Veronika Beckmann

Im Büro von Direktor Bramstedt war es warm und es roch nach alten Büchern und muffigen Schränken. Staubkörnchen schwebten durch die Sonnenstrahlen, die von der Fensterseite her schräg auf den Boden fielen.
„Michael Kleinschmidt, du weißt hoffentlich noch, warum ich dir das Messer abgenommen habe.“ Er stand vor mir, etwa zwei Schritte entfernt, und schaute mich über seine Lesebrille hinweg ernsthaft an. Ganze Schülergenerationen waren bereits unter diesem Blick schuldbewusst auf Zwergengröße geschrumpft. Ich bildete keine Ausnahme, sah auf den Fußboden und rieb meine schweißnassen Hände verstohlen an den Hosenbeinen.
„Ich höre“, ermunterte er mich. Seine Lederschuhe knarrten, als er in ihnen vor und zurückwippte.
„Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht.“ Meine Wangen wurden flammend rot. Ich hatte diesen Satz fünfzig oder hundert Mal schreiben müssen, jedenfalls für mein Empfinden viel zu oft. Mit Bitterkeit hatte mich besonders das Ende „…sind für kleine Kinder nicht“ erfüllt. Der Verlust des Messers, war schon schwer zu verkraften. Dass ich mich, zwölf Jahre alt, in jeder Zeile der Strafarbeit mit einem Kleinkind gleichsetzen musste, war einfach nur beschämend und hatte sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.
Der alte Schuldirektor nickte bedächtig, als ob ich meine Gedanken laut ausgesprochen hätte. „Der Sinn dieser Aufgabe war, dir frühzeitig zu verdeutlichen, dass nur ein schmaler Grat zwischen Spiel und verantwortungslosem Handeln liegt. Das leichtfertige Tun junger Menschen hat schließlich schon oft genug dramatische Folgen gehabt.“
Während er sprach, wanderte mein Blick zwischen seinen Schuhspitzen und einer Spinne hin und her, die erst auf den Papierkorb zusteuerte und dann versuchte, ihn zu erklimmen.
„Ich denke, nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich das Corpus Delicti in die Hände eines gereiften jungen Mannes zurückgeben kann.“
Erleichtert hob ich den Kopf.
Er griff langsam hinter sich und nahm ein speckiges Lederfutteral von seinem Schreibtisch, aus dem an einem Ende ein dunkler Holzgriff hervorschaute. Im Moment des Wiedersehens vergaß ich zu atmen und mein Herz schlug schneller.

Mein gesamtes Erspartes hatte ich dem dicken Bruno für dieses Messer gegeben, einschließlich der zehn D‑Mark, die ich von Tante Ursula zum Geburtstag bekommen hatte. Der Handel fand, bezeugt von Brunos Kumpanen und meinem besten Freund, in ihrem Versteck bei den Garagen in Brunos Hinterhof statt. An diesem Tag wurde ich der stolze Besitzer eines echten Bowie-Messers. Jedenfalls glaubte ich das.
Wer Old Shatterhands Heldentaten an der Seite seines Blutsbruders Winnetou kennt, weiß, dass nur dieses Messer ein Überleben in der Wildnis möglich macht. Schurken und Halunken bringt es ebenso zur Räson, wie es Grizzlybären töten kann. Die Klinge meines Messers war fast zwanzig Zentimeter lang und etwa vier Zentimeter breit. Angerostet und stumpf ging es in meinen Besitz über und ich verbrachte heimlich viel Zeit im dunklen Keller, um es zu polieren und mit dem Schleifstein meines Großvaters zu schärfen.
Als es so scharf war, dass ich einen Apfel mühelos damit teilen konnte, steckte ich es in eine alte Lederhülle, die mir im Keller in die Hände gefallen war, und machte am nächsten Morgen den folgenschweren Fehler, es nicht weit entfernt vom Tor der Schule voll Stolz meinen Freunden zu präsentieren.

Direktor Bramstedt hielt das Etui einen Moment mit beiden Händen vor seinem Bauch und betrachtete es kopfschüttelnd. Ich presste die Zähnen aufeinander und kämpfte mit dem Impuls, ihm meinen Schatz aus den Händen zu reißen.
„Nun denn.“ Er räusperte sich, streckte seine Arme aus und übergab mir feierlich mein Eigentum.

Kurz darauf verließ ich das Gebäude, überquerte zügig den Schulhof und eilte, das Lederfutteral nah am Körper tragend, über den Gehweg davon. Erst einen Häuserblock von Direktor Bramstedt entfernt, reduzierte ich mein Tempo und erreichte schließlich den Stadtpark, dessen Wege und Wiesen an diesem Morgen noch menschenleer waren.
Ich blieb stehen, um das Messer in Ruhe zu betrachten. Der Direktor hatte gut darauf achtgegeben. Die Klinge glänzte matt. Mit dem Daumen prüfte ich die Schärfe und war zufrieden, als meine Haut leichte Schnittspuren zeigte. In bester Stimmung setzte ich meinen Weg fort.
Bald kam ich auf die Idee, die Dschungeltauglichkeit meines Messers an den herabhängenden Zweigen einer Weide auszuprobieren. Lautlos fielen die jungen Triebe zu Boden. Neben dem Teich standen Gräser. Sie leisteten zunächst zischend und raschelnd Widerstand. Doch dann gelang es mir, die Halme mit raschen Schnitten abzutrennen, und sie sackten büschelweise in sich zusammen. Siegesbewusst blickte ich einem Entenpärchen nach, das laut rufend die Flucht ergriff.
Die Rosen neben dem Weg verloren, richtig getroffen, leicht ihre Köpfe. Ein Stück entfernt reckten in einem großen Beet mannshohe Sonnenblumen ihre Köpfe empor. Ich erkannte in ihnen feindliche Wachen, die das Lager meiner Freunde umstellt hatten. Ihr Fußvolk, nutzlose Sommerblüher, trat ich ohne Rücksicht nieder und brachte mit kräftigen Hieben eine große Zahl der Gegner zur Strecke.
Neben einer Parkbank warteten schwarze Müllsäcke auf ihre Abholung. Ich allein wusste, dass es sich um finstere Schurken handelte, die uns in der Nacht überwältigen würden, wenn ich sie nicht vorher erledigte. Da, nehmt das! Und das!
Alle Superhelden des Universums schauten mit Wohlgefallen auf mich herab. Stolz nahm ich die Schultern zurück und spürte die ganze Breite meiner Brust. Nun musste ich nur noch die Ranken einer heimtückischen Giftpflanze durchtrennen, dann hatte ich das Ende des Parks erreicht.

Als ich am nächsten Morgen Kaffee schlürfend durch die Tageszeitung blätterte, blieb mein Blick an einem Artikel im Lokalteil hängen.
Rätselhaft Verwüstungen im Stadtpark, stand über einem Foto, auf dem ein Blumenbeet zu sehen war, dessen niedergedrückte blauviolette Bepflanzung teilweise von gelben Sonnenblumenblüten bedeckt wurde. Auf einem zweiten Bild rutschten Pappbecher und ein paar leere Bierflaschen aus einem aufgeschlitzten Müllsack. Darunter folgte dieser Text:

Gestern wurden am frühen Vormittag von unbekannten Tätern zahlreiche Anpflanzungen in unserer Parkanlage beschädigt. Leitung und Mitarbeiter des Amtes für Grünflächen stehen vor einem Rätsel.
 „Anscheinend haben der oder die Täter wahllos zerstört, was am Weg lag“, teilte uns Gärtnermeister Helmut Rosenberg mit. „Die typischen Anzeichen für Vandalismus, also beschmierte Bänke und angezündete Mülleimer, haben wir jedoch nicht vorgefunden. Es ist also noch eine offene Frage, ob wir es mit krimineller Zerstörungswut oder nur mit einem Dummejungenstreich zu tun haben.“
Sachdienliche Hinweise zur Aufklärung des Falles nimmt  eine Mitarbeiterin im Rathaus entgegen.

Lächelnd faltete ich die Zeitung zusammen und leerte meine Kaffeetasse. Ich verließ die Küche, ging zu meinem Schreibtisch und öffnete eine der unteren Schubladen. Mit einem Finger strich ich vorsichtig über den dunklen Holzgriff.
Welches Glück, dass Direktor Bramstedt, kurz vor seiner Pensionierung, die Schränke in seinem Büro aufgeräumt und dort einen überraschenden Fund gemacht hatte. Widerwillig zollte ich dem Mann Respekt, der sich während seines Berufslebens stets von hohen Idealen hatte leiten lassen. Solange sich noch fremdes Eigentum in seinen Händen befand, konnte er seinen Dienst nicht mit ruhigem Gewissen beenden. Aus diesem Grund hatte er mir am Vortag den wertvollsten Besitz meiner Kindheit nach mehr als zwanzig Jahren zurückgegeben.
Zufrieden schob ich die Schublade wieder zurück und ließ das Messer, zusammen mit meinen Erinnerungen, tief in dem Möbelstück verschwinden. Anschließend griff ich gut gelaunt nach einem Scheck, auf dem ich schwungvoll einen hohen Betrag einfügte. Eine großzügige Spende an die Gemeinde, Verwendungszweck: Saisonale Bepflanzung im Stadtpark. Es war ein Dummejungenstreich, so viel war sicher.

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