Von Hans-Günter Falter

Über das begrenzte Bewusstsein von Verliebten und Schaufensterpuppen.

 

„Hat sie sich bewegt?“
„Wer hat sich bewegt?“
„Na, die Schaufensterpuppe.“
„Spinnst du, wie sollte die sich denn bewegen können?“
„Ja eben!“
„Ich kapiere nicht, was du willst, kannst du mal auf den Punkt kommen?“

„Du hast mir doch von dieser Frau erzählt, in die du dich so unsterblich verliebt hast. Wie heißt sie noch?“
„Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Was hat sie denn mit dieser blöden Schaufensterpuppe zu tun?“
„Komm Frido, wie heißt sie?
„Sophie.“
„Ja, richtig, Sophie. Wusste nur noch, es war so ein altmodischer Name, der ein Comeback feiert. So wie Gertrud, Hermine, Veronika, Agnes ….“
„Weil diese Namen ja auch gerade super in Mode sind. Bist heute etwas abgedreht, kann das sein?“
„Nö.“

„Also, was hat nun Sophie mit dieser Schaufensterpuppe zu tun?“
„Gar nichts und ganz viel.“
„Ist noch alles klar bei dir? Ist dir unser Männerabend nicht bekommen?“
„Doch, alles im grünen Bereich.“

***

Ich stehe den ganzen Tag neben der Rolltreppe vor dem großen Spiegel und blicke der Schaufensterpuppe auf der anderen Seite direkt in die Augen. Zuerst habe ich mich das nicht getraut. Sie so unverhohlen anzustarren hat etwas Anzügliches. Bei einem Menschen würde ich das nicht wagen, selbst wenn ich ihn kenne. Aber dann würde ich sowieso nicht einfach nur starren, sondern zu ihr hinübergehen, oder zu ihm? Ich bekomme Zweifel. Ist dieses Gegenüber ein „Er“ oder eine „Sie“?
Vielleicht eines dieser „Diversen Wesen“, wie sie seit einiger Zeit überall auftauchen. Bei Facebook kann man immerhin zwischen 60 Geschlechtsoptionen auswählen. Und diese Liste ist längst nicht erschöpfend, hab ich im Radio gehört.
Ob die beiden mir geläufigen und bekannten Geschlechter heute überhaupt noch nennenswert verbreitet sind?
Die Puppe hat jedenfalls sowohl männliche als auch weibliche Anteile. Ein bisschen David Bowie und ein bisschen Amanda Lear. Ja, doch, das gab´s auch früher schon, wird mir gerade klar.

Ich schaue die Puppe weiter an und sie starrt unumwunden zurück. Na ja, was soll sie auch sonst tun?
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie von den Augen einer Schaufensterpuppe immer angeschaut werden? Es scheint, als würde Ihnen der Blick folgen. Das haben sich bestimmt findige Schaufensterpuppenbauer ausgedacht. Ist allerdings nichts wirklich Neues, haben die wiederum von Malern der Renaissance abgeschaut, ich sage nur: Mona Lisa.

Sie wirkt sehr elegant, wie sie so lässig dasteht und sich nicht beirren lässt von den vielen Menschen, die ständig so dicht an ihr vorübergehen. Es lässt sie auch vollkommen kalt, wenn jemand an den Klamotten rumfummelt, die sie anhat. Sehen sowieso komisch aus, mit den heraushängenden Preisschildchen. So, wie ein neuer hipper Modetrend. Oder gibt es diesen Trend vielleicht tatsächlich? Schildchen auffällig an Kleidungsstücken drapieren, als Blickfang? Würde mich nicht wundern. Jedenfalls schaut sie einfach ganz unbeirrt über alles hinweg, erfüllt nur ihre Mission: Kleider präsentieren.
Erinnert Sie das auch an die Queen, die englische Elisabeth meine ich? Also mich schon. Mir kommt da eine Nachricht aus der Tagesschau in den Kopf. Die Queen hält eine Rede in einem großen und prächtigen Raum. Währenddessen fällt am hinteren Ende des Raumes eine Ecke vom Deckenstuck laut polternd herunter. Viele der Zuhörer drehen sich erschrocken um, der Queen aber ist das Ereignis keinen Blick wert, sie führt ihre Rede unbeeindruckt fort. Als ich das damals in den Nachrichten sah, fragte ich mich, wieviel von diesem Raum wohl hätte zusammenbrechen müssen, bevor sie reagiert hätte.
Bei dieser Puppe frage ich mich das auch, sie hat die gleiche Lässigkeit, steht über den Dingen, lässt sich nicht beeindrucken.
Auch die beiden Männer, die da schon eine Weile neben ihr stehen, ignoriert sie schonungslos, ohne dabei überheblich zu wirken. Einen der beiden kenne ich übrigens, es ist Frido. Er sieht mich offenbar nicht. Und ich kann mich auch nicht bemerkbar machen. Es stört mich nicht, dass er in ihrer Nähe ist, obwohl sie einen gewissen Charme versprüht.

Es dauert wieder einen Moment, bis ich erneut realisiere, dass es sich doch lediglich um eine Schaufensterpuppe handelt, auch wenn sie nicht im Schaufenster, sondern in der Damenoberbekleidungsabteilung des Frankfurter Kaufhofs die Mode präsentiert.
Wie lange das wohl noch so geht? Die große Zeit der Kaufhäuser ist ja wohl endgültig vorbei. Sie liegt lange hinter uns und hinter dieser Puppe. Die hat sicherlich schon so einiges erlebt in ihrem Dasein, nicht nur Modetrends. War nicht einer der ersten Brandanschläge der Baader-Meinhoff-Bande hier im Kaufhof auf der Zeil? Ob diese Puppe vielleicht dabei war, herumstand und nicht reagieren konnte, eine Zeit ertragen musste, die sich nun selbst überlebt hat?
Sie sieht jedenfalls auch nicht mehr so ganz taufrisch aus. Schwer einzuschätzen, wie alt sie sein könnte. Je länger ich sie anstarre, desto altmodischer erscheint sie mir. Ist diese Haartolle nicht schon lange aus der Mode? Oder gibt es da einen Retro-Come-Back-Zurück-In-Die-Zukunft-Mode-Aufguss? Ich gebe zu, auch davon habe ich nicht viel Ahnung. Interessiert mich einfach nicht. An den Brandanschlag kann ich mich aber noch gut erinnern, als ob ich dabei gewesen wäre. Komisch, nicht?

Ich muss an gestern denken, das war ein besonders anstrengender Tag. Ich sehnte mich nach dem Feierabend, wie selten zuvor. Nichts wie raus hier, das war mein einziger Gedanke. Endlich gingen die Lichter aus, ich holte tief Luft und streckte die Arme aus, schüttelte die Beine und kreiste ein paar Mal mit dem Kopf. Es knarzte sehr vertraut, wie jeden Abend. Tagsüber habe ich ja keinerlei Bewegung, es sei denn, ich bekomme neue Kleider angezogen.

Auf der Straße, vor der Kaufhaustür blieb ich stehen. Ich genoss die kühle abendliche Frühlingsluft, nahm ein paar tiefe Atemzüge und schloss dabei die Augen. Dann machte ich mich, noch etwas steif vom langen Stehen, auf den Weg. Stakste vorbei an den vielen Menschen, die nach einem langen Tag nach Hause strömten, auf Bus oder Straßenbahn warteten oder sich in eines der Cafés gesetzt hatten.
Vorbei an zwei nörgelnden Kindern, die, von ihrer Mutter im festen Griff an den Händen gehalten, hinter ihr hergezogen wurden. Eins links, eins rechts. Als sie mich sahen, hörten sie kurz auf zu lamentieren, starrten mich erstaunt an. Ich glaubte die beiden schon einmal gesehen zu haben, war mir aber nicht sicher. Es kann nur auf der Dibbemess gewesen sein, unserem Frankfurter Volksfest. An der Kasse zur Geisterbahn.

Ein bisschen freute ich mich auf Frido, diesen Verehrer, der doch absolut chancenlos bei mir ist. Was hat er bloß heute mit seinem Bekannten im Kaufhof zu tun?
Er kommt seit ein paar Tagen jeden Abend, steht dann neben dem Kassenhäuschen. Ich glaube, er ist ziemlich in mich verschossen. Er machte ein paar entsprechende Andeutungen und wollte mich zu allem Möglichen überreden und einladen. Aber ich habe ihn immer wieder sanft abblitzen lassen, ihn einfach ignoriert. Sprechen kann ich ja sowieso nicht. Es würde nicht gutgehen mit uns, soviel ist klar.
Das Kaufhaus, das ist meine Welt, und die Geisterbahn. Hier hab ich meine Freunde, wir sind alle aus der gleichen Produktlinie, gleichen uns wie eineiige Zwillinge. Wir alle sind tagsüber im Kaufhof und abends in der Geisterbahn.
Den Job an der Kasse lassen wir rotieren, er ist nicht sehr beliebt. Ich mag ihn auch nicht, lieber verkleide ich mich und stehe drinnen, erschrecke die Menschen, lass sie erschaudern. Der einzige Vorteil hier an der Kasse ist, dass ich mich nicht umziehen muss.
Nur noch ein paar Tage, dann kann ich wieder rein. Aber nun weg mit diesen Gedanken an gestern.

Jetzt freue ich mich auch auf den Feierabend, ist nicht mehr so lange bis dahin, und heute halte ich es auch besser aus.

Ich konzentriere mich wieder auf die Schaufensterpuppe gegenüber, der ich die ganze Zeit, wenn auch gedanklich etwas abwesend, in die Augen geschaut habe.
Obwohl sie eine Puppe ist, wird mir ihr Blick auf die Dauer doch etwas unangenehm. Aber ich kann mich ihm nicht entziehen.

Warum steht nur Frido mit dem Anderen bei ihr? Es sieht aus, als würden sie immer noch über sie reden. Aber gut, sollen sie mal, ich mach mir ja auch so meine Gedanken.

Na, aber hallo. Fast hätte eines dieser Gören die Puppe umgerannt, sie wackelt noch bedenklich. Das sind doch die beiden, die ich gestern gesehen hatte, an der Hand ihrer Mutter. Jetzt hätte sie die mal festhalten sollen. Mir wird ganz schwindelig. Ich wackele genauso wie die Puppe da drüben, exakt im gleichen Takt. Vollkommen synchron.
Die Mutter der Kinder fasst mir an die Hüften, damit ich wieder einen festen Stand bekomme. Auch Frido steht plötzlich neben mir, hält meine Hand und bewahrt mich vorm Umfallen.

Die beiden Kinder unterbrechen abrupt ihr Spiel, schauen mich erstaunt an und eines sagt: „Schau mal Mama, das ist doch schon wieder die Schaufensterpuppe, die aussieht wie die stumme Kartenverkäuferin aus der Geisterbahn“.

Was erzählen die da bloß? Meine Gedanken schwirren. Wieso stehen diese Menschen gleichzeitig neben mir und neben der Puppe? Ich erschrecke mich fast zu Tode: Ich selbst bin die Schaufensterpuppe und starre den ganzen Tag in einen großen Spiegel, sehe immer nur mich selbst. Ein neues Bewusstsein steigt in mir auf!

***

„Na Frido. Hast du eine neue Liebe gefunden? Du bist ja ganz bleich im Gesicht!“
„Eine unglaublich frappierende Ähnlichkeit.“
„Na sag ich doch.“
„Was meintest du nochmal, hat diese Schaufensterpuppe mit meiner Sophie zu tun?“
„Die bewegt sich doch offenbar auch nicht auf dich zu, ihr fehlt ein entscheidender Impuls. Aus irgendeinem Grund passiert nichts. Stillstand. Wie lange baggerst du nun schon an dieser Sophie herum? Sie lässt sich absolut nicht beeindrucken von deinen Annäherungsversuchen. Bleibt immer distanziert und cool. Sitzt in ihrem Glashäuschen, schweigt und verkauft Karten für die Geisterbahn. Das fällt mir halt ein, wenn ich die Schaufensterpuppe hier sehe.“
„Aber Sophie macht sich sicherlich zumindest ihre Gedanken. Das kann man von so einer Puppe doch wohl eher nicht behaupten. Oder doch?“

 

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