Karl Kieser

Wissen Sie, ich bin das, was man eine graue Maus nennt. Unauffällig, uninteressant, farblos. Jedenfalls werde ich von Fremden so wahrgenommen. Besser gesagt, nicht wahrgenommen, sondern weitgehend übersehen.

Gender Maskulinum, also männlich. Obwohl sich bei mir maskulin automatisch mit Muskeln assoziiert, kann ich damit nicht dienen. Ich bin klapperdürr.

Wenn ich mich im Spiegel betrachte, dann muss ich objektiv zugeben, dass ich tatsächlich unscheinbar bin.

Deutlich unter mittelgroß habe ich auch noch eine Figur geerbt, die in keine Konfektionsgröße passt. Arme und Beine sind zu lang für meinen relativ kurzen Rumpf. Daher wirken meine Anzüge immer etwas zu groß. Selbst bei den Schuhen muss ich im Bild bleiben.

Meine Neigung zu gedeckten Farben macht das Gesamtbild nicht strahlender. In meinem Kleiderschrank überwiegen die Grautöne.

Mein Haupthaar, schütter, stumpf, von undefinierbarer Farbe, ist weit davon entfernt als natürlicher Kopfschmuck zu gelten. Nur mein Kopf, bzw. die grauen Zellen darin, gibt keinen Grund zur Klage. Als Troubleshooter bin ich für die Lösung von Softwareproblemen gefragt. Man schickt nach mir, wenn es mit den eigenen Kräften nicht weitergeht.

Es ist also kein Wunder, dass ich beruflich nur mit Problemen zu tun habe. Das Grübeln darüber verträgt keine Gesellschaft. So kann es passieren, dass meine Füße mich durch die Stadt tragen, ohne dass ich etwas von meiner Umgebung wahrnehme. Diese Märsche brauche ich. Kann dabei besser denken.

Nun könnten Sie glauben, dass ein Leben in relativer Unsichtbarkeit, wenn schon nicht besonders bunt, so doch konfliktfrei und gefahrlos ist.

Ich muss Ihnen widersprechen. Das werden Sie verstehen, wenn Sie die folgende Geschichte kennen, die mir kürzlich widerfahren ist.

 

Ein verzwicktes Problem hatte mich außergewöhnlich lange in Bewegung gehalten. Müde gelaufen hatte ich mich am letzten freien Tisch eines Straßencafés niedergelassen, vom Ober souverän ignoriert.

Weit zurückgelehnt in meinem Stuhl, hatte ich mich bald wieder in die ungelöste Aufgabe vertieft.

Dass neue Gäste an meinem Tisch Platz nahmen, hatte ich beinahe nicht mitbekommen:

Zwei hübsche Frauen in den Dreißigern. Sorgfältig zurechtgemacht. Beide im Dirndl. 

Einen Moment lang wunderte ich mich. Aschaffenburg markiert zwar die äußerste nordwestliche Ecke von Bayern, aber Dirndl gehören trotzdem nicht zum Straßenbild.  Aus dem Kreisverkehr meiner Gedanken hatten mich die Damen jedenfalls herausgelöst. Auch meine zurückgelehnte Haltung gab ich auf und beugte mich wieder zum Tisch vor. Ein freundliches <Guten Abend, Sie sind ja ein überraschender Anblick.> lag mir auf der Zunge. Beide Damen waren jedoch so miteinander in ein Gespräch vertieft, dass mir das als aufdringliche Einmischung erschien. Sie erwarteten anscheinend noch eine dritte Dame, die auch wirklich nur Augenblicke später eintraf, ebenfalls im Dirndl.
Jetzt dämmerte es mir: Oktoberfest.

Wie jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat auch Aschaffenburg sein Oktoberfest. Aus Gründen, die ich nicht voll durchblicke, gehört es zum guten Ton, dass die Frauen im Dirndl und die Männer in Krachledernen erscheinen.

Bei einigen Damen habe ich allerdings den Verdacht, dass es weniger darum geht, ein folkloristisches Kostüm zu tragen, sondern dass ein Dirndl die willkommene Möglichkeit bietet, die eigenen Brüste, hochgepuscht und eingezwängt in ein straffes Mieder, besonders wirkungsvoll zur Geltung zu bringen.

Die Begrüßung der drei Damen geriet etwas affektiert. Die neu Angekommene beugte sich weit über den Tisch für Bussi, Bussi. Sie hatte ein besonders ausladendes Dekolleté und gestattete sehr tiefe Einblicke. Es schien ihr auch nichts auszumachen, dass sie mir dabei so nahekam, dass ich sogar zügig zurückweichen musste, um eine Kollision mit diesem beachtlichen Busen zu vermeiden, der mir buchstäblich unter die Nase gehalten wurde. Aus nächster Nähe konnte ich daher erkennen, dass für ihn höchste Gefahr bestand, bei unbedachten Bewegungen seiner Trägerin, aus seiner Halterung zu hüpfen.

„Heiligsblechle!“ entschlüpfte es mir. 

Ich war selbst ein wenig erschrocken, dass mir meine Verwunderung so hörbar herausgerutscht war, aber die drei Damen hatten mich bisher nicht beachtet und schienen mich noch nicht einmal wahrgenommen zu haben. Da würde mein Ausruf der Verblüffung wohl auch unbemerkt bleiben.

Dummerweise war der in eine momentane Plauderpause gefallen und daher für alle am Tisch deutlich hörbar.

„Was haben Sie gesagt?“ 

Die Ausladende hatte mich angezischt. Oder schwang da auch etwas Koketterie mit?  Ich hätte mit Leichtigkeit die Situation entschärfen können, indem ich mich für meine unbedachte Bemerkung entschuldigte, die doch nur meiner Verblüffung und aufrichtigen Bewunderung entspräche. 

Inzwischen fühlte ich mich aber von den drei Grazien provoziert, die sich ungefragt an meinem Tisch breitgemacht hatten, mich bisher total übersehen und mir das Gefühl gegeben hatten, völlig unsichtbar zu sein.

Schlagartig war meine Gemütslage gekippt. Meine eben noch wohlwollende Stimmung gegenüber den drei Frauen hatte sich ins Gegenteil gewandelt. Der Druck der Verantwortung für das immer noch ungelöste Problem hatte ein Ventil gefunden. 

Mein eigentlich verträgliches und verbindliches Naturell schlug einen Purzelbaum. Die Emotionskontrolle kam viel zu spät und schon wieder kamen ungefilterte Worte aus meinem Mund:

 „Ich sagte, Sie haben da zwei reizende …“

 „Ich weiß was Sie gesagt haben. Das ist ja eine Unverschämtheit!“, fiel mir die Dame ins Wort. Sie schien nun doch langsam böse zu werden.
Bei den umliegenden Tischen wurden auch schon einige Hälse gereckt.

Selbst jetzt noch hätte ich die Wogen glätten können, indem ich z.B. erklärte, dass ich natürlich die Regeln der Konventionen kenne, mich aber schon oft über die Doppelmoral geärgert habe. Natürlich wisse ich, dass das reizende Angebot der Weiblichkeit an die Männer von diesen – wenn überhaupt – dann nur verstohlen wahrgenommen werden und nur im vertrauten, intimen Rahmen Gegenstand von Komplimenten sein dürfe.

Mit einem entschuldigenden Lächeln und einem Versöhnungs-Kaffee für die gesamte Runde, wäre ich dann vielleicht noch einmal davonkommen.

Inzwischen war ich mir aber sicher, hier eine Tussi vor mir zu haben, die sich bis an die Grenze zur Provokation kleidet, und trotzdem die Behandlung einer Dame verlangt, der man nicht auf den entblößten Busen starrt. Und meine Emotionskontrolle funktionierte immer noch nicht.

„Nun ja, ich finde es nun mal provozierend, wenn Sie so mit ihren Pfunden wuchern.“

Die beiden Freundinnen der Ausladenden hielten die Luft an. Insgeheim verwünschten sie vermutlich ihren Entschluss, sich diesen Tisch ausgesucht zu haben.  Meine direkte Kontrahentin bekam jedoch schmale Augen. Ich fürchtete schon, sie könne explodieren. Ihr Ton war jedoch eher leise, wenn auch eiskalt schneidend.

„Sind Sie etwa Moslem? Wollen Sie, dass die Frauen verschleiert und in schwarzen

Sackkleidern herumlaufen? Sind Sie einer von der Sorte? Oder sind Sie gar Islamist?“

„Ich bin Nonkonformist und Realist, ach ja, und Atheist. Also das genaue Gegenteil von dem, was Sie vermuten. Und ich will die Frauen keineswegs in Sack und Asche sehen. Ich finde ihre Angebote sehr anregend. Es ist nur verwirrend, dass die Adressaten des ganzen Aufwandes nicht einmal ein Kompliment darüber machen dürfen.“

Ich hatte mich um einen neutralen Ton bemüht und bedauerte inzwischen, dass ich mich hatte hinreißen lassen. Was sollte das? Hier gab es nichts zu gewinnen. Ich brauchte dieses Gezänk nicht für meinen Seelenfrieden. In meiner normalen Gemütslage wäre es auch niemals so weit gekommen. 

Ich spielte mit dem Gedanken, einfach aufzustehen und zu gehen. Die Ausladende hatte aber schon zum Gegenschlag ausgeholt.

„Auf Ihre Komplimente kann jede Frau verzichten. Sie sind kein Gentleman. Sie sind ein Flegel.“

Jetzt wurde ich auch sauer. Ich fand, dass eine persönliche Beleidigung zu weit geht. Ein kommentarloser Rückzug wäre die richtige Antwort auf diese Unverschämtheit gewesen, aber ich konnte mich einfach nicht bremsen.

„Tja, da muss ich Ihnen wohl recht geben. Wer ist schon wirklich ein Gentleman. Aber Sie sind ja auch keine Dame.“

Zack! Ich hatte den Schlag gar nicht kommen sehen. Die Ausladende hatte mir blitzschnell eine saftige Ohrfeige verpasst. Ich war sprachlos. Mit gleicher Münze zurückzuzahlen, kam natürlich nicht in Frage

Unser Tisch hatte inzwischen die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Caféhausbesucher.

Es war entsetzlich peinlich und meine Wange glühte unangenehm nach. Wie ich später feststellte, hatten ihre blutrot lackierten Krallen auch noch zwei Kratzer hinterlassen.

Jetzt war es doch so weit, dass ich nur noch gehen konnte. Im Aufstehen konnte ich mir einen letzten Seitenhieb nicht verkneifen.

„Das ist ja wohl die Bestätigung. Eine Dame hätte das niemals getan. Ich wünsche allseits noch einen angenehmen Abend.“

 

Tja, so war das. Ich weiß heute noch nicht, wie ich die ersten paar Meter hinter mich gebracht habe. Meine Beine fühlten sich hölzern an. Scham und Empörung über die Demütigung setzten mir zu, das können Sie sich sicher denken.
Dieser Vorfall hat mich heftig erschüttert. So etwas wird mir nie wieder passieren.

Ich denke, diese Geschichte hat auch Sie überzeugt, dass eine fast unsichtbare graue Maus die scharfen Krallen einer Katze spüren kann, wenn sie sich nur mal kurz aus der Deckung traut.

 

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