Von Agnes Decker

„Mann, Mann, Mann, Rehlein. Ich glaube, du bist zu viel allein. Fahr in die Stadt, triff Leute, bleib ein paar Tage dort, bis ich wieder zurück bin. Es war wohl doch keine gute Idee, aufs Land zu ziehen. Du, jetzt muss ich aber. Bussi und bis später.“

„Vielleicht hast du recht“, murmele ich, dann ist sie weg die warme Stimme. Lieber Hajo, denke ich, du kennst mich besser als ich selber. Ja, es war alles etwas viel, die Renovierung, der Umzug, das Alleinsein während deiner Geschäftsreisen.

Ich schließe meinen Laptop, recke und strecke mich. Wieder einmal habe ich bis in die Morgenstunden am Küchentisch gesessen und gearbeitet. Ich schaue aus dem Fenster. Ein mildes Licht liegt über dem Garten. Wie schön es hier ist. Lange hatten wir nach diesem Haus gesucht. Es war einer meiner Lebensträume, der Großstadt mit ihrer Reizüberflutung den Rücken zu kehren, ins Grüne zu ziehen, einen Garten zu haben, in dem ich pflanzen und ernten könnte, und vielleicht, so es uns gegönnt sei, noch ein paar Kinder. Obwohl mit Mitte dreißig die biologische Uhr ja schon lautstark tickt.

Ich löse mich aus meinen Gedanken und betrete die Eingangshalle, in der die Sonnenstrahlen, die durch die bunten Glasfenster fallen, schwebende Bilder an die Wände malen. Als ich die Haustüre öffne, strömt mir die kühle Morgenluft entgegen. Es duftet nach frisch geschnittenem Gras und Rosen. Neben mir steht Hanson, unser brauner Setter, und wedelt. Er ist, wie immer, wenn es nach draußen geht, bestens gelaunt, egal, welches Wetter wir haben. Entschlossen marschiere ich los, Hanson immer vorweg. Außer ein paar anderen Gassigängern mit ihren Vierbeinern und einem Jogger, der uns schnaufend überholt, ist niemand unterwegs um diese Zeit. Es ist einer dieser erfrischend kühlen Sommermorgen, der bald in die regungslose Hitze des Tages übergehen wird.

Es zieht mich seit ein paar Tagen immer wieder zu einem bestimmten Haus, das ich bei einem unserer Streifzüge entdeckte. Es steht am Ende einer Sackgasse und passt nicht so recht in diese Straße, die mit ihren weiß-getünchten Reihenhäusern und den gepflegten Vorgärten Gediegenheit und bescheidenen Wohlstand ausstrahlt. Etwas heruntergekommen sieht es aus. Die Fassade verwittert, die Rollläden geschlossen, der Garten verwildert. Auf der zur Straße gewandten Dachterrasse stehen, zwischen unzähligen vertrockneten Pflanzen in allen möglichen  Behältnissen,  zwei Schaufensterpuppen, eine männliche in Lederhose und schwarzem T-Shirt, mit Fliegerhaube und Schutzbrille, und eine weibliche, die in ein langes rotglitzerndes Abendkleid gehüllt ist. Die gesamte Szenerie übt einen starken Reiz auf mich aus.

„Was machen Sie denn schon wieder hier?“, die tiefe Stimme lässt mich zusammenzucken. Schon bei meinem ersten Aufenthalt hatte die alte Dame mich angesprochen und mir unmissverständlich klargemacht, dass man es nicht möge, wenn man ihre Häuser beobachte.

„Ich interessiere mich für die Figuren auf der Terrasse.“, antworte ich und hoffe, dass ich freundlich klinge.

„Das ist der Sohn, der sammelt die wohl, die Puppen.“ Die Frau ist nähergetreten. „Sind Sie Journalistin?“

„Nein“, sage ich, „ich bin Übersetzerin. „Die Fotografie ist mein Hobby. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Motiven.“ Schnell ziehe ich mein Handy aus der Tasche und drücke mehrmals auf den Auslöser. Die Sonne ist noch hinter einer großen Tanne verborgen. Nur einige Strahlen durchbrechen die dichten Zweige und tauchen die Szenerie in ein unwirkliches, nebulöses Licht.  Dann wende ich mich wieder der Frau zu. Aus der Nähe sieht sie sympathisch aus, in der verschmutzten Jeans, der karierten Bluse, deren Ärmel sie hochgekrempelt hat,  und den grauen Locken, die unter dem großen Strohhut hervorschauen.

 „Seit die alte Frau Bergmann verstorben ist, Gott habe sie selig, kommt der Sohn jedes Wochenende hierhin und lädt Unmengen dieser Puppen aus. Die Garage muss schon vollgestopft sein, das Haus wahrscheinlich auch.“ Die Frau deutet mit der Hand auf das Nachbargrundstück.

Ich spüre eine plötzliche Kälte, und dränge das Bild des mit Puppen vollgestopften Hauses in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. Gleichzeitig zieht Hanson an der Leine, als wolle er so schnell wie möglich weg hier.

„Danke, aber ich muss, der Hund, wissen Sie“, murmele ich und hebe die Hand zum Gruß. „Einen schönen Tag.“

„Ebenfalls“, die alte Dame winkt zurück. Dann widmet sie sich wieder ihrer Gartenarbeit.

 

 

Den Tag verbringe ich im Haus, genieße die kühlen Räume, jeder auf seine Art schön und einzigartig. Die modernen Möbel harmonieren mit den warmen Farben der Vorhänge und Kissen. Die bunten Bilder laden zum Träumen ein und die gezielt dazu ausgesuchten, eigenhändig restaurierten Antiquitäten, runden mein Gefühl der Behaglichkeit ab. Es sind noch einige Kartons auszupacken. Während ich sortiere und einräume, vergeht die Zeit wie im Flug.

Als ich von meiner Arbeit aufschaue, ist die Sonne ist schon um das Haus gezogen. Die Sonnenblumen, die das Gemüsebeet und die Johannis- und Himbeersträucher überragen, stehen jetzt im Schatten. Ebenfalls die Rosen, die sich an schmiedeeisernen Spalieren emporwinden und umgeben sind von Schleierkraut und Rittersporn.

Ich lege das Buch, das ich in der Hand halte, wieder zurück in den Karton. In der Küche klappe ich meinen Laptop auf und schalte ihn ein. Dann verbinde ich das Handy mit dem PC, lade die neuen Fotos hoch und füge sie in die Galerie ein. Im sanften Licht der Morgendämmerung wirken die Figuren fragil und zerbrechlich. Ich ordne sie neben denen des Vortages ein. Scharf und deutlich, fast schon grell, sind die aus der Mittagszeit, als die Sonne am höchsten stand. Unwirklich, fast geisterhaft die Bilder vom Abend, im Licht der Dämmerung aufgenommen, die alle Begrenzungen auflöst.

Normalerweise liebe ich es, mit Bildern zu spielen, sie übereinander zu legen, farblich zu gestalten, auseinanderzureißen, die Ausschnitte neu zusammenzusetzen, und ihnen dadurch eine völlig andere Bedeutung zu geben.

Jetzt betätige ich mit fahrigen Händen die Tastatur, sortiere die Fotos und vergrößere sie. Dann beuge ich mich vor und schaue sie mir genau an. In den ersten Tagen sind es nur minimale Abweichungen, aber in der Vergrößerung deutlich zu erkennen. Mal sind die Köpfe ein wenig zur Seite gedreht, mal die Hände etwas mehr ausgestreckt. Von Tag zu Tag scheinen sie sich und ihre Position mehr und mehr zu verändern. Auf dem letzten Foto stehen sie direkt am Geländer, schauen in die Ferne, mit ihren blicklosen Augen.

Draußen ist es mittlerweile dunkel. Ich muss an den Sohn denken, der das Haus mit seinen Puppen füllt. Das Puppenhaus, wie ich es nenne. Ich sehe ihn vor mir, wie er nachts auf die Terrasse schleicht, sich an den Figuren zu schaffen macht, ihre Haltung verändert.

Erneut schaue ich auf die Fotos, wische mir über die Augen. Die Veränderungen sind immer noch sichtbar. Ich spüre, wie sich auf meinen Händen eine Gänsehaut bildet und langsam an den Armen hochkriecht. Ich weiß, dass Schlaflosigkeit Trugbilder hervorbringen kann, weiß es aus trauriger Erfahrung. Und, geschlafen habe ich nicht viel in den letzten Nächten. Bin immer wieder aufgewacht. Die fremden Geräusche und der Bewegungsmelder der Nachbarn, der mit seinem grellen Scheinwerfer auch unser Grundstück beleuchtet, immer wieder.

Hajo hat recht, ich sollte in die Stadt fahren, Abstand gewinnen, Freunde treffen, mit ihnen sprechen und trinken und lachen bis in die Morgenstunden.

Aber, vorher muss ich noch einmal hin, mir Gewissheit verschaffen. Mein Verstand sagt mir, ich solle besser sofort abfahren, aber, habe ich schon jemals auf ihn gehört?  Ich spüre, wie die Angst der Entschlossenheit weicht, leine Hanson an und verlasse das Haus.

 

Die Straßen der Reihenhaussiedlung sind jetzt leer. Nur aus den Gärten hinter den Häusern dringt Stimmengewirr und das Klirren von Besteck. In der Luft hängt der Geruch von Grillfeuern und Gebratenem.

Das Haus liegt fast im Dunkeln. Einzig die davorstehende Straßenlaterne wirft ungute Schatten auf das verwilderte Grundstück. Ich binde Hanson an der Laterne an und schaue mich um. Niemand ist zu sehen. Schnell klettere ich über den niedrigen Jägerzaun. Bei den vorhergehenden Besuchen hatte ich gesehen, dass einer der Rollläden im Erdgeschoss nicht richtig schließt. Das Fenster ist halb hinter einem hoch gewachsenen Rosenstrauch verborgen. Vorsichtig schiebe ich die Äste zur Seite, stelle mich auf die Zehenspitzen und presse mein Gesicht an die verdreckte Scheibe. Dahinter ist alles dunkel. Ein leises Knarzen schreckt mich auf, so, als würde jemand vorsichtig eine Tür öffnen. Ich gleite lautlos hinter einen der mannshohen Johannisbeersträucher. Von hier habe ich einen guten Blick auf das Haus. Mein Herz klopft und ich spüre, wie es in meiner Kehle eng wird. Als ich zur Terrasse schaue, sehe ich sie. Sie schauen genau in meine Richtung. Ich muss schlucken, immer wieder, so als könnte ich mit meinem Speichel auch die Angst hinunterschlucken.

Von der Straße höre ich Hansons leises Winseln. Immer in Deckung begebe ich mich auf den Rückweg, springe über den Zaun und leine meinen Hund ab, als ich hinter mir ein schleifendes Geräusch höre. Ich fahre herum und starre in den Garten. Ein Schatten scheint sich aus dem Dunkel zu lösen und wieder mit ihm zu verschmelzen. Ein unangenehmes Huschen ist es, das nichts Menschliches hat.

Jetzt  laufe ich los, Hanson dicht neben mir. In der Sicherheit unseres Haus angekommen, wähle ich Hajos Nummer. Er nimmt nicht ab. Ich greife nach der Reisetasche, die seit dem Morgen fertig gepackt neben der Garderobe steht. Auf dem Weg zur Garage höre ich hinter mir ein Schaben und Kratzen an der Terrassentür. Sie versuchen ins Haus zu kommen.

Eilig verstaue ich das Gepäck und den Hund auf dem Rücksitz, steige in den Wagen und betätige die Fernbedienung. Langsam schwingt das Garagentor nach oben. Da sehe ich sie. Beide. Direkt vor mir. Sie sind nicht alleine.

 

Viele Kilometer entfernt versucht Hajo seine Frau zu erreichen.

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