestellten eingeladen sind, zu denen ich nach drei Wochen zähle.

Was habe ich mir eingebildet? Dass Herr M. mit mir plaudert? Ich nuckle lustlos am Strohhalm meiner Cola. Zwar habe ich mich mit Markus angefreundet, der genau wie ich hier sein Praktikum absolviert, aber eigentlich interessiert mich nur Herr M., was Markus nicht entgangen ist und so hat er sich verabschiedet.

Gerade beschließe ich, auch zu gehen. Da steht Herr M. plötzlich hinter mir.

„Warten Sie, Julia! Ich muss mit Ihnen reden.“

Ich spüre, wie ein Strom von Lava durch meine Adern rinnt.

„Ja?“, frage ich.

„Nicht hier“, zischt er und schiebt mir einen Zettel mit seiner Handynummer zu.

 

Ich fasse es nicht. Er will mit mir einen Ausflug machen, mir ein neues Museum für Expressionismus zeigen. Ich bin total aufgeregt, als ich in sein Cabrio steige. Herr M. ist ganz entspannt. Er trägt eine Jeans und ein schickes T-Shirt, was ihn gleich viel jünger macht. Ich weiß, dass er über dreißig Jahre älter ist als ich, aber ich finde ihn sehr männlich. Im Museum nimmt er mich an die Hand und wir schlendern wie frisch Verliebte durch die Ausstellung.

„Ich kenne hier ein nettes Restaurant am See, ganz einsam und idyllisch gelegen. Haben Sie nicht Lust auf ein kleines Mittagessen?“

Mittlerweile ist es zwei Uhr nachmittags und ich merke tatsächlich, wie mein Magen knurrt.

Vorneweg bestellt er für jeden einen Prosecco.

„Cin cin! Auf Ihre Zukunft, Julia.“

Er lächelt mich an und dann drückt er mir tatsächlich einen Kuss auf die Wange. Ich spüre seinen Atem, als er mir ins Ohr flüstert.

„Kommen Sie mit, Julia. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

 

Das Restaurant hat offensichtlich auch Gästezimmer. Als er hinter mir die Treppe hochgeht, legt er seine Hand auf meinen Po, wie ein Bauer, der seine Kuh in den Stall treibt.

Spätestens jetzt hätte ich wissen müssen, wie es weitergeht. Mit neunzehn bin ich keine Jungfrau mehr.

 

Im Schlafzimmer möchte Herr M., dass ich mich ausziehe, während er seine Kleidung anbehält. Ich bin verwirrt, spüre, wie Nacktheit und Scham auf meiner Haut brennen. Gleich einem Callgirl soll ich mich aufreizend und sexy vor ihm bewegen. Er ignoriert meinen flehentlichen Blick.

Vielmehr sehe ich, wie er seine Hose öffnet und sein steifes Glied herausnimmt, das ich

in den Mund nehmen soll, wie er mir unmissverständlich bedeutet. Ich habe so etwas noch nie gemacht und so versuche ich, den Brechreiz zu unterdrücken, den das Sperma in meinem Mund hervorruft.

 

Wie konnte sich mein Prinz in einen glitschigen Frosch verwandeln! Wo sind all die zärtlichen Berührungen, nach denen ich mich gesehnt habe? Ich war bereit, mit ihm zu schlafen. Doch selbst das war ich ihm offensichtlich nicht wert.

Mir zittern leicht die Knie, als wir gemeinsam die Treppe hinuntergehen. Plötzlich werden wir geblitzt, als hätten wir die Geschwindigkeitsgrenze überschritten.

Herr M. fängt wütend an zu fluchen.

Er hat es nun eilig, zurückzufahren, setzt mich vor der Stadt ab und gibt mir Geld für ein Taxi.  Kein zärtliches Wort mehr. Ich fühle mich wie eine billige Hure und kämpfe nicht mehr gegen die Tränen meiner Enttäuschung an.

 

Am nächsten Tag sehe ich ein Foto von uns auf der ersten Seite einer Boulevard-Zeitung.

„Herr Ministerpräsident ist kein Kostverächter! Was sagt wohl seine Frau dazu?“, steht da in fetten Lettern.

Meine Hoffnung ist damit endgültig dahin, alles vor der Welt ungeschehen zu machen. Die Hexenjagd hat gerade erst begonnen. Meine sogenannten Freunde verbreiten ungefragt ihre Meinung im Netz. Tagsüber wage ich mich nicht mehr vor die Tür.

 

„Wie kann man nur so dumm und naiv sein?“, schimpfen die einen.

„Wie ist denn der Herr Ministerpräsident so im Bett?“, frotzeln die anderen.

„Wie kann der alte Sack das einem jungen Mädchen antun?“, empören sich die dritten.