Von Viktoria Prahst

Em lehnte den Kopf an die Scheibe. Als sie heute Morgen in die Bahn gestiegen war, wusste sie, dass sie zu spät kommen würde. Sie wusste es und hätte nichts mehr daran ändern können. Also lehnte Em den Kopf an die Scheibe und versuchte, sich einen Moment der Ruhe zu verschaffen, bevor sie an der Haltestelle Domplatz aussteigen, die Luft wegen des Uringestanks anhalten und die Treppe hinauf gehen würde. Als die Bahn hielt und die Türen sich öffneten, führte sie die geübte Choreographie des wöchentlichen Weges aus: Aussteigen, Luft anhalten, Treppe hoch. Oben angekommen, wandte sie sich nach rechts, ging ein paar Meter und betrat schließlich das Möbelkontor.

Das Geschäft, das außer verschiedenen Designklassikern noch allerlei Schnickschnack führte, wirkte leer. Em rief ein halblautes „Hallo“ Richtung Schaufenster, bekam keine Antwort und sah sich suchend nach der Geschäftsführerin um. Frieda und Em kannten sich, seit Em ihr vor ein paar Jahren ihren ersten Dan verkauft hatte. Frieda, die wohl die Tür oder das „Hallo“ gehört hatte, eilte aus dem hinteren Teil des Ladens heran, in der einen Hand einen Löffel, in der anderen ein Stück von einem Versandkarton.

„Ich bin gerade am Auspacken. Wir haben neues Besteck bekommen“, sagte sie entschuldigend und hielt den Löffel aus marmoriertem Holz zur Präsentation ein Stück höher.

Vermutlich Olivenholz, dachte Em und antwortete „Kein Problem, ich bin selber spät dran heute. Wie läuft es denn?“

 Noch bevor Frieda etwas dazu sagen konnte, ging Em langsam auf das Schaufenster, das sich rechts von der Eingangstür befand, zu.

„Nicht so besonders. Die Produkte auf seiner Seite verkaufen sich einfach nicht. Kein Kunde will das sehen“, Frieda senkte die Stimme während sie sprach und deutete mit dem Kopf auf Dan.

Em klopfte an das Glas, das den Ladenbereich vom Schaufensterbereich trennte. Hinter der Glasscheibe saß Dan an einem hübsch gedeckten Tisch, den Blick abwesend auf die vorbeiziehenden Passanten gerichtet. Vor ihm stand ein Teller mit Toast und Spiegelei und eine Tasse mit Kaffee, in der einer der Löffel aus der Olivenholzserie steckte, die Frieda gerade ausgepackt hatte.

„Er bewegt sich einfach nicht. Isst nicht. Antwortet nicht. Ich habe ihn nun von den anderen getrennt.“ Jetzt wo sie es aussprach, fiel es Em auf. Von dem anderen Schaufenster tönten gedämpfter, gut gelaunter Smalltalk und das Klappern von Geschirr herüber.

Dan reagierte nicht auf das Klopfen.

„Dan, Emily ist wieder da.“, sagte Frieda sanft und klopfte ebenfalls vorsichtig an das Glas. Es gefiel Em, wie behutsam Frieda mit ihren Dans umging. Sie behandelte sie nicht wie die emotionslosen menschlichen Abziehbilder, für die die meisten von Ems Kunden sie hielten.

„Hey, Dan, wie geht’s dir?“

Em schob das Glas, das die beiden trennte, beiseite.

 „Darf ich reinkommen?“

Dans Schulter zuckte für einen winzigen Moment. Em deutete das als Zustimmung und betrat die andere Seite. Die Compliance-Regeln von Dancorporate waren streng und verboten dieses Verhalten eigentlich, aber Frieda war schon zu lange Ems Kundin, als dass sie sie hätte unzufrieden sehen wollen. Em war froh, dass die Firma sie mit diesem Fall betraut hatte. Dies war der erste Defekt seit Firmengründung. Es war quasi das Aufregendste, was einem als Angestellte von Dancorporate überhaupt passieren konnte.

Als Em sich zu Dan an den Tisch setzte, schaute sie ihn an. Sie kannte sein Gesicht in- und auswendig, sie hatte damals bei der Entwicklung eines authentischen Jedermanns geholfen. Damals, als sie noch in der Produktentwicklung gearbeitet hatte. Die grünen Augen, die braunen Haare, die feinen Gesichtszüge: das alles hatte sie im Team mitentwickelt. Sie war stolz darauf, serienmäßig diesen gutaussehenden, aber nach durchschnittlichen Maßen gebauten Mann in die Schaufenster des Landes gebracht zu haben. Erst Jahre später waren weibliche Modelle gefolgt.

Dieser Dan war etwas schmaler als die Dans, die Em sonst betreute, und reagierte immer noch nicht. Er saß einfach nur da und schaute an Em vorbei, die Hände links und rechts von seinem Teller mit dem unberührten Frühstück abgelegt.

Es war merkwürdig, einen Dan zu sehen, der nicht reagierte, nicht aß, nicht trank, nicht lächelte und vor allen Dingen keine Ware präsentierte. Normalerweise liebten Dans das. Sie waren dazu geschaffen, Menschen authentisch den Nutzen neuer Produkte vorzuführen.

Em legte eine Hand auf seine und beugte sich über den Tisch.

„Hey, Dan, ich bin’s: Emily. Wie geht es dir denn?“

Ihr Daumen strich über seinen Handrücken und zum ersten Mal schaute er sie an. Sein Blick glitt von ihren wachen Augen, die von kleinen Fältchen umrahmt waren, über ihre spitze Nase bis hin zu dem rotgeschminkten vor Erwartung leicht geöffneten Mund. Em wusste, dass sie jetzt nicht lockerlassen durfte. Schließlich war es der erste Erfolg, den sie seit Wochen mit diesem Dan zu verzeichnen hatte.

„Ich habe dir etwas mitgebracht.“

Sie zog ein Buch aus ihrer Tasche und reichte es ihm. Sie hatte sich, bevor sie vor ein paar Wochen das erste Mal für diesen speziellen Fall herkam, mit Dans Akte vertraut gemacht. Als einziger aus dieser Serie hatte er Lesen gelernt, weil er seine Kindheit in einem Schaufenster einer Privatschule verbracht hatte. Der Unterricht war nicht, wie es für Schaufenster anderer Schulen üblich gewesen wäre, gespielt, sondern echt gewesen. Passanten konnten so die ein oder andere Information aufschnappen und die Qualität des Unterrichts besser einschätzen. Zumindest sollte es so wirken.

Dennoch war es keine Selbstverständlichkeit, dass Dan etwas von seinem Unterricht behalten hatte. Dans waren darauf ausgelegt, Erlerntes wie Erlebtes bis zum nächsten Tag wieder zu vergessen. So brachten sie der Ware in ihren jeweiligen Schaufenstern jeden Tag aufs Neue die gleiche Begeisterung und Neugierde entgegen, die potenzielle Kunden sehen wollten. Die dargebotene Euphorie war nahezu ansteckend für Kunden. Eine simple Programmierung, die Dancorporate damals zur Marktführerschaft verholfen hatte. Dennoch hätte Em der lesende Dan sofort stutzig machen sollen, als sie das erste Mal davon hörte.

Dan nahm das ihm überreichte Geschenk entgegen und legte es neben den Teller mit dem Toast und dem Spiegelei.

„Du hast dein Frühstück ja gar nicht angerührt“, sagte Em, als hätte sie es erst jetzt bemerkt.

Dan schaute jetzt wieder an ihr vorbei und fragte mit tonloser Stimme „Was ist das da? Das da draußen?“

Em folgte seinem Blick, konnte aber nichts Besonderes oder Erklärungsbedürftiges finden.

„Was meinst du?“

„Na das da. Das da draußen.“

Wieder versuchte sie herauszufinden, woran sich sein Blick festgesetzt hatte. Em guckte so lange zwischen seinen trüben Augen und dem da draußen hin und her bis sie begriff: Er meinte nichts Bestimmtes. Er meinte die ganze Welt jenseits seines Schaufensters.

Em war beunruhigt. Das hatte es noch nie gegeben. Die Bücher waren eine Sache. Das hier eine völlig andere. Dans konnten sich gar nicht für die Welt da draußen interessieren. Natürlich durften sie es auch nicht. In der Zentrale hatten sie über solche theoretischen Entwicklungen schon einmal gesprochen, Em hätte aber nie gedacht, dass diese eintreten könnten. Die Firma hatte für diesen außergewöhnlichen Fall strenge Regeln erstellt. Auch das beunruhigte Em.

Bisher war immer alles glatt gelaufen. Die Dans wurden aus menschlichen Zellen gezüchtet und mit Implantaten versehen, die den Kunden ein tägliches Zurücksetzen auf Werkszustand ermöglichten.  Die meisten von ihnen wuchsen in den Schaufenstern von Kindermodegeschäften auf, einige Glückliche schafften es in Spielzeugläden oder Sportausstatter.

Doch ihre bei Dancorporate so aufwendig begonnenen Leben mündeten alle in die gleiche Profanität.  Alle Dans exerzierten eine tägliche Routine aus Ware präsentieren und Vergessen. Nach Ladenschluss stellten sie sich in eine Kapsel, um körperliche Abfälle zu entfernen und die Erinnerungen des Tages zu löschen. Kein Dan fragte sich, welche Welt jenseits des Schaufensters wartete. Die Schaufenster waren ihre Welt.

„Ich sehe jeden Tag Menschen an mir vorbeiziehen. Ich sehe Hunde, ich sehe Sonne und ich sehe Regen. Aber ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn ich ihnen begegne. Ich will mit Menschen reden. Mit richtigen Menschen. Nicht immer nur mit den anderen Dans, denen ich jeden Tag das gleiche erzählen muss und die es doch wieder vergessen.“

Während er die Worte aussprach, wusste Em genau, was zu tun sein würde. Mit zittriger Stimme sagte sie: „Komm, Dan, ich zeig dir, was da draußen ist.“

Sie griff nach seiner Hand und stand von ihrem Stuhl auf. Dan tat es ihr mit steifen Beinen nach. Er hatte ewig nicht gestanden und war nie mehr als ein paar Schritte in seinem Fenster auf und ab gelaufen. Em schob die Scheibe zur Seite und stieg die große Stufe in den Laden hinab. Frieda sah sie fragend an, als Dan ihr unbeholfen folgte. So gerne sie die Dans auch mochte, es schien ihr nicht richtig, dass er direkt vor ihr stand. Zur Anlieferung schliefen sie serienmäßig und wachten erst in ihren Schaufenstern wieder auf. Ein Aufenthalt in den Verkaufsräumen war gegen die Regeln. Es war eine einfache Schutzmaßnahme, auf deren Einhaltung Frieda in ihrem Geschäft Wert legte.

Während die Blicke des Dans den Laden erkundeten und er zum ersten Mal die Vitrine mit den teuren Gläsern, die mit Samt überzogenen Polstermöbel und den mondförmigen Glastisch im Kassenbereich sah, sagte Em: „Ich führe Dan mal ein wenig aus“ und bedeutete Frieda mit den Augen, ihr keine weiteren Fragen zu stellen.

 

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