Von Raina Bodyk

Wirklich eine schöne Beerdigung! Wie viele Leute Dieter die letzte Ehre erweisen wollen! Das wundert mich, ehrlich gesagt. Denn seine Demenz hat ihn zu einem sehr aggressiven, unangenehmen Zeitgenossen gemacht. 

Es tut mir weh, Heike in ihrem schlichten, schwarzen Kostüm zu sehen, so schmal, ein Schatten ihrer selbst. Kein Wunder, all diese leidigen Formalitäten, die erledigt werden mussten. Gottseidank kenne ich mich damit aus. Bin ja selbst Witwe, schon seit sieben Jahren.

Während der Andacht und auf dem Friedhof bleibe ich die ganze Zeit dicht neben ihr. Aus Angst, sie könnte zusammenbrechen, halte ich ihre Hand ganz fest. Sie soll fühlen, dass sie nicht allein ist. Ein paar Mal will sie sie wegziehen. Wahrscheinlich ist es ihr peinlich, so schwach gesehen zu werden. Aber ich lasse nicht los, signalisiere ihr: Du brauchst mich, ich bin da!  

Am Ende der Zeremonie gehe ich selbstverständlich auch mit ihr als erste ans Grab, damit sie ihre gelben Rosen hineinwerfen kann. Nicht, dass sie noch hineinfällt!

Als Frau, die ebenfalls einen Mann verloren hat, verstehe ich sie so gut. Sie braucht jetzt weibliches Mitgefühl und Trost. Ich werde ihr helfen!

 

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Mein Gott, ich zittere am ganzen Körper. Ich könnte schreien! Was bildet Klara sich eigentlich ein?! Sie drängt meine Familie zur Seite, als wäre sie mir die Nächste. Dauernd redet sie auf mich ein: Ich solle mich beruhigen, ich solle weinen, ich müsse auf mich achten, schlafen, essen … 

Aua, sie zerquetscht mir fast die Finger mit ihrer schlaffen, verschwitzten Hand. Will ich mich befreien, drückt sie noch fester zu. Dieses Streicheln über meinen Arm! 

„Armer Dieter, ich möchte um dich trauern, weinen. Aber ich stehe tränenlos vor deinem Sarg und bin nur wütend. Wütend, dass du mich allein gelassen hast. Wütend auf Klara! Wo immer du jetzt bist, hilf mir! Sonst vergesse ich mich und springe unserer aufdringlichen Nachbarin an die Kehle. Ich will an dich denken, aber sie lässt mich nicht!“

 

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Ich habe Heike nach Hause geschickt. Weg von diesem obligatorischen Leichenschmaus im ‚Jagdhaus‘. Eine einzige Quälerei! Ich weiß, wovon ich rede! Ich habe es erlebt. Nach einer Weile werden die Leute locker, trinken Hochprozentiges, erzählen schlechte Witze und der Verstorbene ist vergessen. Das ist so respektlos. Heike soll das nicht mitbekommen. Sie soll lieber den während der letzten Nächte versäumten Schlaf nachholen.

Ihre Brüder machen einen netten Eindruck. Ich habe ihnen hoch und heilig versprochen, mich um ihre Schwester zu kümmern. Ich glaube, sie sind mir sehr dankbar dafür, sie wohnen schließlich ziemlich weit weg. 

Sie können sich auf mich verlassen! 

 

Als ich abends noch einmal bei Heike reinschaue, wirft sie mir einen so feindseligen Blick zu, als wäre ich ein Eindringling. Dabei hat sie mir selbst den Zweitschlüssel für Notfälle überreicht. 

Sie beschuldigt mich, ich hätte sie total in Beschlag genommen, sie dann sogar weggeschickt. Sie hätte lieber mit ihrer Familie und ihren Freunden Erinnerungen an Dieter ausgetauscht. Es verschlägt mir die Sprache. Ich kann meinen Zorn, der ja wohl berechtigt ist, kaum runterschlucken. Sie versteht anscheinend nicht, dass ich nur das Beste für sie im Sinn hatte. So was von undankbar! Ich weiß doch, wie es ist, einen lieben Menschen zu verlieren! Wer, wenn nicht ich, versteht sie?

Aber ich verzeihe ihr. Sicher ist die Trauer an ihrem zerrissenen Gemütszustand schuld. Ich werde ihr helfen!

 

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Langsam spielt sich der normale Alltag wieder ein. Aber Dieter fehlt mir. Gut, er war aggressiv, schwierig, brauchte permanente Aufmerksamkeit, aber er war da. Konnte auch lieb sein und – ja – zutraulich, wenn man das von einem erwachsenen Mann sagen kann. Wir konnten zusammen lachen, wenn er wieder Unsinn gemacht hat. Als er etwa, statt seine frischen Socken anzuziehen, den Bund aufzog, einen tiefen Blick hineinwarf und dann enttäuscht murmelte: „Da ist ja gar nichts drin!“ 

Jetzt habe ich so viel Zeit … Kein Waschen mehr. Kein Anziehen. Keine stundenlangen, bohrenden Fragen: „Wo bin ich? Wo ist die Toilette? Darf ich mich setzen? Nehmen wir den Schrank mit, wenn wir nach Hause fahren?“ Nie mehr die zigtausend mal wiederholte Antwort geben: „Wir sind zuhause!“ Wie oft habe ich mir Zeit für mich gewünscht!

 

Klara und ich gehen wieder gemeinsam zum Sport und zum Englisch. Aber, ehrlich gesagt, mag ich sie nicht mehr so gern. Hat sie schon immer so viel über sich und ihren anscheinend perfekten Mann geredet?

 

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Ich habe mich nach ihrem befremdlichen Ausbruch etwas zurückgezogen. Vielleicht hat sie gemerkt, welchen Halt ich ihr gegeben habe. Jetzt, nach vier Wochen, sollte sie ihre Trauer im Griff haben. Ich habe ihr vorgeschlagen, gemeinsam in die Berge zu fahren. Krafttanken, den Kummer überwinden. Sie hat gesagt, sie müsse darüber nachdenken.   

 Am nächsten Tag hat sie abgelehnt. Aber ich war nicht enttäuscht, denn ich habe genau gespürt, dass sie es nicht so meint. Ob es ihr an Geld fehlt? Ob sie denkt, dass es für mich ein Opfer ist, mit ihr zu fahren? Das tue ich doch gern. Ich will ihr helfen.

 

Mein Entschluss steht fest: Ich werde sie einfach überraschen.

Als sie nachmittags vom Einkaufen nach Hause kommt, schelle ich: „Ta-da! Überraschung! Hier sind die Fahrkarten, in einer Woche sind wir in Oberstdorf. Du musst nur noch deinen Koffer packen.“ 

Ich sehe, wie sie schluckt, sich um ein Lächeln bemüht, das gründlich misslingt. 

„Aber Liebes, das muss dir doch nicht unangenehm sein. Ich lade dich ein! Wir machen uns ein paar schöne Tage. Ordentlich essen, viel spazieren gehen und früh ins Bett. Ich werde dich mal richtig aufpäppeln. Du wirst sehen, in einer Woche fühlst du dich wie neugeboren!“

Sie schaut mich nur an, schiebt mich dann abrupt vor die Tür. Die Freude hat sie anscheinend richtig umgehauen! Es wird herrlich werden!

Was packe ich ein? Am besten nehme ich den alten, grünen Koffer, da passt schön viel rein. Eine Strickjacke, wenn es abends kühl wird, eine Mütze gegen den schneidenden Wind, den es manchmal in den Bergen gibt, die Regenjacke, einen schön kitschigen Liebesroman. Vielleicht lesen wir ihn zusammen. 

 

Sie ist krank!! Das darf doch nicht wahr sein, unsere schöne Urlaubsreise! Ich bin so enttäuscht. Aber das holen wir nach. 

Eine schöne Hühnersuppe und Kamillentee werden jetzt Wunder wirken. Ich muss mich um sie kümmern! Wieder fröhlich vor mich hin trällernd, mache ich mich ans Werk.

Arme Heike! Kaum komme ich in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer, fängt sie an zu weinen und dreht sich weg. Ich nehme sie fest in die Arme, aber sie schüttelt mich weg. Das ist typisch Heike! Will mich nicht anstecken. Aber Bakterien mögen mich nicht! Ich drücke sie fest an mich und wiege sie ein bisschen hin und her. Sie weint immer heftiger, kann gar nicht mehr aufhören. 

„Schsch, schsch! Alles wird gut!“

 

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Jetzt fange ich auch noch an zu heulen! Lässt diese Frau mich denn gar nicht mehr vom Haken? Jetzt auch noch Süppchen! 

Versteht sie kein ‚Nein‘? Ich bleibe einfach so lange im Bett und bin ‚krank‘, bis diese dämliche ‚Urlaubswoche‘ vorbei ist. Das kommt davon!


„Ja, ja Dieter, du hast ja recht. Es ist feige, aber du weißt, wie sehr ich Auseinandersetzungen hasse. Klara meint es sicher gut und hat sich ja auch wirklich um mich gekümmert. Ein bisschen tut sie mir schon leid, sie ist einsam.

 Klar weiß ich, dass ich mich nicht ewig drücken kann und ihr sehr deutlich erklären muss, dass ich etwas Abstand will. Wir können weiter gemeinsam etwas unternehmen, aber nicht dauernd, und ich möchte, bitte schön, gefragt werden. Aber jetzt bin ich ‚indisponiert‘! Kannst knurren, so viel du willst. Warum hast du dich auch davon gemacht?!“

 

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Als Heike wieder gesund ist, machen wir einen gemütlichen Spaziergang durch unsere Siedlung. Die blühenden Vorgärten sind eine wahre Pracht. Die Fliederbäume duften unwiderstehlich. Die laue Frühlingsluft tut ihr sichtlich gut. Immer wieder bleibt sie stehen, dreht ihr blasses Gesicht in die Sonne, scheint die warmen Strahlen in sich aufzusaugen. Mir scheint, das Leben hat sie wieder. Ab jetzt werden wir es schön zusammen haben. 

 

Zwei Tage später sehe ich sie mit einem hageren Mann vor dem Kino die Plakate studieren.

Und mir hat sie abgesagt, obwohl ich die Theaterkarten für die ‚Hexenjagd ‘ von Arthur Miller schon gekauft hatte! Wer der Kerl wohl ist? Sie wird doch nicht …? Nein – nicht schon nach so wenigen Wochen. Das traue ich ihr nicht zu. Andererseits …

 

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„Heike! Wer war das mit dir vor dem Kino? Ich habe euch gesehen!“

„Spionierst du mir nach?“, versucht die Angesprochene zu scherzen.

„Betrügst du etwas Dieter jetzt schon, kaum, dass er unter der Erde ist?“

„Klara, Dieter ist tot! Was ich tue, geht dich nicht an!“, bricht es aus Heike heraus. „Und überhaupt, ich wollte nicht mit dir ins Theater, weil du mich erdrückst. Verstehst du nicht, dass ich auch noch ein eigenes Leben habe?“

Trotz ihrer harten Worte will Heike keinen Streit und lenkt ein. Sie reicht ihrer Nachbarin eins ihrer Küchenmesser: „Hilf mir lieber, das Gemüse zu schneiden.“

 

„Und ich habe für dich alles aufs Spiel gesetzt.“

„Wovon redest du?“

„Ich habe es für dich getan! Ich wusste, dass du damit einverstanden wärst, Dieter von seinen Leiden zu erlösen. Seine Demenz wäre immer schlimmer geworden. Es war das Beste für ihn – und für dich. So hast du wenigstens noch etwas von deinem Leben.“

„Was hast du getan?

„Es war nur ein winziger Schubser, Heike. Glaub mir, mehr nicht!“

„Du willst sagen, du hast Dieter die Treppe runtergeschubst?!“

„Ich wollte nur helfen!“

„Bist du verrückt? Du hast meinen Mann ermordet?! Ich hätte das gewollt? Mörderin! Ich rufe die Polizei.“

 

Klara starrt Heike an wie einen Geist. Das ist der Dank?! 

„Undank ist der Welten Lohn!“ Blitzartig huscht dieser Lieblingsspruch der Großmutter durch ihren Kopf. Ihre Hände krallen sich so fest um den Messergriff, dass die Knöchel weiß werden. 

Ein Stoß genügt. 

 

Leise summend, den Mund zu einem Lächeln verzogen, sitzt Klara auf den blank geputzten Küchenfliesen und malt kleine, blutige Kreise auf die Kacheln.