Von Michael Voß

„Opa, wir müssen jetzt echt los!“

Opa deutet auf sein Frühstück.

„Ohne Mampf kein Kampf.“

„Du hast Alberich versprochen, pünktlich zu sein!“

„Immer mit der Ruhe, mein Kind. Dieser Zwerg soll sich mal nicht so wichtig nehmen.“

„Es geht aber auch um dich und deine Sippe, Opa! Dieses ewige Verstecken muss ein Ende haben“, sagte ich hartnäckig. „Und denk an Ostara! Ihre Leute leiden am meisten unter dem Klimawandel.“

„Naja, es wäre unfein, eine Dame warten zu lassen. Aber das Rührei kann ich einfach nicht liegen lassen.“

 

Natürlich haben wir den Zug verpasst, der uns stressfrei und pünktlich nach Straßburg gebracht hätte.

„Macht nichts“, sagte Opa: „Dann fliegen wir halt. Ist mir sowieso lieber.“

Normalerweise fliege ich gern mit Opa. Er ist ein ausgezeichneter Flieger, wenn auch kein so umsichtiger Navigator. Wie er halt ist, hatte den direkten Kurs genommen. Dummerweise führte der auch über militärisches Sperrgebiet. Opa hätte ja auch einen Bogen fliegen könnte. Aber sein Ziel vor Augen, überging er nonchalant solche Kleinigkeiten wie Regeln und Verordnungen. Normalerweise machte es mir auch nichts aus, seit ich wusste, wer und was Opa in Wahrheit war.

Doch den beiden Eurofightern konnte Opa nicht entkommen – diese Überschalljäger hatten Strahltriebwerke, Opa nicht. Zwar konnte er locker immer wieder ausweichen, aber das würde nicht ewig funktionieren. Also ist Opa dann im Sturzflug runter und in einem großen Teich eines Stadtparks gelandet. Wir waren raus aus dem Wasser, bevor die Jets klar gekriegt hatten, ob und wie sie ihre Suchschleifen fliegen sollten. Obendrein waren wir im Dämmerlicht des aufziehenden Morgens für die Piloten kaum zu sehen. Aber, so meinte Opa, die würden bestimmt bald Helikopter schicken. Mir war es egal. Ich war klatschnass, hatte Hunger und fror erbärmlich. Opa führte uns Richtung Innenstadt.

„Wo willst du hin?“, fragte ich bibbernd.

„Wir brauchen trockene Sachen. Die gibt es in der City.“

Echt, Opa: Keine Ahnung vom Shopping!

„Die Läden sind doch noch gar nicht auf!“

„Die Lieferanteneingänge schon.“

Ich musste es ihm lassen: er führte uns wirklich ungesehen in ein Kaufhaus, wo es warme, trocken Sachen en masse gab.

Jubel!

Blöderweise mussten wir uns schon im Erdgeschoß vor der Putzkolonne verstecken.

Jetzt standen wir im Schaufenster, Thema Nacht- und Unterwäsche. Opa, stilecht im Seidenpyjama, machte eine super Figur als Gentleman. Ich, in gerade noch jugendfreien Dessous, kam mir zwischen all den schlanken Modepuppen vor wie das Moppelchen vom Dienst. Voll fett. Noch nie fand ich meinen Po so dick und den Hüftgold-Ansatz so unattraktiv. Wenigstens mein Gesicht konnte mithalten: dank meiner zwanzig ungrad war ich genauso faltenfrei wie diese blöden Puppen. Leider konnte ich mich nicht lange darüber freuen, denn ich musste langsam mal aufs Klo. Und draußen stand ein Typ, der mich von oben bis unten anstarrte und dabei beide Hände in den Hosentaschen hatte. Hände, die sich bewegten. Also, der Typ war so überhaupt nicht mein Typ.

„Mami, Mami!“, hörte ich die durch das Glas gedämpfte Stimme eines kleinen Mädchens. „Die Schaufensterpuppe hat ein Tattoo am Knöchel! Außerdem hat sie gerade die Nase gerümpft!“

Jetzt tauchten zwei Frauen im Schaufenster auf, eine Schaufensterpuppe im Nachthemd zwischen sich tragend. Offenbar wollten die hier umdekorieren. 

„Hast du das Kind gehört? Eine Puppe mit Tattoo haben wir doch nicht!“, sagte die eine kopfschüttelnd.

„Einen grauhaarigen Mann auch nicht!“, wunderte sich die andere.

Dann stieß sie einen spitzen Schrei aus.

„Keine Angst, wir sind schon so gut wie weg“, sagte Opa freundlich.

Glas splitterte, Leute schrien, Deko purzelte durcheinander. Dann stand mein Opa in seiner natürlichen Form in der Fußgängerzone: ein gewaltiges, dunkel-geschupptes Ungeheuer mit gelben Augen, krallenbewehrten Klauen und mächtigen Schwingen. 

„Mami, Mami, der Pyjama-Mann hat sich in einen Drachen verwandelt!“, rief das kleine Mädchen begeistert.

Zum zweiten Mal an diesem Morgen kletterte ich auf den Rücken meines Opas und umklammerte seinen Hals.

Dann stieß er sich vom Boden ab und schraubte sich in die Höhe. Über den Wolken nahm er erneut Kurs auf Straßburg, wo wir mit Alberich, dem Zwergenkönig und der Elfenbotschafterin Ostara zu einem Termin beim Europäischen Gerichtshof verabredet waren.

Es war ja so was von überfällig, für die Rechte der Leute aus der Anderswelt zu werben.

 

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